Читать книгу Aelia, die Kämpferin - Marion Johanning - Страница 9
Kapitel 5
ОглавлениеÜberleben im verfallenen Stadtviertel war schwierig. Zu trinken fand Aelia genug durch den Schnee, den sie in einem Tonbecher, den sie in der Ruine gefunden hatte, auftauen ließ. Aber sie konnte kein Feuer entzünden und wagte sich aus Angst vor den Soldaten nicht in die Stadt zurück.
Sie hatten sie gesucht; sie hörte ihre Hunde, die ihrem Versteck gefährlich nahe kamen, aber zum Glück begann es so stark zu regnen, dass sie die Suche abbrachen. Danach waren sie nicht mehr wiedergekommen.
Nachdem Aelia zwei Tage lang gehungert und gefroren hatte, kam der Zeitpunkt, an dem sie sich entscheiden musste, wohin sie gehen sollte, um zu überleben.
Nicht, dass sie unbedingt überleben wollte. Aber da sie den Kampf überlebt hatte und noch nicht erfroren war, ja nicht einmal krank, dachte sie, dass irgendein Gott vielleicht doch wollte, dass sie weiterlebte. Bald quälten sie Vorstellungen von warmen Mahlzeiten, Kleidern und heißen Bädern. Die Gerüche von gebratenem Fleisch, die der Wind manchmal von den Garküchen der Via Fori heranwehte, taten ihr Übriges.
Aelia erhob sich von ihrer Decke und sah durch das Fenster in den grauen Wintertag hinaus. Vor ihr dehnte sich Niemandsland mit den Überresten von Häusern im Schneematsch. Im Sommer ließ man hier Vieh grasen, und die Menschen ernteten Obst und Nüsse von Bäumen aus alten Gärten, aber jetzt im Winter war alles nur öde und leer.
Sie kannte diese Gegend aus ihrem früheren Leben, das sie für immer abgeschlossen geglaubt hatte, nachdem sie in Dardanus’ Haus gekommen war. Aber nun drängte es sich wieder in ihr Bewusstsein – sie war so allein, wie sie es schon einmal gewesen war. Sie war wieder hier, im Stadtteil der Verlorenen. Nirgends sonst konnte man besser sehen, wie sehr die Barbarenüberfälle diese einst blühende Stadt verwandelt hatten.
Manchmal, wenn der Wind von Westen kam, vom Fluss herauf, dann wehte er Stimmen heran und den Geruch nach deftigem Essen. Nichts Feines, Erlesenes, das wäre für diese Gegend auch nicht zu erwarten gewesen, sondern Suppen oder kräftige Eintöpfe.
Sie könnte in die Stadt gehen, zur Bischofskirche, und dort um eine warme Mahlzeit bitten, die ihr sicher gewährt werden würde, denn Bischof Leontius war ein mildtätiger Mann und die Heiligen Schwestern kümmerten sich um Alte und Kranke. Aber dann wäre die Gefahr sehr groß, dass sie jemand erkannte. Sie könnte auch die Stadt verlassen, aber wie sollte sie in der Wildnis überleben?
Müde verfolgte sie durch das Fenster den Wachwechsel am südlichen Stadttor, hörte die Stimmen der Soldaten von ferne zu ihr herüberklingen. Sie spürte ihren Leib nicht mehr, als sei er abgetrennt von ihrem Geist, aber auch ihr Geist arbeitete nicht mehr wirklich. Er bestand nur noch aus einer kleinen Flamme, die ihn erfüllte: Überlebenswillen.
Als der Wachwechsel vollzogen war, verließ Aelia die Ruine. Sie versteckte das Schwert und stapfte über hohes Gras und Mauerreste tiefer ins verfallene Viertel hinein, wo Schafe und Ziegen in Bretterverschlägen eingepfercht auf den Frühling warteten. Sie folgte dem Geruch nach Eintopf. An der tiefsten Stelle, dort, wo die Stadtmauer fast bis an den Fluss heranreichte, stand ein großes, aus rötlichem Stein erbautes Gebäude, das anders aussah als die üblichen Häuser.
Es war lang gestreckt, größer als ein normales Haus und als einziges in der Umgebung noch erhalten. Es besaß ein vollständiges Ziegeldach, eine einfache Holztür und Fensterluken, die mit Schweinsblasen bespannt waren. Ein gepflasterter Hof mit mehreren alten Brennöfen deutete darauf hin, dass es einst eine der zahlreichen Töpfereien des Viertels gewesen war. Nun gab es einen Hühnerstall auf dem Hof und einen Holzpferch mit mehreren Ziegen. Aus der angelehnten Tür drang der Geruch nach Fleischbrühe, der Aelia fast den Verstand raubte. Sie hielt eine Hand vor ihren schmerzenden Magen, während sie langsam die Tür öffnete. Sie kam in einen großen, hallenartigen Raum mit einer hohen Decke, in dessen Mitte ein Feuer brannte. Darum herum kauerten etwa fünfzig Menschen auf Schafsfellen. Eine Frau stand an einem großen Topf, der über dem Feuer hing, und verteilte Suppe in Holzschalen. Sie stockte, als sie Aelia bemerkte.
