Читать книгу Wagen 8 - Mario Schulze - Страница 12
ОглавлениеKapitel 8
10.27 Uhr. Im selben Moment saß der Innenminister des Landes bei einem Arbeitsfrühstück mit seinen Amtskollegen aus den anderen Bundesländern in Cochem an der Mosel zusammen, um die Möglichkeiten einer stärkeren Zusammenarbeit im Bereich der Absicherung von Demonstrationen auszuloten. Als man ihm mitteilte, dass in diesen Minuten ein von Hijackern gekaperter Zug durch die Wälder des Harzes dröhnte, war sein erster Gedanke der an einen terroristischen Akt. Möglicherweise benutzten die Täter diesmal keine Flugzeuge als Waffe, sondern die Eisenbahn. Besorgt fragte er nach, ob bei der Aktion der Ruf »Allahu akbar« gefallen sei. Niemand wusste etwas davon, doch das musste noch nichts heißen. –
Robert Königs Job war es nicht, über den Innenminister nachzudenken. Das sollten andere tun. Robert war nur für seine Männer verantwortlich. Er drehte sich in diesem Moment um und bekam gerade noch mit, dass der Zug, der vielleicht zweihundert Meter Luftlinie von seinem Standort entfernt vorüberzog, tatsächlich die Geschwindigkeit verringerte. Wittichs Botschaft auf dem Waldboden musste der Rangierer also verstanden haben. Eine Minute bliebe ihnen noch, vielleicht zwei, bis der Zug den Bahnhof Steinerne Renne passieren würde.
Doch sie hatten verloren.
Ihre Einsatzfahrzeuge steckten beide fest. Außer Gefecht gesetzt von einem Sattelschlepper, der gerade die Batteriefabrik verlassen hatte und nun die schmale Straße hinauf zur Bahnstation blockierte. Vierhundert Meter vor ihrem Ziel. Robert war ausgestiegen und lehnte sich resigniert an das Dach des schwarzen Vans, der von den beiden der hintere war. Es hatte keinen Sinn, den Truck zurückzuwinken; bis die Straße wieder frei war, hatte der Zug Steinerne Renne längst verlassen.
Der Wind pfiff hier oben schon bedrohlich. Er musste plötzlich an seine Tochter denken. Er konnte schon verstehen, dass man für die Truppe am liebsten Männer auswählte, die ungebunden waren. Am besten sogar ohne feste Freundin.
Seine Emily war jetzt gerade einmal vier Wochen alt. Es war eine komplizierte Geburt gewesen. Beckenendlage, hatte der Arzt erklärt und sich dennoch gegen einen Kaiserschnitt entschieden. Die Schreie von Bella, seiner Frau, setzten ihm damals weit mehr zu als dieser Einsatz hier. Alles, was sie heute taten, hatten sie immer wieder trainiert. Es gab keine wirklich neuen Situationen.
Die Ironie bei der ganzen Angelegenheit war, dass der Zug in wenigen Augenblicken direkt an Robert und seinen Männern vorbeifahren würde. Die Strecke verlief in einer relativ starken Steigung etwa fünfzehn Meter oberhalb der Straße. Doch von hier unten war sie weder einsehbar noch erreichbar. Den Hang bedeckte undurchdringliches Dickicht. Man benötigte schon eine Machete, wollte man es bezwingen.
»Schmieder ist auf dem Weg zum Zug!«
Einer seiner Männer aus dem vorderen Wagen war ausgestiegen und hatte ihm diese Worte zugerufen.
Robert verstand nicht. Sein Befehl per Funk, die Aktion abzubrechen, war doch eindeutig gewesen. Sein Kollege klärte ihn auf. Als der Funkspruch kam, war Schmieder bereits losgelaufen, gerade noch an dem Truck vorbei.
