Читать книгу Aelia, die Kämpferin - Marion Johanning - Страница 8

Kapitel 4

Оглавление

In der Nacht der Wintersonnenwende setzte Tauwetter ein. Es begann zu regnen, und der Regen verwandelte den Schnee in Matsch. Tiefe Spurrillen, in denen das Mondlicht glitzerte, zogen sich über die Via Fori, über die der Wagen fuhr.

Es war still in der Stadt. Nur hin und wieder rumpelte ein Karren durch den feuchten Schnee, knirschten Schritte, redeten leise Stimmen. Zur Feier der Christusgeburt hatte der Bischof eine Predigt gehalten, das Wort Gottes verkündet und Brot an die Armen verteilen lassen. Danach hatte man sich in die Häuser begeben, um die Heilige Nacht in Ruhe zu verbringen, wie der Präfekt es angeordnet hatte. Alle Tavernen und Wirtshäuser waren geschlossen, weil man nicht wollte, dass der Pöbel heimlich heidnische Feste feierte, die der Kaiser verboten hatte. Schließlich war das Reich schon seit über hundert Jahren christlich. Dennoch war in einigen Häusern noch gefeiert worden, war in manchem Hinterhof aus alter Tradition dem Sonnengott Sol Invictus heimlich ein Opfer dargebracht worden, bis auch diese Stimmen in der längsten Nacht des Jahres verklangen und die Stadt in Stille versank. Aber sie schlief nicht. Ihrer früheren Feiern beraubt, wachte sie still und wartete auf den Morgen.

Aelia drückte ihr Gesicht an die Öffnung in der Wagentür. Es war schon sehr spät, und sie hatte den ganzen Tag in gespannter Unruhe verbracht. Voller Ungeduld hatte sie stundenlang gewartet, bis Marcellus ihnen endlich seinen Wagen geschickt hatte. Erstaunt stellte sie fest, dass sie die Via Fori stadtauswärts fuhren. Sie hatte geglaubt, das Gastmahl würde in Marcellus’ Villa im Palastviertel stattfinden, doch sie fuhren an der Bischofskirche und am Forum vorbei in die Via Valentinian, die hinunter zum Hafen führte. Danach bogen sie in eine kleine Seitenstraße ab und hielten dort an.

Erleichtert folgte Aelia Sarus aus dem Wagen – von dem Geschaukel war ihr ganz schlecht geworden.

Vor ihnen erstreckten sich die Mauern des alten Badepalastes, dessen gewaltige Umrisse dunkel in die Höhe aufragten. Vor einem Tor brannten zwei Fackeln, und in ihrem Licht sah Aelia mehrere Wagen warten. Was hatte das zu bedeuten? Das Gastmahl konnte doch nicht hier, in den alten Thermen, stattfinden! Das Gebäude stand schon seit Jahren leer, seitdem die Barbaren es zerstört hatten und die Wasserleitungen, die in die Stadt führten, verfielen.

Aelia fröstelte. Sie zog den Wollumhang, den sie über ihrem seidenen Gewand trug, enger und stülpte sich die Kapuze über. Sie trug dieses Mal keine Perücke, weil sie in dem Schaukampf einen männlichen Kämpfer darstellen sollte. Ein Soldat kam, streifte sie mit einem kurzen Blick, nickte Sarus zu und führte sie durch eine kleine Seitentür neben dem Eingangstor in die Thermen. Aelia heftete sich wortlos an den Saum von Sarus’ Mantel, der vor ihr wallte.

Sie staunte über die Größe der Halle, die sie durchschritten. Fackelschein beleuchtete eine alte, noch gut erhaltene Holzdecke über weiß verputzten Wänden, die mit Zeichnungen und Buchstaben beschmiert waren. Aelia sah Worte, die sie nicht lesen konnte, obszöne Malereien und die Zeichnung eines Mannes, der einen Stier tötete.

Kalt war es in den jahrhundertealten Mauern, durch deren Ritzen und fensterlose Öffnungen, auch wenn man sie mit Brettern vernagelt hatte, Stürme und Regen gedrungen waren. Es roch nach Moder und Vogelkot. Von irgendwoher kam ihnen aber auch Wärme entgegen, die Wärme vieler Menschen, und ein leichter Parfümgeruch. Aelia hörte Stimmen, die immer lauter wurden, je weiter sie kamen. Schließlich erreichten sie einen großen Saal, an dessen Eingang sie einen Augenblick stehen blieben. Zahlreiche Fackeln warfen ihr Licht auf die Menschen, die sich in der Mitte des Saales versammelt hatten.

