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Kapitel 6

10.25 Uhr. Dass die vordere Waggontür soeben von den Verbrechern verschlossen worden war, empfanden alle zehn Geiseln, die sich jetzt noch im Zug befanden, als eine weitere Bedrohung, auch wenn sich objektiv an ihrer Lage kaum etwas änderte. Der einzige Weg in die Freiheit, der jetzt noch blieb, führte an den Waffen ihrer Kidnapper vorbei. –

Marvin Mölter, Polizeibeamter beim LKA Magdeburg, hatte dieses Problem nicht; hier oben auf dem Stellwerk gab es zwar ebenfalls nur einen Weg nach draußen, doch der war vergleichsweise ungefährlich. Er haderte dafür mit einem anderen Ungemach. Er hatte schon immer darunter gelitten, rote Flecken in der Halsgegend zu bekommen, wenn ihm die Dinge zu entgleiten drohten. Bereits als Kind war das so. Sonst war seine Gesichtsfarbe eher blass. Menschen, die ihn kannten, konnten ihn deshalb gut einschätzen, zumal Marvins Hals auffallend lang war. Niemand freute sich über den Spitznamen Giraffe, schon gar nicht in einer Schule, dem Hort mitleidsloser Barbarei und Anarchie.

Dass er deutlich spürte, wie sein Hals jetzt wieder jene Maserung bekam, stand aber nicht im Zusammenhang mit der Zugentführung. Seine Frau hatte ihm vor fünf Sekunden eine Nachricht geschrieben. Sie war dabei, ihre Koffer zu packen. Wenn er heute Abend nach Hause kam, würde sie nicht mehr da sein. Ilka schaffte es sogar noch, ihm ein schlechtes Gewissen einzupflanzen, wenn sie selbst eindeutig die Ursache eines Konflikts war. Sie hatte sich gestern zu ihm an den Abendbrottisch gesetzt – was sie sonst nie tat, denn sie aß um diese Tageszeit nichts mehr, damit sie nicht fett würde – um ihm zu beichten, dass sie während ihrer sechswöchigen Kur dreimal mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Nein, das war das falsche Wort. Da sie es nicht im Bett getrieben hatten, bei Kerzenschein und Wein, sondern in einem Wäldchen unweit der Kurklinik auf dem Tisch eines Wanderrastplatzes, zwischen feuchtem Holz und oktobermüden Ameisen, hatte sie sich von ihm ficken lassen. Anders konnte man es nicht nennen. Von einem Fünfundzwanzigjährigen. Ilka war achtundvierzig, genau wie Marvin. Im umgekehrten Fall hätte sie ihn rausgeworfen, erklärte sie ihm, während er wie betäubt und ohne eine Erwiderung im Kopf zu haben zuhörte. Da er es nicht getan hatte, ging sie eben selbst. Welche Logik dahintersteckte, war ihm nicht klar. Bis jetzt hatte er geglaubt, mit ihr eine gute Ehe geführt zu haben.

Marvin war sich nicht sicher, ob sie wirklich von allein gekommen wäre, ihm davon zu erzählen. Denn er hatte sie ja quasi überführt. Als er nämlich am Nachmittag zuvor im Keller dabei gewesen war, die Buntwäsche zu sortieren, hatte er gleich zwei Kleider von ihr mit einem völlig verschmutzten Hinterteil gefunden. Solche Tische im Wald an den Rastplätzen für erschöpfte Wanderer waren im November eben selten sauber und trocken. Auf seine arglose Frage hatte sie zunächst einmal gar nichts erwidert und war dann an den Tisch gekommen, wo sie ihm, während er mit seinen Bratkartoffeln beschäftigt war, dann alles ins Gesicht erzählt hatte. Fast triumphierend. So, als hatte sie sagen wollen: Siehst du, ich werde auch noch von anderen Männern begehrt. Eines musste man Ilka lassen: Lügen waren nicht so ihre Sache.

Als ihn dieser Bärbaum unvermittelt ansprach, drückte er den Text ihrer Nachricht weg. Er müsse wissen, was sie jetzt tun sollen, brummelte der dicke Kerl. Und: »Wenn Ihnen das mal nicht auf die Füße fällt.« Für den Augenblick war Ilka wieder vergessen.

