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Kapitel 6

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Die Soldaten führten Aelia und Verina die Via Valentinian hinauf zum Palastviertel. Der Kurzgeschorene ging mit energischen Schritten vorneweg, der andere stieß sie grob vor sich her, wobei sein gezogenes Schwert ihnen oft gefährlich nahe kam.

Aelia fragte sich, wo sie sie wohl hinbringen würden – zurück zu Dardanus oder womöglich zu Marcellus. Liebe Götter, lasst es nicht Dardanus sein, flehte Aelia im Stillen. Marcellus könnte sie vielleicht noch davon überzeugen, Verina zu verschonen, wenn sie für ihn kämpfte.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Kaum hatte sie Glück gehabt und die Freundin wiedergefunden, wurde dieses Glück wieder zerstört. Warum waren sie nicht vorsichtiger gewesen, als sie die Stadt durchquerten! Aelia fühlte eine warme Träne auf ihrem kalten Gesicht. Sie starrte auf ihre Stiefel, die feucht waren vom Schnee, fühlte den rauen Stoff von Verinas Mantel in ihrer Hand. Fest hielt sie den Arm der blinden Freundin umklammert.

Die Soldaten bogen in eine Seitenstraße und schritten an einem gewaltigen Gebäude entlang, das sich die ganze Straße hinzog und in dessen Mitte ein großes Torhaus lag. Aelias Herz stolperte vor Angst. Der Palast der Stadtwache! Er war das Schlimmste, das ihr passieren konnte, schlimmer noch, als zu Dardanus oder Marcellus zurückzumüssen. Hier waren die Verliese, in die man die Straßenkinder brachte, wie Dardanus ihnen erzählt hatte.

Die Soldaten nickten den Wachmännern zu, die das Tor für sie öffneten, und schoben die Mädchen hindurch. Ein weiter Platz, dessen Schneedecke von vielen Spuren aufgewühlt war, öffnete sich vor ihnen. Er war begrenzt von Säulengängen und an der gegenüberliegenden Seite von dem eigentlichen Palast, über dem sich eine Kuppel wölbte. In der Mitte des Platzes erhob sich eine Statue des Kaisers.

Die Soldaten führten die Mädchen durch einen der Säulengänge, von dem zahlreiche Türen abgingen. Aelia sah auf den roten Mantel des Kurzgeschorenen und musste an ihren Vater denken. Ob auch er einst durch diesen Gang geschritten war? Rasch schob sie die Erinnerung fort.

Der Kurzgeschorene öffnete eine Tür, nahm eine Fackel, die in einer Halterung brannte, und stieg eine Treppe hinab. Aelia zögerte. Kühl wehte die Luft aus dem Keller zu ihr herauf. Der Kerker! Wenn sie hier hineingingen, kämen sie nie wieder heraus.

»Warum werden wir eingesperrt?«, rief sie. »Wir haben nichts getan!« Der Soldat hinter ihr versetzte ihr einen Stoß.

»Runter mit dir!«, schnarrte er. Aelia konnte nur noch Verina fassen und festhalten. Die Treppe wand sich in ein Gewölbe hinunter, dessen Mauern aus groben Steinen geschichtet waren. Der Kurzgeschorene lief mit seiner Fackel den Gang voran. Von hier aus gingen mehrere andere Gewölbe ab, die mit Gittertüren vom Hauptgang abgetrennt waren. Vor einer Tür hielt er inne, zog einen Schlüssel hervor und öffnete sie. Der andere Soldat packte Verina und schob sie durch die Tür in das Gefängnis. Als Aelia folgen wollte, hielt er sie zurück. »Du nicht!«

»Warum nicht? Lasst mich bei ihr, sie ist blind! Sie braucht mich!«

Aber der Soldat schüttelte nur wortlos den Kopf und schloss die Tür. Hilflos sah Aelia, wie Verina das Gitter umfasste. Hinter ihr kauerten ein paar andere Gestalten.

