Читать книгу Wagen 8 - Mario Schulze - Страница 7
ОглавлениеKapitel 3
10.18 Uhr. Rangierlokführer Urbanek überlegte angestrengt, was er gegen die beiden Kriminellen, denen offensichtlich die Sicherungen durchgebrannt waren, tun konnte. Und er ärgerte sich. Hätte er die Funkfernsteuerung ordnungsgemäß seinem Kollegen übergeben und nicht einfach Simone, der Zugbegleiterin, in die Hand gedrückt, wäre dies vielleicht alles nicht passiert. –
Holger Matthies, Polizeibeamter im Revierkommissariat Wernigerode, ahnte in diesem Augenblick noch nichts von der Entführung des Zuges, doch selbst wenn er es täte, würde es ihn vermutlich auch nicht mehr erstaunen. Manchmal erwischte man in der Reihe der ungezählten ruhigen, oft sogar eintönigen Schichten so eine wie heute, da kam eben alles zusammen.
Wie meistens war er mit seiner Kollegin Lore Sikora auf Streife gefahren und es schien eine ganz normale Nacht zu werden. Er mochte Lore. Man konnte sich auf sie verlassen.
Lore war zehn Jahre älter als er, also fünfzig, und einen Dienstgrad höher. Ihr Lockenschopf umrahmte ein etwas grob geschnittenes, immer braungebranntes Gesicht. Sogar jetzt noch, im November, wo alle Leute blass waren wie ein Eimer Kalk. Wie sie das anstellte, war ihm ein Rätsel. Dass sie sich unter eine Sonnenbank legte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sie war keine Schönheit, keine Frau, auf die die Männer flogen. Eher der Typ zupackende Bäuerin. Seit sie sich kannten – seit fünfzehn Jahren –, war sie solo und stets auf der Suche.
Wenn man unzählige Stunden zusammen in einem Streifenwagen verbrachte, erzählte man sich so manches. Besonders in den Nachtschichten. Wernigerode war nicht Hamburg St. Pauli oder Berlin Kreuzberg. Neben den üblichen Einsätzen, von Verkehrsunfällen bis zu ruhestörendem Lärm aus einer Wohnung, hatten sie es vor allem mit Kleinkriminalität zu tun. Der Klientenkreis war überschaubar. So ein Fall wie vor einer Woche, als alle vier Räder von einem Mazda gestohlen worden waren, zählte dann schon zu den größeren Vorkommnissen. Die Täter hatten die Dreistigkeit besessen, das Fahrzeug immer an einer Ecke anzuheben und auf ein paar Betonpflastersteine aufzubocken. Es mussten drei gewesen sein, denn die Spurensicherung hatte von allen Fingerabdrücke gefunden, die eindeutig der Tat zuzuordnen waren. Dann konnten sie in aller Ruhe die Räder abschrauben. Gefasst hatten sie die Typen noch nicht. Doch das würde noch passieren, irgendwann. Holger war sich sicher.
In der Regel jedoch schoben sie einen ziemlich ruhigen Dienst. Da geschah auch schon einmal zwei Stunden gar nichts. Freitags vielleicht oder samstags, da war mehr los. Da wollten die Leute das Wochenende feiern. Doch heute war Dienstag. Wenn man nicht wieder einrücken sollte, fuhr man in gemächlichem Tempo mehr oder weniger ziellos durch die Straßen oder postierte sich am Bahnhof oder in der Nähe einer der wichtigen Kreuzungen der Stadt. Und dann kam man ins Plaudern, sprach neben dem üblichen Klatsch über Kollegen auch Dinge aus, die man bei Tage niemals preisgegeben hätte. Später, wenn man darüber nachdachte, bereute man es vielleicht. Die Nacht schaffte sich ihre eigenen Regeln.
