Читать книгу Wagen 8 - Mario Schulze - Страница 13

Оглавление

Kapitel 9

10.28 Uhr. Im Zug 8925 hatten die Fahrgäste, die den zweiten Teil dieses Wortes derzeit wohl eher als Hohn begriffen, ebenfalls längst bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Keinem von ihnen war das ständige aufgeregte Pfeifen der beiden Loks entgangen. Kirsten Seibt, Kellnerin in einem Schierker Gasthaus und eigentlich auf dem Weg zur Arbeit, wurde plötzlich bleich und sackte wenige Augenblicke später auf ihrem Sitz zusammen. –

Ulrich Medow hatte im selben Moment, als der Zug die letzte Kurve vor dem Bahnhof nahm, erkannt, dass der zweite Bahnsteig leer war. Der Gegenzug befand sich noch auf der Strecke. Der Rangierer hatte mit seiner Warnung recht gehabt. Da stand Ulrich nun, mit einer Knarre in der Hand und entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen, doch er musste einsehen, wie endlich seine Macht war. Ihr Zug erreichte den Bahnsteig, fuhr immer weiter. Wenn er nicht in der nächsten Sekunde eine Entscheidung traf, war es danach gleichgültig, wie diese ausfiel. Dann gab es nichts mehr zu entscheiden.

Der Rangierer sah zu ihm herüber, mit dem Handballen über dem dicken roten Notschalter, und im nächsten Augenblick quietschten die Bremsen. Er hatte ihm die Entscheidung einfach abgenommen.

Wieder flog alles, was nicht so stark war wie die Fliehkraft, nach vorne, doch ganz so schlimm wie beim ersten Mal war es nicht, denn der Zug war diesmal langsamer unterwegs. Ulrich, die Faust an der Haltestange, konnte den Stoß abfangen. Und abermals gab es, als ihr Waggon endlich stand, diesen Moment aufatmender Ruhe, die Gewissheit, der Katastrophe entkommen zu sein.

»Wie heißt du?«, fragte Ulrich leise.

»Urbanek.«

»Und mit Vornamen?«

»Ernst.«

»Ernst also.«

Ihre Blicke trafen sich erneut. Ernst nickte ein wenig.

»Weiterfahren, Ernst!« Ulrich hatte am oberen Bahnhofsende die schwarze Dampflok des Gegenzuges ausgemacht. Sie würde jeden Augenblick die Weiche zum Nachbargleis passieren. Nur zehn Sekunden, lächerliche zehn Sekunden hatten gefehlt.

Da wurde die Waggontür aufgerissen, Rick fuchtelte mit der Beretta in der Hand herum. »Ich glaube, die eine von den Frauen hier klappt uns gleich zusammen. Wir müssen sie rauslassen, Ulrich!« Als dieser nicht sofort reagierte, suchte sein Schwager nach weiteren Argumenten. »Die Gelegenheit ist doch gut. Die Bullen haben wir abgehängt!«

»Steck die Knarre weg, sonst passiert noch was!« Ulrich sah ihm über die Schulter, steckte den Kopf durch die Tür. In der Tat lag eine der Frauen auf der Sitzbank und atmete schwer.

Draußen ertönte ein langer Pfiff, am Fenster huschte der Gegenzug vorbei und kam mit der Dampflok unmittelbar neben ihrem Wagen zum Stehen.

»Was ist denn mit euch los, Ernst? Ihr seid doch viel zu früh!« Der Heizer hatte den Kopf aus dem Führerhaus gesteckt. Trotz des Wetters schien er ein Schwätzchen mit seinem Kollegen halten zu wollen. Ulrich hatte er noch nicht wahrgenommen und anscheinend ebenso wenig begriffen, dass Urbanek den Zug steuerte. Ulrich konnte jetzt nicht noch ein Problem gebrauchen, so zückte er seine Waffe und nötigte die Besatzung des Gegenzuges mit wenigen, aber energischen Worten dazu, ihre Fahrt unverzüglich fortzusetzen.

»Dem haben Sie jetzt aber einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wenn das mal gutgeht. Paul hat ein schwaches Herz«, kommentierte der Rangierer den Vorfall trocken und fast amüsiert.

Ulrich ging nicht darauf ein. Das eben war nichts als Theater gewesen. Niemand konnte ihm erzählen, dass die Besatzung des Gegenzuges nicht über die Entführung Bescheid wusste. Aber das spielte keine Rolle. Er musste die Sache mit den Geiseln zu einem Ende bringen. Gut, er war einverstanden. Die Frau sollte raus. Und noch ein paar von den anderen. Rick krauste die Stirn und sah ihn fragend an. Er verstand mal wieder nichts. Ja, Ulrich hatte seine Meinung geändert. Aber das war jetzt nicht wichtig. Er konnte es ihm später erklären.

Die Rentnerin, die den Eindruck machte, als wäre sie die nächste Kandidatin für einen Kreislaufkollaps, die kranke Frau und ihre Freundin, den Kerl in der Lederjacke, den anderen daneben und den Trottel mit dem karierten Koffer – sie alle winkte er mit einem Kopfnicken zur Tür. Die zickige Kleine, die ihn ansah, als wäre sie eine Hexe und könnte ihn in einen Hammel verwandeln, und die Frau mit dem Lockenkopf fuhren weiter mit ihnen. Das Wanderpärchen auch, die waren harmlos. Man wusste nie, wofür es gut war.

Alle konnte er nicht gehen lassen. Ohne Geiseln würde es leicht sein, ihn und Rick zu überwinden. Es war nicht abzusehen, was sich die Bullen noch ausdachten. Vielleicht ließen sie den Zug entgleisen und lauerten ihnen an einem der zahlreichen Waldwege auf.

Und er musste Frauen als Geiseln behalten. Ulrich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass Henning Gabler immer genau wusste, was sie gerade taten. Vielleicht war Gabler auf die Idee gekommen, einen von seinen Kumpanen als ganz normalen Fahrgast auftreten zu lassen. Nur hätte der Kerl dafür ganz gewiss keine Frau ausgewählt.

Als der Rangierer sah, dass alle Freigelassenen wieder festen Boden unter den Füßen hatten, schien er zum ersten Mal auf dieser Reise zufrieden zu sein, ließ die Lok pfeifen und drückte den Joystick nach vorne, um der Maschine langsam ihre Bewegungsenergie zurückzugeben.

Wagen 8

Подняться наверх