Aelia sah mit Pelz besetzte Wollmäntel, Seidentuniken, Juwelenohrgehänge unter Fellkappen, und zwischen den edlen Stoffen das Rot einiger Offiziersmäntel. Die Menschen wirkten geradezu winzig neben den hoch aufragenden marmornen Säulen, die den mächtigen Saal trugen. Der schwarz-weiß gewürfelte Fußboden erinnerte Aelia an Dardanus’ Eingangshalle, doch dieser hier war aus reinem Marmor und viel wertvoller, ebenso die Säulen. Ganz oben im Mauerwerk lagen mit Brettern zugenagelte Fenster. Aelia staunte noch über den gewaltigen Saal, als Dardanus sich aus der Menschentraube löste und auf sie zukam, gefolgt von Marcellus und einem Offizier. Er hatte auf seinen üblichen Kaninchenfellmantel verzichtet und trug einen mit Pelz besetzten Wollmantel, unter dem ein goldener Dolchgriff hervorlugte.

Seine Wangen leuchteten rot vom Wein.

»Mein guter Sarus, willkommen im alten Frigidarium!«, rief er, warf einen Blick auf Aelia und nickte zufrieden. »Sieht sie nicht gut aus? Was meinst du, Marcellus?«

Er wandte sich an den jungen Mann neben ihm. Marcellus musterte Aelia mit einem abschätzenden Blick. Er hatte eine schmächtige Statur, trug Stiefel aus feinem Leder und einen Pelzmantel. Hellbraunes Haar umlockte sein schmales, fast fraulich wirkendes Gesicht.

»Mein Lieber, sie ist noch hübscher geworden«, lobte er. »Verzauberst du deine Mädchen?«

Dardanus lächelte geschmeichelt. »Gute Kost und Zuwendung machen viel aus, vortrefflicher Marcellus. Meine Köchin und Sarus sind wie Mutter und Vater zu ihnen.«

»Ah ja?« Marcellus betrachtete Sarus, der steif neben Aelia ausharrte. »Ich habe anderes gehört über ehemalige Soldaten, mein Lieber. Den meisten machen sie Angst.«

»Gewiss, Vortrefflicher«, lächelte Dardanus, »aber mit ihm hatte ich Glück.«

Marcellus’ abschätzender Blick lag immer noch auf Sarus. »Vielleicht nehme ich ihn eines Tages in meine Dienste.«

Dardanus lachte ein gekünsteltes Lachen; er hielt es für klüger, das für einen Scherz zu halten. »Oh nein, er ist mir treu ergeben.«

Marcellus winkte ab. »Nun, es ist oftmals alles nur eine Frage des Geldes, wie du weißt.« Er warf Dardanus einen vielsagenden Blick zu und wandte sich an den Offizier. »Mein lieber Tertinius, was hältst du von unserer Kämpferin?«

Der Offizier kniff die Augen zusammen und musterte Aelia. Er war schon älter, mit weißen Haaren und hellen Augen, die aus einem rötlichen Gesicht herausstachen. »Ich beurteile Kämpfer erst nach der Schlacht«, sagte er.

Aelia fühlte sich sehr unbehaglich unter seinem aufmerksamen Blick. Immerhin redete er nicht so falsch wie Marcellus, der ihr Aussehen lobte, obwohl er schwerlich etwas von ihr unter dem Umhang und der Kapuze, die sie trug, erkennen konnte. Aber etwas stimmte nicht. Es waren zu viele Menschen da. Und warum fand das Gastmahl nicht wie üblich in Marcellusʼ Villa statt sondern hier, mitten in der Nacht, an diesem ungewöhnlichen Ort? Das konnte nur einen Grund haben, stellte Aelia fest, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief, es würde tatsächlich wieder einen echten Kampf geben.

Sie folgte Dardanus und Marcellus tiefer in den Saal zu den anderen. Sarus heftete sich an ihre Seite und ließ sie nicht aus den Augen. Unauffällig sah sie sich um. An den Wänden des Saales prangten geometrische Muster mit marmornen Intarsien, die allerdings an vielen Stellen Löcher aufwiesen, als hätte jemand versucht, sie herauszuhacken. Am Kopfende und an beiden Längsseiten des Saals lagen Wasserbecken, die in den Boden eingelassen waren.

Aelia zog ihren Mantel enger um sich, als sie Dardanus, Marcellus und dem Offizier folgte. Man starrte sie mit unverhohlener Neugierde an, manche machten rasch ein verstohlenes Zeichen vor der Brust, als sei sie ein Dämon.