»Nein!«, schrie Aelia. »Neiiin!« Laut hallten ihre Worte von den Wänden und klangen in ihren Ohren mit vielfachem Echo wider.

Verina streckte die Hand nach ihr aus. Ehe Aelia sie fassen konnte, schob der Soldat sie vorwärts, doch sie verpasste ihm einen Stoß und riss sich los. Der Soldat taumelte. Sie nahm Verinas Hand und drückte sie fest. »Wir kommen hier raus, verlass dich auf mich!«

Aus den Augenwinkeln sah sie den Kurzgeschorenen auf sich zukommen, dann spürte sie einen harten Schlag auf ihrem Kopf. Alles um sie herum versank in tiefe Nacht.

*

Als sie wieder erwachte, war es schon Tag. Licht fiel durch eine ­schmale Luke ihres Gefängnisses herein und blendete sie. Sie öffnete die Augen, blinzelte, aber das Licht tat so weh, dass sie sie schnell wieder schloss. Ihr Kopf schmerzte. Ihre Finger fuhren über die kratzige Wolldecke, auf die man sie gelegt hatte. Eine weitere Decke lag auf ihr, immerhin, aber dennoch waren ihre Glieder kalt und steif gefroren. Sie wälzte sich aus dem Licht, öffnete die Augen und sah sich um: ein steinernes Gefängnis umschloss sie. Die Gittertür, die den Ausgang versperrte, hatte Kratzspuren auf dem blanken Fußboden hinterlassen.

Aelia war allein.

Der steinerne Boden strömte eine solche Kälte aus, dass mehrere Decken nicht gereicht hätten, sie zu wärmen. Es war, als dehnte sich unter ihr das Totenreich. Aelia erhob sich. Sie war in einem Kerker ähnlich jenem, in den man Verina gesperrt hatte, aber offenbar in einem anderen Teil des Gefängnisses. Der Gang wölbte sich leer und dunkel vor ihr. Gegenüber schimmerten weitere Gitterstäbe, aber dahinter regte sich nichts.

»Ist da wer?«, rief sie in die Dunkelheit hinein. »Antwortet!«

Nichts geschah. Niemand antwortete ihr. Aelia starrte in den Gang, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Da entdeckte sie am Ende des Ganges eine geschlossene Tür.

Also war sie allein. Allein in einem Kerker zwischen vielen anderen leeren Kerkern. Das war es also, was ihr die Flucht eingebracht hatte. Ihr Sieg über Eghild, das Wiedersehen mit Verina – es hatte nichts bewirkt und würde sie wahrscheinlich nur wieder zu Dardanus zurückführen. Oder – schlimmer noch – sie hier enden lassen.

Sie ließ sich auf ihr Lager zurücksinken und hielt sich ihren schmerzenden Kopf. Sie ergriff den Wasserbecher, den man ihr hingestellt hatte, und leerte ihn in einem Zug. Mehr noch als um sich selbst sorgte sie sich um Verina. Was würde mit ihr geschehen? Zu Dardanus konnte sie nicht mehr zurück, denn als Blinde wäre sie für ihn nicht mehr zu gebrauchen. Würde man sie wieder zu Bassus ­schicken? Oder sie einfach hier verkümmern lassen?

Aelia musste an Dardanus’ Worte über die Kerker im Palast der Stadtwache denken und an die anderen Gefangenen bei Verina. Sie hatten nicht wie Kinder ausgesehen. Vielleicht hielt man die Kinder woanders gefangen oder man verkaufte sie sofort, nachdem man sie aufgegriffen hatte. Vielleicht hatte Dardanus aber auch gelogen. Nein, dachte Aelia, als die Stunden dahinkrochen und sich der Hunger allmählich in ihr breit machte, wir sind verloren, wir beide, Verina und ich. Wir wissen als Einzige von den verbotenen Kämpfen auf Leben und Tod, die immer noch in Treveris stattfinden, und könnten etwas verraten. Sie werden uns nicht mehr freilassen.

