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Kapitel 5

10.23 Uhr. Der ein oder andere Bewohner Wernigerodes blieb auf seinem Gang zum Bäcker oder zum Arzt neugierig stehen, rätselnd, was denn passiert sein könnte. Denn man erlebte hier nicht alle Tage, dass zwei schwarze Vans mit getönten Scheiben und Martinshorn durch die Straßen der beschaulichen Kleinstadt am Fuße des Harzes jagten, Katzen verschreckten und alte Leute, um in Richtung Drei Annen Hohne davonzueilen. –

Ulrich Medow wusste davon in diesem Augenblick noch nichts. Er hätte jetzt viel für eine Kopfschmerztablette gegeben. Doch von allen Wünschen, die er heute bisher gehabt hatte, schien ihm dieser der unwichtigste zu sein. Der Zug war zum Stehen gekommen.

Ulrich hatte sich ein paar Minuten zuvor auf der engen, rutschigen Plattform niedergelassen, um sein linkes Bein etwas zu schonen. Seit einem Sportunfall vor zwei Monaten puckerte der Meniskus. Manchmal mehr, manchmal weniger. Heute war es nur schwer zu ertragen. So ließ er es gestreckt, so gut es ging, was angesichts der Knappheit des Platzes schon eine Herausforderung war. Doch es tat gut. Ansonsten hockte er da, zusammengekauert wie ein Eichhorn, das rechte Knie zur Brust herangezogen.

Der Rangierer schaute gelegentlich zu ihm herunter, dachte sich seinen Teil. Wahrscheinlich hoffte er, dass Ulrich schlappmachte. Da konnte er lange warten. Die Waffe steckte vorne in seinem Gürtel, seine rechte Hand lag locker auf ihrem Schaft, so wie man das in alten Westernfilmen manchmal sah. Er hatte die Augen halb geschlossen, was jedoch keineswegs bedeutete, dass er den Rangierer aus dem Blick verlieren würde. Im Gegenteil. Der Mann stand unter seiner Beobachtung, jede einzelne Sekunde. Er lehnte gerade am rechten Sicherheitsbügel, hatte den Oberkörper leicht nach außen gebeugt und beobachtete auf diese Weise die Strecke. Viel sah er von seinem Platz aus nicht, das wusste Ulrich. Der ganze Körper des Mannes verriet es. Fuhr der Zug eine Linkskurve, wechselte auch er sofort die Seite, indem er über Ulrichs Bein stieg. Der Mann provozierte ihn nicht, blieb nicht scheinbar unabsichtlich mit dem Fuß daran hängen oder trat einfach darauf. Sie wussten natürlich beide, dass Ulrich auf den Rangierer angewiesen war. Ohne ihn wäre alles verloren. Doch der Mann wusste auch, dass er nur ein Leben hatte und es jederzeit vorbei sein konnte.

Überdies durfte er sich nicht ablenken lassen, zu gefährlich war die Fahrt durch die Straßen der Stadt, fast ohne Sicht. Ulrich hatte sich davon überzeugt. Nur ein schmaler Winkel blieb hier hinten, um Hindernisse vor der Lok rechtzeitig zu erkennen. In kurzen Abständen ertönte nach wie vor ihr Pfeifsignal. Wenigstens regnete es nicht mehr. Mit einer Art Joystick auf seinem Bedienpult steuerte der Mann das Tempo des Zuges.

»Wo sind wir jetzt?«, wollte Ulrich wissen. Von seiner Position aus, auf dem Boden der Plattform sitzend, bot sich nur ein begrenzter Blick auf die Umgebung.

»Wir kreuzen gleich die Friedrichstraße. Dann noch dreihundert Meter bis zum Bahnhof Hasserode.«

Ulrich nickte. Er kannte die Stelle. Ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit machte sich in ihm breit, ganz kurz nur. Bis hierher war die Fahrt eigentlich relativ gut verlaufen. Den Umständen entsprechend, würde wohl ein Notarzt sagen. Etwa alle zwei Minuten kam ein Funkspruch für Ulrich an, und jedes Mal spielten sie dann dasselbe Spiel: Der Rangierer schaute ihn an mit der stummen Frage, ob er annehmen solle, und Ulrich schüttelte immer wieder ebenso stumm den Kopf. Es gab nichts zu bereden, erst recht nichts zu verhandeln.

»Ich möchte Sie was fragen«, sagte der Rangierer unvermittelt. Sein Blick kam nicht bei Ulrich an, der Mann beobachtete weiterhin konzentriert, fast verbissen, die Strecke.