Bärbaum meinte die Entscheidung, die Marvin vor fünf Minuten getroffen hatte und die nun schwerwiegende Folgen haben konnte. Er hatte, als noch Zeit dafür gewesen wäre, beschlossen, den 89601 nicht evakuieren zu lassen. Eine solche Aktion war ihm einfach zu riskant. Er kannte die Gegend wie seine Westentasche, insofern hielt er sich auch für den idealen Mann für diesen Einsatz. Den Weg vom Gasthaus Drei Annen parallel zur Bahnlinie bis hinunter nach Steinerne Renne war er mit Ilka schon oft gewandert. Es gab reichlich Stellen an der Strecke, da konnte man einen Zug nicht so einfach verlassen. Der Bahndamm war an dem manchmal abschüssigen Hang oft steil aufgeschüttet und der parallel verlaufende Wanderweg lag bis zu zehn Meter höher. Für Leute, die nicht mehr gut zu Fuß waren, eine schier unüberwindliche Hürde. Und dann noch dieses Wetter.

Zunächst hatte ja alles gut ausgesehen. 8925 war in Hasserode aus noch unbekannten Gründen auf freier Strecke zum Stehen gekommen und die Männer vom SEK befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zu der Stelle. Vom Klinikum bis zum Bahnhof Hasserode waren es ungefähr drei Kilometer Wegstrecke. Das konnte man mit Sondersignal in wenigen Minuten schaffen. Vielleicht hatte es am Zug einen technischen Defekt gegeben oder die Entführer waren in einen Streit geraten. Möglicherweise hatten sie den Zug ja auch verlassen, um zu fliehen. Oder es war zu einer Kollision mit einem Pkw gekommen. Die unverantwortliche Fahrt per Funkfernsteuerung durch die belebte Innenstadt schloss dies nicht aus.

Nach Marvins Einschätzung hatte tatsächlich eine reelle Chance bestanden, dass es der 89601 rechtzeitig in den Bahnhof Steinerne Renne schaffen würde. Noch drei Minuten, vielleicht vier, hätten gereicht. Doch der gekaperte Zug hatte sich schneller wieder in Bewegung gesetzt, als Marvin gehofft hatte.

Und nun zeigte der Bildschirm auf dem Platz des Fahrdienstleiters, dass sich beide Züge gnadenlos aufeinander zubewegten. Die Kreuzungsstation lag ungefähr in der Mitte. In weniger als zwei Minuten würden beide Steinerne Renne erreichen. War der 89601 aus Nordhausen schneller, konnte er im Bahnhof den Gegenzug abwarten. Dann wäre die Katastrophe erst einmal abgewendet. Wenn der Zug mit den Gangstern jedoch die Station zuerst erreichte und nicht stoppte, kam es unweigerlich zur Kollision. 8925 reagierte nicht auf seine Notrufe.

Marvin hatte angeordnet, dass 89601 ununterbrochen Warnsignale abgab. Er wohnte am Stadtrand von Wernigerode und wusste, wie weit sie an dieser Stelle durch das Tal schallten. Sie waren bei günstigem Wind noch unten am Westerntorbahnhof zu hören. Dieser Bärbaum hatte ihm versichert, dass der Rangierer den heutigen Fahrplan kannte. Er musste wissen, dass 89601 noch fehlte.

»Was ist mit Ihrem Hals los?«, erkundigte sich der fette Mann. Marvin schüttelte die Frage ärgerlich ab und rollte mit seinem Drehstuhl einen Platz weiter. Er musste etwas tun und wollte wieder den Kontakt mit den Männern vom SEK aufnehmen.

Konzentriert lauschte er den Worten, die aus seinem Telefon drangen. Dabei war er aufgestanden und lief mit vorsichtigen Schritten, so als träte er auf morastigen Grund, wie ein Zootiger von Wand zu Wand des beengten Stellwerkraums. Er konnte nicht anders. Bei wichtigen Telefonaten musste er immer herumlaufen. Nur so kam er auf die besten Gedanken und traf die richtigen Entscheidungen. Dass die anderen Männer im Raum ihn verwundert mit den Augen verfolgten, störte ihn nicht.

Der Gruppenleiter, der das Team zum Bahnhof Steinerne Renne geführt hatte, hieß König. Robert König. Marvin, der seit knapp zwei Jahren dem LKA angehörte, kannte eigentlich jeden in ihrem Verein. Das SEK war Teil des Landeskriminalamts. Da begegnete man sich schon mal in der Kantine oder bei einer Besprechung. Doch König war neu beim SEK. Zurück aus Niedersachsen gekommen, hieß es. Der Mann war Anfang dreißig, der Stimme nach zu urteilen.