Doch dann, als sie schon nicht mehr damit rechnete, öffnete sich die Holztür im Gang und die beiden Soldaten, die sie festgenommen hatten, kamen zu ihr. Der Kurzhaarige öffnete mit finsterem Gesicht die Gittertür, zog einen Strick hervor und fesselte ihre Handgelenke, während sie der andere mit gezogenem Schwert bewachte.

Für so gefährlich hielten sie sie also, dass sie sie fesselten! Eigentlich hätte Aelia stolz sein können, aber sie war es nicht. Sie war nur erleichtert, als die beiden Soldaten sie aus dem Kerker führten. Sie brachten sie zum Palast am Ende des Hofes, über dem sich die Kuppel wölbte, und schritten die breiten Stufen zum Eingang hinauf. Die drei durchquerten eine mit Marmor ausgelegte Halle, dann einen langen Gang, auf dem die genagelten Stiefelsohlen der Männer hallten. Schließlich blieben sie vor einer mächtigen Tür stehen, bis der Soldat, der davor wachte, sie einließ.

»Das Mädchen, Vortrefflicher«, meldete der Kurzgeschorene und wartete auf weitere Befehle.

Der Präfekt stand am Fenster seines Arbeitszimmers. Das Licht ­eines trüben Wintertages fiel herein, wärmte aber kein bisschen. Trotz der Kälte, die in dem Zimmer herrschte, brannte das einzige Kohlebecken im Zimmer nicht, und der Präfekt trug keinen Umhang, sondern nur eine Tunika, die an den Säumen mit einer Bordüre besetzt war.

Er musterte Aelia kurz. Sofort erkannte sie ihn wieder: Es war Tertinius, der weißhaarige Offizier, der ihren Kampf in den Thermen verfolgt hatte.

»Danke, Lucanus«, sagte er und nickte dem Kurzgeschorenen zu, woraufhin alle Soldaten das Zimmer verließen. »Er ist mein bester Centurio. Du hast ihm einen mächtigen Schlag verpasst.«

Er wies Aelia den Platz auf dem Korbsessel gegenüber seinem Schreibtisch zu, während er selbst stehen blieb. Aelia setzte sich langsam auf den Sessel. Merkwürdigerweise war sie kaum erstaunt darüber, dass Tertinius der Präfekt war.

»Ich hasse das Gesindel, das sich im verfallenen Bezirk herumtreibt«, fuhr er fort. »Diebe, Bettler, Mörder – einer schlimmer als der andere. Bassus ist der Schlimmste von allen; er lügt, sobald er den Mund aufmacht. Aber dieses Mal hat er mir einen guten Dienst erwiesen.«

Er wies auf ein zusammengerolltes seidenes Bündel auf seinem Schreibtisch. Aelia warf einen Blick darauf und erkannte das Gewand, das sie bei ihrem Kampf getragen hatte. Sie merkte, wie die Kühle des Zimmers unter ihren Umhang kroch und sie zittern ließ.

»Bassus glaubte, du seiest eine entflohene Badesklavin, und verlangte eine hohe Summe für dich. Aber ich zog es vor, die Sache auf meine Art zu regeln.«

Aelia sagte nichts. Sie starrte auf das Seidengewand, und die Erinnerungen an jenen Abend krochen wieder in ihr hoch. Die Gäste am Beckenrand, der Duft nach Parfum und brennenden Fackeln, die Kühle im Becken, die bleiche Eghild.

Tertinius trat an seinen Schreibtisch. »In den Thermen hätte ich keine Kupfermünze für dich gegeben, obwohl ich deinen Sieg erhofft habe.«

Aelia schwieg und wich seinem Blick aus. Sie glaubte ihm kein Wort.

Er setzte sich auf den Schreibtisch und ließ sie nicht aus den Augen.