»Was gibt es?«

»Was tun wir, wenn in Steinerne Renne kein Zug steht? Dann ist 89601 nämlich noch auf der Strecke.«

»Wovon reden Sie?«

»Das war vorhin nicht nur so dahergesagt. Ein Sonderzug aus Nordhausen kommt uns entgegen. Der steht nicht im Fahrplan. Sie wissen, die Strecke ist eingleisig.«

Ulrich dachte einen Augenblick nach. »Welche Station liegt davor?«

»Drängetal. Ein Betriebsbahnhof. Etwa in der Mitte zwischen Drei Annen Hohne und Steinerne Renne.«

»Dann wird dieser Sonderzug bereits dort gehalten haben«, entgegnete Ulrich aufgeräumt. »Dein Chef auf dem Stellwerk weiß das doch auch. Er wird ja nicht unnötig Menschenleben riskieren. So dumm ist er nicht. Oder?«

Statt einer Antwort war die Notbremsung gekommen. Die Wucht des plötzlichen Geschwindigkeitsverlusts hatte Ulrich gegen den Wagenkasten geschleudert. Er war gerade dabei gewesen, wieder aufzustehen, da kreischten die Räder des Zuges, übertönten das Motorengeräusch der Lok, von den Bremsklötzen sprühten Funkenregen zur Seite.

Die Notbremsung ließ die Menschen und Gegenstände unsanft dem Gesetz der Trägheit folgen, und Ulrich, der das Gleichgewicht verlor, kippte vornüber, um mit dem linken Arm voran gegen die Stirnwand des Waggons zu knallen. Doch zum Glück war er schon immer schnell in seinen Reaktionen, die rechte Hand fühlte noch den Griff der Pistole, er hatte sie nicht losgelassen, und der Schmerz an der Schulter war halb so schlimm, sein Kopf hatte kaum etwas abbekommen.

Der Zug stand.

Ulrich sprang auf und schrie: »Was machst du?«

Der Rangierer, der als Einziger gewusst hatte, was kommen würde, als er mit der Faust den feuerroten Nottaster auf seinem Steuerungspaneel schlug, hatte die Haltestange in seine Armbeuge gepresst und stand so unversehrt an seinem Platz. »Glauben Sie vielleicht, ich überfahre ein Kind?«

Direkt neben dem Zug, keine drei Meter vom Gleisbett entfernt, rollte ein roter Ball.

Ulrich schaltete abermals sofort und stürzte auf die andere Seite der Plattform. Tatsächlich, da stand ein kleiner wuschelköpfiger Junge in einem Anorak mitten auf der Straße, nicht älter als sechs oder sieben. Regungslos verharrte er mitten auf der Fahrbahn. Der Schreck hatte seine Augen geweitet. Als er Ulrich sah, rannte er zurück auf den Bürgersteig.

Keine Toten. Das würde alles verändern. Ulrich musste dem Rangierer eigentlich dankbar sein, dass er so schnell reagiert hatte. Welche Idioten ließen ihre Kinder bei diesem Wetter draußen spielen?

Die Waggontür öffnete sich einen Spalt und Ricks Kopf erschien. »Was ist passiert?«

Ulrich rieb sich vorsichtig die Schulter. »Nichts. Da war nur ein Kind an den Gleisen. – Ist drinnen alles in Ordnung?«

»Ja. Ein paar Schrammen und einer blutet an der Hand. Halb so wild.«

Da bemerkte Ulrich, wie das junge Pärchen auf der anderen Seite des Waggons die Plattform hinunterkletterte und davonlief.

»Scheiße! Geh wieder rein und pass auf die Leute auf!«

Rick gehorchte sofort. Ulrich ließ die Tür jetzt lieber offen, denn er wollte verfolgen können, was sich drinnen tat. Die anderen Fahrgäste waren noch dabei, die Auswirkungen der Notbremsung auszumerzen, alles schien durcheinandergeraten. Ein karierter Koffer war von der Gepäckablage über den Köpfen der Fahrgäste auf den Boden gestürzt. Er hatte ein paar Schrammen davongetragen, seinen Inhalt jedoch nicht preisgegeben. Sein Besitzer, der ältere Mann im grauen Trenchcoat, kümmerte sich schon darum.

Rick kam zurück und raunte seinem Schwager zu: »Das Pärchen ist abgehauen und die beiden Frauen da wollten es auch versuchen. Hab es gerade noch bemerkt. Sollten wir sie hier nicht freilassen? Wir brauchen sie doch nicht mehr.«

Ulrich dachte nach. Sie standen unmittelbar vor dem Bahnhof Hasserode, er konnte den leeren Bahnsteig erkennen. Dies war eher eine Station für einheimische Ausflügler und die waren bei diesem Wetter nicht unterwegs. Gleich würde der Zug das Stadtgebiet von Wernigerode verlassen und die Hänge des Harzes hinaufklettern. Dort waren sie sicherer.