Sarus fasste sie am Arm und zog sie weiter. Ihr Unbehagen stieg. Am Rand der Menge sah sie bewaffnete Soldaten – gut ausgerüstete Männer mit Schwertern und Kettenhemden. Sie mussten zu Marcellus’ Leibwache gehören.

Sarus führte Aelia in einen dunklen Winkel des Badesaals. Ein paar Soldaten kamen und postierten sich um sie herum, während Sarus Aelia den Mantel abnahm und sie zu massieren begann. Das hatte er noch nie getan. Seine festen Hände griffen in ihren Nacken und strichen hart darüber hinweg. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, als ihr klar wurde, dass es ihm nicht um die Massage ging. Er würde sie sofort packen, sollte sie sich auch nur einen Zoll wegbewegen.

Ein Raunen lief durch die Versammelten, als zwei dunkel gewandete Gestalten durch den Saal schritten. Ihre Gesichter konnte man unter den großen Kapuzen, die sie trugen, nicht sehen. Rasch durchquerten sie den Saal, bis die Menschenmenge sie verschluckte.

Aelia spürte, wie Sarus’ Griff fester wurde, wie er mit kleinen, heftigen Bewegungen ihren Oberarm knetete, als wollte er damit den Siegeswillen seines Herrn bekräftigen. Ihre Angst stieg. War es Verina auch so ergangen? Hatte man sie hierher gefahren und dann kämpfen lassen? Eine Mischung aus Wut und Hass stieg in ihr auf, als sie an den Soldaten vorbei auf die Zuschauer blickte, während die Gäste neugierige Blicke auf sie warfen.

Marcellus bahnte sich einen Weg durch die Menschen. »Werte Gäste, liebe Freunde!«, rief er, und das Stimmengewirr brach ab. »Die Wetten sind abgeschlossen. Wenn ihr euch jetzt zu den Plätzen begeben wollt!«

Die Menschen schlossen sich zu einer Traube zusammen, die sich langsam zu einem der größeren Badebecken an einer Längsseite des Saales bewegte und an seinem Rand stehen blieb. Fackelträger ­kamen hinzu und säumten die Treppe, die zum Beckenrand führte.

Das war kein Ort für ein Gastmahl. Marcellus’ Gäste hatten offenbar schon gegessen und sich jetzt an diesen verlassenen Ort begeben, um einen richtigen Kampf zu sehen. Aelias Herzschlag beschleunigte sich.

Sarus führte Aelia durch die Zuschauer hindurch, die eine Gasse für sie bildeten. In ihren Blicken lag etwas Lauerndes, etwas Gieriges, etwas, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Sie hielt nach Dardanus Ausschau, nach Marcellus, sah sie nirgends, und mit erschreckender Klarheit wurde ihr bewusst, dass sie allein war, allein und ungeschützt, ausgeliefert diesen Menschen, die nichts anderes wollten als einen guten Kampf zu sehen.

Ihr Lehrer führte sie zum Wasserbecken und trat zur Seite. Neben ihm am Rand des Beckens standen mehrere bewaffnete Soldaten. Die Zuschauer begannen zu rufen und zu pfeifen, um nach einer Weile, in der nichts geschah, durch rhythmisches Klatschen ihrer Ungeduld Ausdruck zu verleihen.

In diesem Augenblick kam ein Mann aus einem Winkel des Saales, nahm Aelia am Arm und führte sie zum Beckenrand. Er trug eine dunkle Tunika, auf der eine gelbe Sonne prangte, und eine gelbe Stoffsonne auf dem Kopf, deren Strahlen in alle Richtungen zeigten. Aelia kannte ihn, er war ein Sklave von Marcellus, der die Kämpfe ankündigte. Das Publikum johlte und klatschte. Er hob die Hand und winkte ihnen zu.

»Verehrte Gäste! Im Namen eures Gastgebers, des vortrefflichen Marcellus, begrüße ich euch zum größten Schauspiel des Jahres. Lasst uns zusammen in dieser Nacht die Geburt unseres Herrn Sol Invictus feiern!«

Das Publikum jubelte. Der Applaus hallte laut von den hohen Wänden wider und schwappte über Aelia hinweg. Zwei Soldaten packten sie und schoben sie über eine Holztreppe hinunter ins Becken. Die Mauern des rechteckigen Beckens waren hoch und überragten sie etwas. Über ihr brannte eine Fackel in einem Halter an der Wand. Ihr Lichtschein zuckte über die Reste einer marmornen Beckenverkleidung, die Kühle ausströmte, als wäre das Wasser noch darin.