»Du wusstest nicht, dass es ein Kampf auf Leben und Tod war, nicht wahr? Man hat dich nicht darauf vorbereitet.«

Als Aelia nichts sagte, fuhr er fort: »Die Leute hier sind versessen auf Kämpfe, vor allem auf die Mädchenkämpfe. In Wahrheit aber suchen sie nur Ablenkung. Sie sind verzweifelt und wütend. Seit den Barbarenüberfällen ist nichts mehr wie früher.«

Aelia schwieg. Sie hätte ihm am liebsten erwidert, dass er selbst Zuschauer gewesen war und der Kampf nur mit der Duldung durch ihn, dem Präfekten der Stadt, hatte stattfinden können, ja, dass er vielleicht sogar selbst daran verdiente, aber sie hielt sich zurück.

»Du hast sicher noch nie einen Schild geführt, nicht wahr?«

Aelia sagte nichts.

Tertinius seufzte. Er stand auf, ging ans Fenster, sah eine Weile hinaus. Dann drehte er sich wieder um, trat hinter seinen Schreibtisch und maß sie mit einem kalten Blick.

»Ich mag es nicht, wenn man nicht mit mir redet. Du solltest dir klar sein, dass dein Leben und das deiner Freundin in meiner Hand liegen. Ich könnte euch ohne Weiteres zu Dardanus zurückschicken, wenn ich will. Oder wäre dir Marcellus lieber? Oder Bassus?«

Aelia starrte ihn an. Widerwillig schüttelte sie den Kopf.

»Gut.« Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. »Was kannst du noch außer Faustkampf?«

Aelia verstand nicht, worauf er hinauswollte. Wäre es besser, wenn sie ihm alles verriete? Oder würde ihr das nur schaden?

»Sarus hat uns auch den Stockkampf beigebracht.«

»Den Stockkampf? Was ist das denn für eine Art zu kämpfen?«

»Er hat sie von einem Hunnen gelernt. Man kann auch einen starken Ast nehmen – zur Not.«

»Und damit den Gegner aufspießen?«

»Ein Stock kann eine gute Waffe sein, wenn man kein Schwert hat.«

»Nun ja, mag sein. In den hunnischen Steppen vielleicht.« Tertinius lächelte spöttisch. »Aber du kannst auch das Messer werfen, richtig?«

Aelia nickte und sah auf ihre schmutzigen Schuhe herunter. Als sie wieder zum Präfekten aufsah, bemerkte sie den erstaunten Ausdruck auf seinem Gesicht. Er ließ sich in seinen Sessel sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sieh mal einer an! In der Abgeschiedenheit von Dardanus’ Villa werden Soldatinnen ausgebildet. Man sollte ein Auge auf das Haus haben.«

Er nahm den Stilus von seinem Schreibtisch und drehte ihn nachdenklich in der Hand.

»Diese Barbarin – wie hieß sie noch gleich?«

»Eghild.«

»Ja, richtig. Was weißt du von ihr?«

Es gab Aelia einen schmerzlichen Stich, an Eghild denken zu müssen. Warum fragte er nach ihr? Was ging sie ihn jetzt noch an, wo sie tot war? Aelia antwortete nicht, und Tertinius’ Miene verschloss sich, sein Blick wurde kalt wie der Raum, in dem sie saßen.

»Ich dachte, wir arbeiten zusammen«, sagte er. »Hast du nicht begriffen, dass ich dich wieder zu Dardanus zurückschicken werde, wenn du mir nicht sagst, was du weißt?«

»Wer sagt mir, dass du mich nicht wieder zu ihm schickst, wenn ich alles verraten habe? Was willst du überhaupt von mir, Präfekt?«

»Langsam, eins nach dem anderen. Du erzählst mir, was du weißt, denn du hast gar keine andere Wahl. Also, wer war Eghild?«

»Ich weiß es nicht.«

»Verdammt!« Der Präfekt warf den Stilus zurück auf den Tisch. »Du wirst mir jetzt sagen, was du weißt oder ich lasse dich und deine blinde Freundin im Kerker, bis du redest!«