Lore wollte stets viel über seine Familie wissen, obwohl es da im Grunde genommen kaum etwas zu berichten gab. Seit er verraten hatte, dass Luna, seine Frau, schwanger war, ließ sie nicht mehr locker. Luna war erst im dritten Monat. Er glaubte, dass sie ein Problem damit hatte, sechzehn Jahre nach der Geburt von Daniel noch ein zweites Kind zu bekommen. Über weiteren Nachwuchs hatten sie nie geredet. Für Holger war ihre gemeinsame Familienplanung eigentlich abgeschlossen gewesen. Als sie ihn dann an einem Sonntagabend nach der Schicht mit der Nachricht überraschte, freute er sich, wie er sich lange nicht gefreut hatte. Sie aber beobachtete ihn und verlor später über eine mögliche Abtreibung nie auch nur ein einziges Wort. Nun also doch noch eins, wieder alles von vorn. Windeln, Fläschchen, Babysitter. Er durchschaute sie. Sie wollte das eigentlich nicht mehr. Doch zugeben würde sie es niemals. Stattdessen ging sie neuerdings gerne ihre eigenen Wege. Entweder saß sie stundenlang, den Harz durchstreifend, auf ihrem Mountainbike und kam mit Morast bekleckert zurück oder sie schrieb langweilige Kochbücher über ernährungsphysiologisch wertvolle Speisen. Zwei hatte sie bereits fertig. Die schickte sie dann an Verlage und Frauenzeitschriften in der Hoffnung, dass jemand auf sie aufmerksam würde. Zusammen unternahmen sie nicht mehr viel. Früher war das anders gewesen. Holger hoffte, dass sich das wieder änderte, wenn das Kind erst da war.
Lore selbst erzählte von ihren Männerbekanntschaften. Holger fragte nicht danach. Sie tat es von allein. Er hätte gern auf ihre Geschichten verzichtet, wollte sie jedoch nicht vor den Kopf stoßen. Besser so, als wenn sie sich stundenlang anschwiegen. Gelegentlich gabelte sie jemanden auf, der dann für eine Nacht blieb, niemals länger. Sie sprach erst nach ein paar Tagen darüber, vielleicht auch erst nach Wochen. Mit genügend Abstand wusste sie, dass es wieder nicht der Richtige gewesen war. Meist redete sie dann verächtlich von ihm. Dass er dabei grunzte, störte sie, oder sein langes, dichtes Nasenhaar. Wie sie die Kerle kennenlernte, wusste Holger nicht. Er vermutete, dass sie auf irgendeinem Dating-Portal unterwegs war. Wenn das stimmte, hätte er gerne gewusst, wie sie sich dort beschrieb.
Er hatte sich auch schon vorgestellt, wie es wäre, wenn er mit ihr schliefe. Dabei mochte er weder Locken noch stand er auf ältere Frauen. Einmal hatte er von ihr geträumt. Sie hatte es ihm angeboten. »Wilden, animalischen Sex. Hier direkt auf dem Schreibtisch. Die Akten schieben wir beiseite. Aber das geht nicht. Ich bin dir zu alt.«
Er wollte verneinen, gleichzeitig bekunden, dass er kein Interesse hatte, nicht auf sie bezogen, sondern an dieser Idee im Allgemeinen, verhaspelte sich, stotterte sich in einen roten Kopf. Sie lachte, dass ihr die Tränen kamen, und ging zum Schredder, um alle seine Akten zu schnitzeln.
Nach dem Aufwachen hatte er wie vor den Kopf geschlagen im Bett gesessen und sich gefragt, was das wohl über ihn verriete, wenn er so etwas träumte. Aber das war schon ein paar Jahre her und nie wieder vorgekommen. Heute konnte er nur noch verwundert darüber grinsen.
Gleich ihr erster Einsatz hatte sie gestern Abend an den Stadtrand zu einer Gruppe kiffender Jugendlicher geführt, die sich mit ihren Mopeds oder Fahrrädern immer an einem Rastplatz für Wanderer trafen. Unter einer Straßenlaterne stand dort ein hölzernes Wetterdach mit ein paar Sitzbänken. Lore, die am Steuer saß, fuhr im Schritttempo heran und hielt in einem Abstand von etwa fünfzehn Metern an. Sie stiegen aus, und obwohl alle Jugendlichen ein Kapuzenshirt trugen, erkannte Holger sofort, dass sein Sohn unter ihnen war. Er hatte schon vorher gewusst, dass Daniel heimlich kiffte. Es ihm auszutreiben, war ihm bisher nicht gelungen. Daniel hatte stets alles abgestritten und wollte nicht mehr über das Thema reden. Irgendwie war ihm der Draht zu seinem Jungen gerissen.