Aelia fror, als die Angst sie packte. Ohne Mantel und nur in ihrem seidenen Gewand, das Dardanus ihr extra hatte anfertigen lassen, fühlte sie sich nackt. Ihr war, als striche ein kühler Lufthauch über ihren kahlen Kopf. Sie sah hinauf zu den Zuschauern, die den Beckenrand umringten, und entdeckte das Gesicht des Offiziers, der ihr gerade vorgestellt worden war – Tertinius. Er sah sehr ernst aus. Sie suchte Dardanus und Marcellus, konnte sie aber nicht sehen. Stattdessen erkannte sie den Gastgeber des letzten Festmahles, bei dem sie gekämpft hatte, Eborius, und seine Frau, die unverwandt auf sie herunterstarrten.

Sarus wachte mit verschränkten Armen und undurchdringlicher Miene am Beckenrand bei den Soldaten.

»Noch ist es Nacht!«, erklang die Stimme des Ausrufers. »Tiefe dunkle Nacht. Brach liegen die Felder, die Erde harrt in winterlicher Kälte. Alle Wasser sind zu Eis gefroren, und in den Wäldern schwebt der Hauch der Winterdämonen. Solange das Land ihrem düsteren Gott gehört, dürfen sie tun, was sie wollen – nachts in den Wäldern heulen, Menschen fangen und ihnen ihren kalten Odem einhauchen, bis sie erfrieren.«

Ein Soldat reichte Aelia einen kleinen runden Schild und ein Messer. Was sollte das? Warum bekam sie Waffen? Sie hatte noch nie ­einen Schild getragen und kannte sich damit nicht aus. Der Messergriff blitzte silbern im Licht der Fackel. Kühl schmiegte er sich in ihre Hand. Es war also ein Kampf mit Waffen, ein Gladiatorenkampf.

Ein verbotener Kampf.

Sie merkte, wie sie zu zittern begann. Fest schloss sie ihre linke Hand um die lederne Schildfessel, während wie durch eine dicke Nebelwand, als sei er weit weg, die Stimme von Marcellus’ Sklave an ihr Ohr drang.

»… alles Lebende hat sich tief ins Innere der Erde zurückgezogen und wartet, bis die Herrschaft des Winters vorbei ist. Der Anfang vom Ende ist gekommen, meine lieben Gäste, wenn der erste Sonnenstrahl nach der längsten Nacht auf die gefrorene Erde fällt. Er ist noch schwach, aber er trägt etwas in sich, das stärker ist als Hoffnung und Zuversicht: Gewissheit. Der erste Sonnenstrahl nach der längsten Nacht schenkt der Erde die Gewissheit, dass der Winter ein Ende haben wird. Sie, die tot war und ihrer Erinnerungen beraubt, wird auferstehen und leben wie zuvor. Der erste Lichtstrahl nach der längsten Nacht ist die Geburtsstunde unseres Gottes. Denn er wird wiedergeboren und die Erde erwecken, und sie beginnt, sich an den letzten Sommer zu erinnern, an seine Wärme, seinen Geruch, die singenden Vögel, die Früchte. Solange man sich erinnert, ist nichts verloren. Die Erde wird sich erinnern und alles wieder erschaffen, wie es war. Das ist die Verheißung dieser Nacht!«

Eine Weile war es still, dann klatschten die Vornehmen Beifall. Danach fuhr der Ausrufer fort: »Es ist seit jeher Brauch, diese Nacht zu feiern. Viele glauben, die Tradition der Kämpfe und Spiele wäre tot, seitdem unser Amphitheater verfällt. Aber sie ist nicht tot, sie lebt wie unser Gott! Deshalb wollen wir heute Nacht einen Kampf veranstalten, den Kampf zwischen Tag und Nacht, zwischen Dunkelheit und Licht. Ein Kampf zwischen den Dämonen des Winters und des kommenden Frühlings. Lasst uns sehen, wer den Sieg davontragen wird!«

Applaus brandete auf, vereinzelte Rufe und Pfiffe ertönten. Die Zuschauer bildeten eine Gasse, um jemanden hindurch zu lassen: jene Gestalt im schwarzen Mantel, die beim Betreten der Halle mit Applaus empfangen worden war. Aelias Gegnerin.

Behände kletterte sie die Holztreppe zum Becken hinab. Als sie unten stand, wurde die Treppe hinaufgezogen.

Tief hing die Kapuze ins Gesicht der Frau. Sie war groß, aber nicht größer als Aelia, und unter ihrem Mantel ragte etwas hervor, das Aelia das Blut in den Adern stocken ließ: die Klinge eines langen Schwertes.