Er sah aus, als würde er nicht zögern, seine Drohung wahrzumachen. Aelia knetete ihre Hände, während die Angst ihr den Nacken herunterlief. »Herr«, sagte sie versöhnlicher, »ich weiß wirklich nichts über sie. Wir waren keine Freundinnen.«

»Aber ihr habt euch bei Dardanus eine Kammer geteilt!«

»Woher weißt du das?«

Tertiniusʼ Hände schlugen auf die Sessellehnen. »Beim Allmächtigen! Ich stelle hier die Fragen! Also zum letzten Mal: Sag mir alles, was du über sie weißt.«

Mit Mühe zwang sich Aelia, an Eghild zurückzudenken. Sie dachte an das bleiche Wesen, das abends vor der Luke ihrer Kammer gestanden hatte, und auf einmal durchzuckte sie Reue. Hätte sie Eghild doch nur mehr beachtet! Was hätte sie nicht alles herausfinden können, wenn sie nicht so abweisend gewesen wäre!

Sie schluckte mit Mühe den dicken Kloß herunter, der in ihrem Hals steckte. »Sie … kannte geheime Beschwörungssprüche. Sie stand oft am Fenster und murmelte Gebete zu einer … Göttin.« Aelia musste daran denken, wie sie jeden Abend Eghilds Gebete belauscht hatte. Sie hatte jedes Wort verstanden.

Tertinius machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hat Eghild dir erzählt, wo sie den Schwertkampf gelernt hat?«

Aelia starrte auf eine Schriftrolle, die neben mehreren Wachstafeln ausgebreitet auf seinem Schreibtisch lag. Linien waren darauf eingezeichnet wie auf einem Spinnennetz, nur nicht so regelmäßig.

»Wir haben nie darüber gesprochen. Es ist mir nur aufgefallen, dass sie den Stock anfangs wie ein Schwert geführt hat.«

»Nun, wir kennen die Franken lange genug. Keine Frau führt bei ihnen eine Waffe. Hat sie dir nie erzählt, wie sie zu Dardanus kam? Woher sie kam? Etwas über ihren Stamm?«

»In Dardanus’ Haus sprach man nicht über seine Vergangenheit.«

Der Präfekt musterte Aelia lange. Vom Hof her erklangen die Schritte vieler Soldaten und die Befehle der Offiziere. Dann zog er einen Lederbeutel aus seinen Gewandfalten und stülpte ihn um. Ein goldener Ring mit einem schwarzen Stein fiel auf die Eichenholzplatte.

»Bassus war so nett, mir diesen Ring zu überlassen, den er bei dir gefunden hat. Wo hast du ihn her?«

Aelia betrachtete Eghilds Ring. Sie dachte daran, wie sie ihn entdeckt hatte. Sie schloss die Augen, schob den Gedanken fort. »Ich habe ihn geerbt«, murmelte sie. »Von meinem Großvater.«

Tertinius’ Miene wurde starr. Seine Augen funkelten wütend. »Du lügst. Ich habe gehört, wie Eghild dich nach dem Ring fragte. Du hast sie angelogen.«

»Du sprichst Fränkisch, Herr?«

Tertinius seufzte. »Gib zu, dass du ihn gestohlen hast!«

Aelia wich seinem Blick aus und sah auf die Schriftrolle. Zwischen den Linien waren Worte eingezeichnet. »Ja, es ist Eghilds Ring. Ich habe ihn ihr gestohlen.«

»Warum?«

Aelia antwortete nicht. Tertinius trommelte mit den Fingern auf seine Sessellehnen, während er sie nachdenklich musterte. »Du bist ein seltsames Mädchen, Aelia. Du bist kaltblütig genug, Eghild zu bestehlen, aber du beschützt Verina und lässt dich verhaften, wo du ohne Weiteres hättest fliehen können. Du hast Eghild nicht gemocht, nicht wahr?«

Aelia nickte.