Lore, die sich Ausweise zeigen ließ und Daniel kannte, gab ihm dann die Chance, zusammen mit zwei seiner Kumpane zu fliehen, bevor er an der Reihe war. Holger nahm die Verfolgung auf. Er hatte sie weder darum gebeten noch dergleichen erwartet, und trotzdem war er froh, dass Daniel auf seinem Rad nach ein paar Häuserecken seinen Blicken entschwunden war. Dass die drei anderen, die sie erwischt hatten, die Klappe halten würden, war sozusagen Ehrensache, von ihnen drohte keine Gefahr für Daniel. Holger glaubte auch nicht, dass Daniels Freunde wussten, was sein Vater von Beruf war. Damit prahlte man nicht in seinen Kreisen.
Holger kannte Lore fast ebenso gut wie seine eigene Frau. Sie verstanden sich blind. Dennoch wusste er nicht, wie er mit der Sache umgehen sollte. So ein Fall, der ins Private abdriftete, ging ihm an die Nieren. Damit hatte er keinerlei Erfahrung. Nachher im Wagen verlor er über den Vorfall nicht ein einziges Wort, und auch sie schien zu spüren, dass sich ein Gespräch darüber zu einem Fiasko entwickeln könnte.
Noch auf der Rückfahrt machten sie einen fünfzigjährigen Mann dingfest, der sich – betrunken, wie er war – vorgenommen hatte, in der Innenstadt sämtliche Straßenlaternen zu zertrümmern. Zu diesem Zweck trug er eine Stofftasche mit Schottersteinen bei sich, die, wie er nachher freimütig zugab, aus dem Gleisbett der Schmalspurbahn an der Westerntorkreuzung stammten. Dabei war er allerdings so alkoholisiert, dass es meistens bei einem kläglichen Versuch blieb; nur zweimal waren die Scheiben zu Bruch gegangen. Kaum saß er auf der Rückbank ihres Einsatzwagens, kotzte er Holger ohne jede Vorwarnung in den Nacken, um dann augenblicklich einzuschlafen. Holger kochte vor Wut. Er musste duschen gehen und sich aus seinem Spint ein neues Hemd besorgen, während sich Lore um den Mann kümmerte. Sie konnte zupacken und schaffte es auch allein, ihn auf die Wache zu verbringen. Während sie die Anzeige wegen Sachbeschädigung schrieb, wollte Holger sich noch um einen neuen Einsatzwagen kümmern. Hätte er sich dafür etwas mehr Zeit gelassen, wären sie vielleicht um den letzten Einsatz ihrer Schicht herumgekommen.
Leblose männliche Person im Stadtteil Nöschenrode. Hier, wo sich der Zillierbach von Drei Annen Hohne kommend in das Mühlental schlängelte und sich eine Weile seinen Weg gemeinsam mit der Bundesstraße 244 hinunter in die Stadt suchte, hatte um diese Zeit schon ein Jogger, mit Stirnlicht und Schrittzähler ausgerüstet, seine Trainingseinheit absolviert und dabei den Mann entdeckt. Als sie ankamen und ihren Wagen vorläufig am Straßenrand parkten, war es bereits ein paar Minuten nach sieben Uhr. Ihre Schicht hätte längst zu Ende sein müssen. Der Morgen dämmerte, doch so richtig hell wurde es nicht. Das Wetter hatte sich plötzlich verschlechtert. Es regnete und stürmte.
Der Sportler, der den Toten gefunden hatte, stand auf einer klapprigen, offenbar kaum noch genutzten Brücke über dem Wasser und behalf sich mit einigen gymnastischen Übungen, um die unfreiwillige Pause zu kompensieren und nicht auszukühlen. Ein junger, hoch aufgeschossener Mann in schwarzer Hose und neongelbem Oberteil. Am Oberarm eine durchsichtige Handytasche. Sein Stirnlicht hüpfte hin und her, als wäre es noch stockfinster. Dass er einen kaltblütigen Mord entdeckt hatte, schien ihn nicht weiter zu berühren. »Moin«, begrüßte er die Beamten und wies auf den Bachlauf direkt unter der Brücke.