Aelias Herz pochte bis zum Hals. Vor ihrem geistigen Auge tauchte ein Bild auf, klar und unmittelbar – Blut auf blauer Seide. Ihr Blut. Sie würde sterben. Sie war die Nacht, das Dunkle, der Dämon des Winters. Noch bevor der Morgen graute, würde man ihren erkalteten Leib in eine Kiste legen. Marcellus, Dardanus, Sarus – sie alle hatten sie betrogen. Sie hatten sie hierher gebracht, an diesen unwirtlichen Ort, in dieses Becken, aus dem es kein Entkommen gab, in einen Kampf auf Leben und Tod. War es auch Verina so ergangen? Hatte man sie in einen Kampf auf Leben und Tod gezwungen, dem sie nicht gewachsen war? Würde sie nun denselben Weg gehen müssen?

Man hatte ihr die schlechteren Waffen gegeben, Waffen, die sie nicht beherrschte. Sie sollte den Kampf verlieren. Aelia sah auf die Schuhe der Zuschauer, die sich an den Beckenrand drängten. Sie waren viel zu nah, die Wände waren viel zu nah. Sie wollte aus dem Becken fliehen, aber es ging nicht. Es gab keine Treppe mehr, und das Becken war zu tief. Verzweifelt versuchte sie, ihren aufgebrachten Herzschlag zu beruhigen.

Im Frigidarium war es jetzt still geworden. Hin und wieder hörte man Fußscharren, ein Husten, ein vereinzeltes Tuscheln – man wartete darauf, dass der Kampf begann.

Die Gestalt ihr gegenüber regte sich. Langsam hob sie die Hand und schob die Kapuze ihres Mantels zurück. Aelia erstarrte. Auf der anderen Seite des Beckens, nur ein paar Schritte entfernt, wartete Eghild. Sie war blass und mager, ihre Augen lagen in tiefen Höhlen. Sie trug helle Beinkleider und einen Brustschutz aus hellem Leder, über dem ihr kahler Schädel schimmerte. Mit ausdrucksloser Miene musterte sie Aelia, als sähe sie sie zum ersten Mal. Mit ihrer freien Hand löste sie die Spange ihres Mantels und warf ihn über den Beckenrand in die Menge der Zuschauer. Jemand fing ihn auf. Die Flamme der Fackel zuckte auf, ein Raunen wogte durch die Gäste. »Hoch lebe Sol Invictus!«, rief jemand, und ein anderer brüllte: »Sieg für den Tag!«

Die Zuschauer jubelten. Eghild winkte ihnen mit der freien Hand und lächelte. Sie ist der Tag, schoss es Aelia durch den Kopf. Ihr helles Gewand, das glänzende Schwert – ja, sie würde eine strahlende Siegerin sein. Wie klug man alles eingefädelt hatte! In einem Winkel ihres Hirns fragte sie sich, ob nicht sogar Dardanus dieses Schauspiel arrangiert hatte.

»Guten Abend, Eghild«, hörte sie sich sagen.

Eghild antwortete nicht. Stattdessen züngelte ihr Schwert plötzlich vor und krachte gegen Aelias Schild, den diese gerade noch rechtzeitig hatte heben können.

»Aaaaahh!«, machte die Menge.

Aelias Herz pochte so rasch und heftig, dass sie es in dem Arm spürte, der den Schild hielt. Das war typisch für Eghild: harmlos wirken und zurückhaltend bleiben, um die Gegnerin mit einem Vorstoß zu überraschen. Immer wieder fuhr ihr Schwert nach vorn, stieß nach Aelia, der es gelang, die Hiebe mit dem Schild abzuwehren. Verzweifelt umklammerte ihre Hand den Schild. Eghild hingegen trug die Waffe, die sie offenbar beherrschte wie keine sonst. Sie schien gut auf den Kampf vorbereitet worden zu sein.

»Wo warst du?«, keuchte Aelia, während sie Eghild umtanzte wie ein gescheuchtes Tier.

»Marcellus mich kaufen. Sie alle auf mich wetten«, zischte Eghild. »Du sterben, denn ich bin der Tag!«

Das Publikum begann, Eghild anzufeuern.

Sie lieben mich nicht, dachte Aelia. Kein Wunder, ich bin die Nacht. Ich muss sterben. Kälte fuhr in ihr seidenes Gewand, schnitt in ihre Haut. Leb wohl, Dardanus. Ich werde sterben wie Verina, und du hast es gewusst. Das Fackellicht zuckte über den löchrigen Fliesenboden des Wasserbeckens.