»Was wolltest du mit dem Ring?«

»Warum ist das jetzt noch wichtig? Eghild ist tot und der Ring ist hier.«

Der Präfekt beugte sich in seinem Sessel vor. Seine Augen blickten kalt aus seinem geröteten Gesicht, über dem seine Haare wie Schnee hingen. Ein Wintermensch, dachte Aelia, frostig und kalt.

»Hast du immer noch nicht begriffen, dass ich hier die Fragen stelle?«, zischte er. »Ich könnte dich wegen Diebstahls und deine Freundin wegen Bettelei im Kerker verrotten lassen, und niemand würde es je erfahren. Also sag mir, was ich wissen will, verdammt noch mal!«

Aelia wich vor ihm zurück. Sie spürte auf einmal wieder, wie die Stricke in ihre Handgelenke schnitten. Sie musste ihm sagen, was er wissen wollte.

»Ich fand den Ring zufällig, als mir ein loses Brett im Boden unserer Schlafkammer auffiel. Wir alle haben unsere kleinen Schätze, und ich wollte wissen, welchen Eghild hat. Als ich den Ring sah, dachte ich, dass er ein Beutestück ist, und ich dachte, dass sie kein Anrecht darauf hat, ihn zu besitzen.«

»Und deshalb hast du ihn genommen.«

Aelia nickte. »Die Barbaren haben unsere Stadt überfallen und geplündert. Es ist deshalb nur gerecht, wenn etwas von ihrer Beute wieder in unsere Hände kommt.«

Tertinius lächelte.

»Du hasst also die Barbaren. Dennoch sprichst du Fränkisch. Wo hast du es gelernt?«

»Wolltest du nicht alles über Eghild wissen, Herr? Ich habe dir erzählt, was ich weiß.«

»War dein Vater ein Franke? Oder deine Mutter?«

Aelia zögerte. Sie wollte so wenig wie möglich über ihre Eltern preisgeben. »Mein Vater war es, er brachte mir seine Sprache bei, aber ich spreche sie nicht gut. Als er starb, war ich noch klein.«

»Dein Vater war also ein Franke. Und trotzdem hasst du die Barbaren?«

»Ich habe kaum noch Erinnerungen an ihn.«

»Und deine Mutter?«

»Sie war Römerin.«

»Sie ist auch tot, nehme ich an?«

Aelia schluckte. Stumm nickte sie. »Es gibt wenige Menschen, die zwei Muttersprachen sprechen. Das kann sehr nützlich sein.«

»Was geschieht nun mit mir? Willst du mich auf dem Sklavenmarkt verkaufen?«

Tertinius schüttelte den Kopf.

»Dann soll ich wieder kämpfen?« Aelia erhob sich. »Aber ich werde nicht mehr kämpfen! Für niemanden!«

»Setz dich«, sagte Tertinius ruhig. »Du bist ein mutiges Mädchen, aber ich habe nicht vor, dich wieder zu Kämpfen zu schicken.«

»Was dann? Soll ich in ein Hurenhaus? Oder Badesklavin für die Soldaten sein?«

Der Präfekt lächelte freudlos. »Setz dich oder ich rufe meine Männer.«

Aelia ließ sich auf den Rand der Sitzfläche nieder.

»Du wirst etwas für mich tun.« Tertinius legte eine kleine Pause ein.

»Was soll das sein?«

»Wie ich schon sagte«, fuhr Tertinius fort, »weder Dardanus noch Marcellus noch sonst wer, der in der Nacht der Wintersonnenwende in den Thermen war, wissen, dass wir dich gefunden haben. Bassus denkt sicher, du seiest geflohen. Es gibt niemanden mehr, der dich vermisst, dich und deine Freundin. Es gibt euch sozusagen gar nicht mehr.«

Aelia schossen die Tränen in die Augen, während Tertinius sie beobachtete. »Euer Leben liegt in meiner Hand. Wenn du tust, was ich dir sage, wird euch beiden nichts geschehen.«

Aelia schluckte ihre Tränen hinunter. »Uns beiden, sagtest du, Herr?«

»Ja, euch beiden. Du tust, was ich dir sage, und ich sorge dafür, dass es deiner Freundin gut geht. Ich lasse sie an einen sicheren Ort bringen.«