König berichtete ihm mit knappen Worten, dass sich seine Leute inzwischen dem Bahnhofsgelände näherten. Eine Minute noch, dann waren sie vor Ort. Er wollte wissen, auf welchem Gleis der gekaperte Zug einfahren würde.

Marvin gab die Frage an den schniefenden Mann vor den Bildschirmen weiter.

Der warf ein benutztes Taschentuch in den Papierkorb neben seinem Arbeitsplatz und drehte sich um. »Der Bahnhof ist mit automatischen Rückfallweichen ausgerüstet. Das heißt, dass alle Züge, die ihn durchfahren, immer das für sie rechte Gleis benutzen, egal aus welcher Richtung sie kommen. Unser Zug fährt also in das Gleis 1 am Berghang ein, der andere auf der Seite des Empfangsgebäudes.«

Marvin nickte und König hatte mitgehört. Dieser Fahrdienstleiter achtete darauf, sich klar auszudrücken. Missverständnisse konnten hier fatale Auswirkungen haben. Dass der Mann Fichte hieß, würde Marvin schmunzeln lassen, wäre die Situation nicht so kompliziert. Der Name passte perfekt in den Harz.

Steinerne Renne war für den geplanten Einsatz vergleichsweise günstig. Eine bessere Stelle würden sie jedenfalls nicht bekommen. Der Bahnhof lag in einer beträchtlichen Steigung und außerdem in einer S-Kurve. Beides kam ihnen entgegen. Denn der Zug musste hier langsam fahren. König und seine Männer wollten versuchen, möglichst ungesehen aufzuspringen, sich bis zum letzten Wagen vorzuarbeiten und eine passende Gelegenheit zu nutzen, um die Geiselnehmer zu überwältigen.

»Was ist mit seinem Mann am Bahnübergang?«, brummelte Bärbaum hinter ihm, obwohl dies eindeutig dessen Kompetenzen überschritt. Dennoch wiederholte Marvin die Frage. Er hätte sie sowieso gestellt.

Es war die Idee des Fahrdienstleiters gewesen, einen von den SEK-Leuten an diesem günstig gelegenen unbeschrankten Bahnübergang in der Nähe einer Batteriefabrik aufzustellen. Er sollte Kontakt mit dem Rangierer aufnehmen. An dieser Stelle war die letzte Gelegenheit dafür. Der Zug passierte dort einen kleinen Wanderparkplatz. Mit unbeteiligten Spaziergängern, die die Aktion gefährden könnten, würde heute kaum zu rechnen sein. Urbanek, der Rangierer, hätte freie Sicht auf die Stelle. Das war wichtig. Fichte war nämlich das alte Zs 5 eingefallen: »Ein Signalzeichen für den Lokführer, den Zug zu verzögern, um am danach folgenden und im Moment noch Halt zeigenden Signal nicht stoppen zu müssen«, erklärte er. »Eigentlich ein Blechschild. Es wurde früher vom Stellwerk einfach aus dem Fenster herausgehalten. Unter den Eisenbahnern heißt es schlicht L-Tafel. Ein großes L auf weißem Grund mit rotem Rand. Heutzutage wird dieses Signal kaum noch benutzt. Aber Urbanek wird es verstehen!«

Es ging möglicherweise um Sekunden. Wenn es dem Rangierer gelänge, die Geschwindigkeit des Zuges zu drosseln, könnte alles gutgehen. Vom Bahnübergang waren es noch etwa fünfhundert Meter, bis der Zug eine enge 180-Grad-Kurve durchfahren musste, ein kleines Wasserkraftwerk passierte und unmittelbar danach den Bahnhof erreichte. Die Strecke, die der talwärts fahrende 89601 noch vor sich hatte und die er nun mit maximaler Geschwindigkeit bewältigte, war mutmaßlich noch etwas länger, aber die Topografie verschaffte ihm einen kleinen Vorteil.

Königs Stimme aus dem Funkgerät war klar und deutlich zu verstehen. Er musste das nicht erst überprüfen. »Mein Mann steht bereit. Er sieht den Zug schon kommen. Noch dreihundert Meter.« König wollte noch etwas sagen, doch wenige Augenblicke später hörte Marvin einen Fluch von ihm. Irgendwas lief gerade schief.

Wagen 8

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