Eghild lächelte. Mit einer raschen Bewegung fuhr sie nach vorn und stieß ihr Schwert nach Aelia. Diese konnte gerade noch der Klinge ausweichen, die ihr sonst in den Hals gefahren wäre und zu einem schnellen, für alle Anwesenden unbefriedigenden Ende des Kampfes geführt hätte.

»Hooooohhh!«, riefen die Zuschauer, während Aelia nach Halt suchte.

Eghilds Lächeln war falsch. Eine Finte, um sie zu täuschen, eine geschickte Ablenkung. Alles war ein abgesprochenes Spiel. Eghild war darauf vorbereitet worden, Aelia in einem nicht zu kurzen Kampf zu besiegen, einem Kampf, in dem Aelia sich, wie man vermutete, heftig und lange wehrte, um dann in fortgeschrittener Ermüdung besiegt zu werden. Sie hatte es immer geahnt – Eghild war eine Schwertkämpferin, und Dardanus und Sarus hatten es gewusst. Wut schlug hoch in Aelia, die Wut darüber, verraten worden zu sein. Verraten von Marcellus, der Eghild gekauft hatte, von Dardanus und Sarus.

Sie umklammerte den glatten Griff des Messers. Bisher hatte sie keinen Gebrauch davon machen wollen, denn sie wollte Eghild nicht töten. Aber nun war sie sich sicher, dass Eghild sie töten würde. Sie musste vorsichtig sein, denn sie hatte keine Zeit, zu zielen, weil ­Eghild sofort jede Bewegung bemerken würde. Rasch formte sich in ihr ein Plan. Sie musste sie ablenken und sie musste schnell sein, dann könnte es gelingen. Sie duckte sich, machte mit ihrem Schildarm eine rasche Bewegung, die Eghild verwirren sollte, zielte mit der anderen Hand.

Aber Eghild durchschaute Aelias Plan und hob ihr Schwert. Das Messer flog, überschlug sich, klirrte gegen die Schwertklinge und schepperte über den Steinfußboden, bis es in einer Ecke liegen blieb. Als Aelia die silberne Klinge über den Marmor rutschen sah, begriff sie, dass sie ihre vielleicht einzige Möglichkeit, Eghild zu töten, vergeben hatte. Schon prasselten Eghilds zornige Hiebe auf sie nieder. Die Zuschauer klatschten, immer mehr feuerten Eghild an. Sie schlagen sich auf die Seite der Siegerin, dachte Aelia. Leb wohl, Nacht.

Ihr Kopf war eine heiße Kugel, in der es im Rhythmus ihres ­raschen Herzschlages pochte. Sie hörte die Zuschauer Eghild anfeuern, während sie selbst gejagt wurde wie ein Tier. Aelia zwang sich zur Ruhe und rief sich in Erinnerung, wie sie die andere immer besiegt hatte – im Faustkampf, als beide unbewaffnet waren.

Eghilds Schwert fuhr zischend durch die Luft, die scharfe Klinge schnitt in Aelias Oberarm. Aelia schrie auf. Ein Raunen durchwogte die Zuschauer. Jemand rief: »Weiter so!«, und viele begannen, rhythmisch auf den Boden zu stampfen und zu klatschen.

»Eghild! Eghild!«

Aelia fühlte, wie das warme Blut unter dem zerrissenen Stoff ihre Haut hinunterlief. Ein zweiter Hieb traf sie, diesmal an ihrem Schildarm. Das hat sie absichtlich gemacht, durchfuhr es Aelia. Sie will meine Deckung zerstören. Sie fragte sich, wie viele Hiebe sie noch aushalten könnte, bis sie die Kraft verlor.

»Eghild!«, zischte sie auf Fränkisch. »Töte mich schnell! Mach es kurz!«

In Eghilds vereister Miene bewegte sich etwas. Ein erstaunter Ausdruck flog darüber hin, sie hielt inne.

»Du sprichst Fränkisch? Das hast du mir nie gesagt!«

»Mein Vater war ein Franke.« Aelia schluckte, als müsste sie an ihren Worten ersticken. Ein erstauntes Gemurmel erhob sich, weil die Kämpferinnen plötzlich Worte in einer fremden Sprache miteinander wechselten. Eghild starrte Aelia unverwandt an. Schweiß glänzte auf ihrer weißen Stirn.

»Wo ist der Ring?«, spie sie hervor. »Sag mir, wo er ist, und ich lass’ dich leben.«

Schweigend umkreisten die beiden einander und ließen sich nicht aus den Augen.