Er wollte schon zustimmen, doch da überlegte er es sich noch einmal anders. Denn er hörte, leise zwar, aber schnell näher kommend, die Sirenen von Einsatzfahrzeugen.

»Die Bullen! Die stürmen den Wagen, wenn wir allein sind, oder sie knallen uns gleich ab. Weiterfahren!« Ulrich hielt dem Rangierer die Waffe an den Kopf. Hier, direkt neben der Straße, war es für ein Spezialeinsatzkommando der Polizei eine Kleinigkeit, sie zu überwältigen. Dann wäre alles verloren.

Ulrich sah seinem Schwager an, dass er mit dieser Entscheidung haderte. Er würde ewig ein Zauderer bleiben. Doch auch diesmal fügte er sich, obgleich beide wussten, dass ihnen die Sache ganz schön aus dem Ruder gelaufen war.

Der Rangierer hatte jedenfalls verstanden und hantierte bereits ohne jede Hektik an seinem Pult. »Dauert einen Moment«, kommentierte er krächzend seine Handgriffe, »durch die Gefahrenbremsung ist die Hauptluftleitung vollständig entleert. Sie muss sich erst wieder füllen. Sonst lösen sich die Bremsen nicht.«

Ulrich trieb ihn an. Die Sirenen waren bedrohlich laut geworden. Er rechnete jeden Moment damit, dass die Polizeiwagen in ihre Straße einbogen. Nun war es mit seiner Ruhe, die bis jetzt so souverän gehalten hatte, ebenfalls vorbei.

Als der erste von ihnen um die Ecke jagte, zog die Lok an. Viel zu langsam, dachte Ulrich, und tatsächlich erreichten die beiden Autos noch die Höhe des letzten Waggons. Polizisten in schwarzen Kampfuniformen sprangen aus den Autos und rannten mit kraftvollen Schritten dem Zug hinterher. Noch waren sie schneller, holten auf. Einen musste Ulrich mit einem derben Schlag auf die Hände abwehren. Aber der Zug nahm Fahrt auf, schüttelte die Verfolger ab. Ulrich ballte die Faust. Das Gleis entfernte sich nun von der Straße, verlief durch den menschenleeren Bahnhof, an einer Wiese vorbei und erreichte bald darauf den Waldrand.

»Die sind Sie noch nicht los«, kommentierte der Rangierer trocken und deutete mit dem Finger nach links. Tatsächlich, die Einsatzwagen hatten den Bahnhof umrundet und waren ihnen wieder auf den Fersen. Ab und zu konnte Ulrich sie zwischen den Bäumen noch sehen. Sie folgten unbeirrt der Straße.

»Wo führt die hin?«

Der Rangierer konzentrierte sich wieder auf die Streckenbeobachtung. Vielleicht hatte er ihn auch einfach nicht gehört.

»Die Straße? Wo geht die hin?«

»Die endet direkt am Bahnhof Steinerne Renne«, antwortete der Mann nun doch, »und da die schneller sind als wir, werden sie uns dort wohl erwarten.«

»Verdammt.« Nun schien alles gegen sie zu laufen. Steinerne Renne noch, dann wären sie die Verfolger los. Ulrich schlug mit dem Griff der Waffe gegen die Wand. »Wir fahren durch, hörst du? Es wird keinesfalls mehr angehalten! Egal, was passiert. Hole alles aus der Maschine raus!« Es würde schon gutgehen. Es musste einfach gutgehen!

Der Rangierer deutete ein Nicken an. Ulrich beobachtete ihn. Dabei suchte er nach einer besseren Lösung für das Problem mit den Fahrgästen. Im Inneren des Waggons wurde es schon wieder unruhig. Es würde schwierig werden, sie ständig zu bewachen. Vielleicht kam einer von denen noch auf die Idee, während der Fahrt abzuspringen. Ulrich wollte nicht, dass es Verletzte gab. »Hast du einen Schlüssel für die Waggons?«

Der Eisenbahner zögerte eine Sekunde zu lange und Ulrich bemerkte es. »Versuche nicht, mich zu belügen! Wenn du die Züge rangierst, dann musst du einen haben!« Er behielt recht. Ein paar Sekunden später hatte Rick die vordere Tür des letzten Wagens verschlossen. Nun konnte niemand mehr auf die Idee kommen zu türmen.

Im nächsten Moment ertönte von irgendwo aus dem Wald ein deutlich wahrnehmbares Pfeifsignal. Einmal, zweimal.

»Jetzt wird’s lustig. Das war der 89601«, erklärte der Mann. Er sagte es nicht sehr laut, eher für sich selbst. Es fehlte wiederum der Triumph in seiner Stimme, doch Ulrich hatte auch so verstanden, was das bedeutete. Der Gegenzug hatte nicht in Drängetal gestoppt. Er war noch auf der Strecke.

Wagen 8

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