»Wohin?«

»Das wirst du noch erfahren.«

»Und ich?«

»Auch das wirst du noch erfahren. Nur so viel für den Anfang: Du wirst etwas für das Reich erledigen. Wenn du alles machst, was ich von dir verlange, schenke ich dir und deiner Freundin die Freiheit. Weigerst du dich aber …«

Seine Worte verhallten zwischen den kalten Mauern seines Arbeitszimmers und schwangen in Aelia wider, als kämen sie aus einer fernen Welt. Die Freiheit, hämmerte es in ihrem Kopf. Freiheit für Verina und sie. Freiheit, das war etwas, das sie seit ihren Kindertagen bei ihrer Mutter nicht mehr kannte, ja, eigentlich nie wirklich kennengelernt hatte. Es erschien ihr so fremd wie begehrenswert, etwas, das man sich wünschte und von dem man gleichzeitig ahnte, dass man es nie bekommen würde.

»Was muss ich dafür tun? «

Tertinius erhob sich, trat hinter seinen Sessel und legte seine Hände auf die Lehne.

»Du musst unserem Reich helfen. Es ist umzingelt von Feinden«, begann er. »Die Goten, die Vandalen, die Hunnen, die Franken, alle dringen in unser Land ein und versuchen, sich einen Teil davon zu nehmen. Es sind nicht mehr dieselben Barbaren wie früher. Ihre Stämme schließen sich zu mächtigen Verbünden zusammen, aus denen sie ihre Anführer bestimmen, und diese Großreiche werden gefährlich für uns.«

Er legte eine kleine, bedeutungsvolle Pause ein.

»Du fragst dich jetzt sicher, was das alles mit dir zu tun hat. Nun, mehr als du denkst. Als Militärpräfekt von Treveris muss ich für die Sicherheit unserer Stadt und ihres Umlandes sorgen, und ich habe nicht vor, Feuer zu löschen, sondern werde schon die Brandherde ersticken. Der Heermeister Aetius hat mehr als genug mit gewaltigen Bränden im Reich zu tun. Unserer Präfektur in Arelate ist darum sehr daran gelegen, dass hier in Nordgallien Ruhe herrscht.«

Aelia verstand nur wenig von seinen Worten. Sie fragte sich immer noch, worauf er hinauswollte.

»Die fränkischen Stämme in unserer Nähe sind ruhig, von ihnen haben wir nichts zu befürchten. Die größere Gefahr für das Reich droht uns aus dem Norden.«

»Was soll ich tun?«, fragte Aelia leise.

»Du wirst eine Reise machen, im Frühjahr, wenn die Straßen wieder passierbar sind. Zuerst aber lasse ich dich zu jemandem bringen, der dich auf deine Aufgabe vorbereiten wird.«

»Was wird das für eine Aufgabe sein?«

»Das werde ich dir noch sagen, später, alles zu seiner Zeit. Du wirst diesem Mann in allem gehorchen, was er sagt, und nicht fliehen. Dann wird auch deiner Freundin nichts geschehen.«

»Woher weiß ich, dass es ihr gut geht?«

Tertinius erhob sich. »Was glaubst du, Mädchen? Ich bin kein Barbar. Ich gebe dir mein Wort, das muss reichen.«

Er rief nach den Soldaten, dann trat er ans Fenster und sah in den Hof.

Aelia sprang auf, als die Soldaten kamen und sie packten, denn sie erfasste Angst, Tertinius könnte es sich wieder anders überlegen und sie doch noch in den Kerker werfen lassen. Sie kämpfte sie nieder. »Bitte, ich möchte meine Freundin sehen.«

Doch der Präfekt rührte sich nicht. Erst als sie an der Tür waren, sagte er: »Später, alles zu seiner Zeit.«

Seine Stimme ließ sie erschauern. Sie klang wie ein Todesurteil.

Aelia, die Kämpferin

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