Aelia überlegte. Konnte sie Eghild trauen? Nein, niemals. Sie würde sie töten, sobald sie wüsste, wo der Ring wäre. Man erwartete es von ihr.

»Ich habe ihn nicht!«

Ein paar Unmutspfiffe ertönten. Eghilds Miene erstarrte zu Eis.

»Du Lügnerin hast den Ring! Du hast ihn mir gestohlen!«

Sie hob ihr Schwert und ließ es durch die Luft zischen. Voller Wucht krachte es gegen Aelias Schild. Aelia merkte, wie ihr Arm müde wurde. Sie war es nicht gewohnt, mit einem schweren Schild zu kämpfen. Kein Gedanke wollte zu ihr kommen, kein Einfall, was sie noch tun könnte, um Eghild zu besiegen. Ihr Hirn stand still, ihre Sinne waren vollkommen damit beschäftigt, auf die nächste Regung ihrer Gegnerin zu achten. Eghild bestimmte den Kampf, und sie war entschlossen zum Sieg. Immer häufiger krachte ihr Schwert gegen Aelias Schild, lauerte sie auf eine offene Stelle in Aelias Deckung. Und sie bekam ihre Chance. Aelia strauchelte über eine unebene Stelle im Fußboden, als sie einen Hieb parierte, und prallte mit dem Rücken gegen den Beckenrand. Ehe sie sich aufrappeln konnte, war Eghild schon bei ihr. Aelia sah die Schwertspitze auf ihren Hals zuschießen und drehte sich blitzschnell weg. Die Schwertspitze stieß so heftig gegen den Beckenrand, dass Funken stieben.

»Aaaaaah!«, riefen die Zuschauer, einige Frauen kreischten auf.

Aelias Blut kochte. Sie bemerkte Eghilds Erstaunen, sah, wie das Schwert einen Atemzug lang unschlüssig zuckte, als wollte es sich bei seiner Herrin beklagen, dass es sein Ziel verfehlt hatte, und ahnte bereits Eghilds nächste Bewegung.

Aelia schlug das Schwert ihrer Gegnerin mit dem Schild beiseite und sprang auf sie zu. Nun war sie ihr so nahe, dass Eghild das Schwert nicht mehr gegen sie richten konnte, und sie begriff, dass dies eine Chance war, ein Wink der Götter, ihre letzte Möglichkeit, Eghild zu töten, bevor sie selbst getötet wurde. Noch ehe Eghild ­etwas unternehmen konnte, um das Schwert gegen sie zu führen, noch ehe sie überhaupt begriff, was ihr geschah, führte Aelia einen punktgenauen, steinharten Faustschlag gegen Eghilds Schläfe.

Ohne einen Ton, still wie die schwindende Nacht, sank Eghild nieder und blieb reglos auf den Steinfliesen des Beckens liegen. Ihr Schwert klirrte neben ihr zu Boden.

Aelia, die damit rechnete, dass ihre Gegnerin sich jeden Augenblick erholte und wieder aufstand, nahm ihr das Schwert aus der schlaffen Hand, ehe sie keuchend mit auf Eghilds Hals gerichteter Schwertspitze stehen blieb.

Still war es im Badesaal. Niemand sagte etwas, keine Rufe ertönten, kein Beifall erklang. Alle starrten auf die reglose Gestalt im Becken hinunter, die sie als ihren Tag erkoren hatten und die doch besiegt worden war.

Endlich erklang aus einer Ecke ein Räuspern. »Verehrte Zuschauer!«, ließ sich die Stimme des Ausrufers vernehmen. »Der Tag hat die Nacht besiegt. Feiern wir den Sieg des Lichts über die Finsternis!«

Er hustete verlegen, offenbar hatte er nicht mit einem solchen Ausgang des Kampfes gerechnet und war entsprechend unvorbereitet. Im Publikum tat sich nichts. Niemand wollte in Aelia den aufgehenden Morgen erkennen. In die Stille hinein ertönte ein Rumpeln, als die Holztreppe herabgelassen wurde. Sarus eilte die Stufen ins Becken hinab. Rasch war er bei Eghild, beugte sich über sie, fühlte ihre Stirn, strich über ihre Wangen und – als Eghild sich nicht rührte – presste ein Ohr auf ihren Mund und horchte.

Das Publikum hielt den Atem an. Sarus hielt inne, während er sich die Kapuze seines Mantels abstreifte, um besser horchen zu können. Er lauschte lange an verschiedenen Stellen auf Eghilds Brust, klopfte ihre Wange, rief ihren Namen.

»Sie ist tot«, sagte er schließlich.