Sören Schmieder. Im Alleingang, im Vollsprint, mit kompletter Ausrüstung und gegen das stürmische Wetter. Zweifellos ein guter Mann, einer seiner besten, der jedoch bisweilen zu nicht ganz ungefährlichen Alleingängen neigte. Bis an den Bahnsteig war es eine Strecke von etwa einem halben Kilometer. Und zusätzlich musste er noch aufpassen, von den Tätern nicht frühzeitig entdeckt zu werden. Roberts Aufgabe wäre es jetzt eigentlich gewesen, zum Funkgerät zu greifen und Schmieder zurückzupfeifen. Doch er tat es nicht. Auch wenn es nur eine kleine Chance war, es war immerhin eine.
Der Lkw-Fahrer hupte und winkte ihm zu, die Straße freizugeben. Er wollte weiterfahren. Robert ignorierte ihn einfach, griff stattdessen wieder zum Funkgerät, um Mölter Meldung zu machen, dass die Aktion gescheitert war. Der konnte es kaum fassen. Stille in der Leitung. Robert meinte, die Enttäuschung des Einsatzleiters geradezu spüren zu können. Nach ein paar Sekunden war Mölter aber wieder da. »König, Sie kehren um und verfolgen den Zug über die L 100 in südlicher Richtung bis zum Gasthaus Drei Annen. Da ist eine kleine Lichtung. An dieser Stelle überqueren die Gleise die Straße. Der Zug muss etwas langsamer fahren. Ihr neuer Einsatzbefehl lautet: Versuchen Sie, auf die führerlose Lok zu kommen und die Maschine zum Stehen zu bringen, bevor der Zug den Bahnhof Drei Annen Hohne erreicht. Fahren Sie mit Sondersignal. Ihnen bleiben genau fünfzehn Minuten, dann passiert der Zug das Gasthaus! Es wird knapp, aber Sie können es schaffen!«
»Einer meiner Männer ist noch draußen. Er versucht, den Zug zu erreichen.«
»Allein?«
»Ja.«
»Wie konnte das passieren?«
»Er war schon weg, bevor der Befehl zum Abbruch kam. Vielleicht hat er eine Chance.«
»Was meinen Sie?«
»Schwer zu sagen. Fünfzig-fünfzig, würde ich sagen.«
»Also gut. Lassen Sie einen der beiden Wagen zurück und teilen Sie Ihr Team. Aber bleiben Sie auch in ständigem Kontakt mit den anderen Männern.«
Robert ließ fünf seiner Leute in den hinteren Gruppenwagen einsteigen und losfahren. Wittich, der dem Rangierer das Zeichen gegeben hatte, war bereits wieder zu ihnen gestoßen, also konnten sie sofort abrücken. Er selbst blieb zurück, um mit den restlichen beiden Männern Schmieder zu folgen. Der hupende Truck, der weiterfahren wollte und dem der andere Van noch immer direkt vor der Motorhaube stand, interessierte ihn jetzt einen Dreck. Er hörte das Pfeifen der Diesellok, der Hinweis darauf, dass sie in diesem Augenblick in einer engen Linkskurve den kleinen Bahnübergang direkt auf der Höhe des Wasserwerks passierte, den nur Wanderer benutzten. Am Ende dieser Kurve lag die Einfahrweiche für den Bahnhof.
Irgendetwas stimmte jedoch nicht. Soeben hatte der Gegenzug aus Richtung Drei Annen Hohne einen Warnpfiff abgegeben. Das hieß, er war bisher nicht im Bahnhof eingetroffen! Er war so nahe, dass man ihn schon hören konnte, trotzdem nach Roberts Schätzung noch mindestens einen halben Kilometer entfernt. Und ohne Mühe, mit stoischer Gleichförmigkeit zog die klobige weinrote Maschine langsam, aber unverdrossen ihre Wagenschlange aus der Linkskurve die beginnende Steigung hinauf in den Bahnhof. Noch dreihundert Meter, dann würde sie auch die Ausfahrweiche von Steinerne Renne passieren und die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. Es musste zur Kollision kommen.
König und seine beiden Männer rannten los.