Dem Toten fehlte das halbe Gesicht. Er lag im Wasser, das jedoch bisher nicht die Kraft aufgebracht hatte, ihn fortzutragen. Vollständig bekleidet, der Kopf in Fließrichtung, Rückenlage, ein Bein leicht angewinkelt. Eine Schussverletzung, wahrscheinlich aus nächster Nähe, befand Lore, die den gespenstischen Anblick, der sich ihnen bot, nicht lange ertragen konnte. Der Mann musste schon eine ganze Weile tot sein, denn es fanden sich keinerlei frische Blutspuren mehr. Die Wunde war vollkommen getrocknet.
Sie taten das, was getan werden musste. Tatort absichern, Personalien aufnehmen, den Kriminaldauerdienst informieren, ebenso die Staatsanwaltschaft. Die Kollegen der Mordkommission mussten aus Magdeburg anrücken, das würde eine ganze Zeit dauern. Einen pünktlichen Dienstschluss konnten sie somit vergessen. Sie verjagten den Jogger von der Brücke und verfrachteten ihn auf den Rücksitz ihres Dienstwagens, wo er warten sollte, bis die Kollegen eingetroffen waren. Die würden sicher noch Fragen an ihn haben. Ob er ihnen bei der Aufklärung des Falls weiterhelfen konnte, bezweifelte Holger.
»Aber nicht jetzt auch noch kotzen«, sagte Holger, unterdrückte ein Gähnen und schlug mit Schwung die Autotür zu. Der Regen kam nun unangenehm von der Seite. Der Jogger verstand nicht und zeigte ihm durch die Scheibe einen Vogel. Er war wohl wütend, dass er jetzt nicht pünktlich nach Hause kommen würde. Dabei hatte er eine Adresse angegeben, die nur ein paar Hundert Meter entfernt von ihrem Standort lag. Vielleicht musste er zum Dienst oder hatte andere Pläne, die sie gerade durchkreuzten. Holger ließ die Beleidigung ungeahndet, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. So konnte er dem hässlichen Wetter wenigstens ein paar Augenblicke entgehen.
»Laufen Sie hier jeden Morgen?«
»Wird das hier jetzt ein Verhör?«
»Wenn, dann wäre es eine Vernehmung. Aber dafür sind meine Kollegen zuständig. Nennen wir es einfach ein Gespräch.«
Der junge Mann nickte knapp. »Immer vor der Arbeit. Außer am Wochenende, da schlafe ich aus.«
»Kann es sein, dass der Tote hier schon gestern im Wasser lag und Sie ihn übersehen haben?«
Holgers Zeuge verzog den Mund zu einem schwachen Grinsen. »Unmöglich. Den kann doch jeder sehen. Und ich bin nicht der Einzige, der hier joggt. Das ist eine beliebte Laufstrecke. Glauben Sie mir, der lag hier gestern noch nicht.«
Wer machte sich die Mühe, sein Mordopfer, das wahrscheinlich schon seit längerer Zeit tot war, hier draußen abzulegen, wo es dann innerhalb von Stunden gefunden wurde?
Lore kam auf den Wagen zu, das blau-weiße Absperrband in der Hand, um es in den Kofferraum zurückzulegen.
Holger stieg wieder aus. »Alles in Ordnung?« Er war sich nicht sicher, ob es ihr gutging.
Sie reagierte auf ihn mit einer Gegenfrage. »Hast du die Jacke erkannt?« Lore schien offenbar etwas bemerkt zu haben, das ihm entgangen war. Erneut betraten sie die Brücke. Sie kniete sich hin und leuchtete mit ihrer Taschenlampe zwei Meter nach unten. Das stärker werdende Tageslicht half ebenfalls. Holger konnte alle Einzelheiten gut erkennen. Eine schwarze hüftlange Jacke aus Baumwollstoff oder grobem Leinen, die der Tote offen trug, innen und am Kragen mit Pelzimitat gefüttert, Knöpfe aus Metall, wie man sie an Jeanshosen findet. Am Ärmel eine silberne Plakette aufgenäht.
»Erkennst du sie?«
»Prior«, erwiderte er. Und Lore nickte. Sie hatten die Leiche eines ehemaligen Kollegen gefunden.