Aelia starrte ihn an. Das Wort hallte in ihrem Kopf, echote von den knöchernen Wänden wieder und wieder, bis sie es nicht mehr hören konnte. Tot. Eghild war tot. Sie hatte sie getötet.

»Ich wollte das nicht«, flüsterte sie.

Sarus erhob sich. »Wenn du es nicht getan hättest, hätte sie dich getötet.«

»Aber ich wollte sie nicht töten.«

»Die Götter haben ihren Tod bestimmt.«

Er wandte sich ab und kletterte die Holztreppe hinauf zum Beckenrand, wo die Zuschauer schweigend warteten. Aelia sah ihm nach, wie er in ihren Reihen verschwand. Irgendwo entdeckte sie Marcellus’ entsetztes Gesicht im Publikum. Keinen Blick mehr wagte Aelia auf die Tote zu werfen. Die Starre fiel von ihr ab, sie hastete die Treppe hinauf. Die Vornehmen wichen vor ihr zurück. In ihrer Mitte stand Dardanus und musterte sie ebenso wortlos wie sie ihn. Sie spürte den glatten Griff des Schwertes in ihrer Hand.

Wie leicht es war, einen Menschen zu töten! Wie schnell es ging!

Das Schwert würde ebenso leicht in die Brust des Händlers fahren und sein Herz durchbohren wie ihre Faust gegen Eghilds Stirn gekracht war.

Aelia zögerte. Fest umschlossen ihre Finger den Griff des Schwertes. Dardanus öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie wandte sich ab und lief durch die Menge hindurch, die vor ihr auseinanderstob, als sei sie ein giftiger Pfeil. Sie rannte durch das Frigidarium und durchquerte die Halle, durch die sie hereingekommen war. ­Mauern flogen an ihr vorbei, Wandbemalungen, Fackeln. Eine Zeitlang meinte sie, die Schritte der Soldaten hinter sich zu hören, aber da war niemand. Vor der Eingangstür gönnte sie sich einen Atemzug Verschnaufpause, dann riss sie die Tür auf. Kalte Nachtluft strömte herein.

Sie hatte Glück – der Wachsoldat stand nicht mehr vor der Tür, sondern war ein paar Schritte weiter weggegangen, um in Ruhe einen der Wagen zu betrachten. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand von den Gästen schon gehen wollte. Als er – aufgeschreckt durch das Geräusch der sich öffnenden Tür – aufsah und Aelia erblickte, rannte sie schon den Weg weiter in die andere Richtung.

Aelia hastete über den Schneematsch. Eine Weile noch hörte sie die Schritte des Soldaten hinter sich, bis sie endlich verklangen. Schließlich, als sie nichts mehr hörte außer dem leichten Rauschen des kühlen Windes, wurde ihr klar, dass sie niemand verfolgte. Sie war ­allein im verfallenen Stadtviertel. In der Ferne sah sie die Fackeln des südlichen Stadttores wie zwei Lichtpunkte leuchten, aber hier war es dunkel bis auf das schwache Licht der Sterne. Etwas weiter von der Straße entfernt sah sie die Mauer einer Hausruine aufragen. Dunkel klafften die leeren Fensterhöhlen wie Augen, deren Licht erloschen war.

Aelia hatte keine Angst mehr. Sie machte sich auch keine Gedanken darüber, was sie in der Ruine erwarten würde, als sie sie betrat, sie wollte nur Ruhe und ein Versteck. Die Tür war mit Brettern vernagelt und wieder aufgebrochen worden. Offenbar hatte jemand noch bis vor Kurzem hier gewohnt, wie Spuren eines Feuers zeigten. Es roch nach erkalteter Asche, nach Urin und Fäulnis, doch Aelia war das alles gleichgültig. Irgendwo fand sie eine alte, stinkende, von Motten zerfressene Decke und hängte sie sich um.

Sie kauerte sich in die Ecke eines kleinen Zimmers und starrte aus dem Fenster, in dem an der Seite ein Brett fehlte. Lange hockte sie so, unfähig, sich zu bewegen oder irgendetwas zu tun. Sie konnte nicht fassen, was sie gerade erlebt hatte. Dass man sie in einen Kampf auf Leben und Tod gezwungen hatte, ausgerechnet gegen Eghild, ihre Mitschülerin. Dass sie sie getötet hatte.

Sie sah die Türme der Stadtmauer, die sich dunkel vom Himmel abhoben, und dahinter, weit in der Ferne des östlichen Horizonts, das erste Licht des kommenden Tages.

Aelia, die Kämpferin

Подняться наверх