Langsam schlich Aelia durch die Halle. Ihr schwindelte, fast glaubte sie, fallen zu müssen, weil ihre Beine ihr den Dienst versagten. Ihre Zunge klebte trocken am Gaumen, ihr Herz pochte ungewöhnlich schnell, als wollte es seine besondere Stärke beweisen, und in ihrem Kopf klopfte es im gleichen Takt. Sie sah, wie die Menschen sie anstarrten, fühlte abschätzende Blicke auf ihrer Gestalt, ihrem haarlosen Kopf, ihrer Kleidung, die unter der mottenzerfressenen Decke hervorlugte. Es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, sie betrachtete ihrerseits die Menschen, als sie sich ihnen langsam näherte, und in einem Winkel ihres Hirns, das vom Hungern eine ungewöhnliche Klarheit bekommen hatte, erkannte sie die Gier hinter den Blicken, die Krankheit hinter einigen trüben Augen, die mütterliche Sorge um ein mageres Kind an der Brust, Neugierde und Angst.
»Was willst du hier?« Die junge Frau ließ ihre Kelle sinken.
Aelias Lippen formten das Wort, aber es verließ nicht mehr ihren Mund. Sie streckte die Hand aus, aber es war nicht viel mehr als eine schlaffe Bewegung. Gerade noch merkte sie, wie ein Vorhang vor ihre Augen gezogen wurde, als sie den Halt verlor und ins Nichts stürzte.
Als sie erwachte, dämmerte es bereits. Durch ein Fenster fiel trübes Licht auf einen festgestampften Lehmfußboden. Als ihr Blick sich lichtete, erkannte Aelia ein langes Leinentuch, das, über eine Schnur gehängt, die Ecke, in der sie lag, vom restlichen Raum trennte. Sie selbst lag auf einem Lager aus Schafsfell unter ihrer schmutzigen Decke. Darunter war sie nackt.
Erschreckt fuhr sie hoch, doch ein pochender Schmerz in ihrem Kopf zwang sie wieder zurück. Sie atmete tief. Eine benutzte Holzschale neben ihrem Lager und der Zustand ihres Magens deuteten darauf hin, dass man ihr etwas zu essen gegeben hatte. Ja, sie erinnerte sich, eine Frau hatte ihr etwas von der Fleischbrühe eingeflößt. Sie spürte, dass jemand in der Nähe war – ein Kleinkind krabbelte um sie herum. Es richtete sich mit wackligen Beinen auf und sah sie mit großen Augen an.
Aelia stöhnte. Das konnte nicht wahr sein! Man konnte sie nicht einfach ausgezogen und ihre Kleider gestohlen haben. Sie streckte die Beine aus, tastete mit den Zehenspitzen nach etwas, das sich wie ihr Gewand anfühlte, aber da war nur das Schafsfell.
Das Kind geriet ins Straucheln, kippte nach hinten und fiel auf sein Hinterteil. Es verzog sein Gesichtchen und begann zu weinen. Die Mutter erschien; jene Frau, die die Suppe verteilt hatte. Sie hob das Kind auf, wobei ihr Blick auf Aelia fiel.
»Oh, du bist wach! Ich rufe …«
»Nein!«, stieß Aelia heiser hervor. »Wo ist mein Gewand? Wer hat meine Schuhe gestohlen?«
Ihre kalten Fußsohlen streiften über das Schafsfell, auf dem sie lag.
Die junge Frau rührte sich nicht. »Niemand kann hier ohne Bezahlung etwas bekommen.«
»Ach ja? Mein Gewand reicht für mindestens drei Wochen fette Mahlzeiten für euch alle! Und meine Schuhe noch mal für eine! Sie brächten mindestens eine siliqua auf dem Markt!«
Nervös ließ die junge Mutter ihr Töchterchen auf ihrem Arm auf und ab wippen. »Ich habe dir zu essen gegeben. Du kannst froh sein, dass du noch lebst. Du warst fast verhungert.«
Aelia gab einen unwilligen Laut von sich.
In diesem Augenblick wurde der Vorhang beiseitegeschoben, und ein Mann erschien. Er war älter und kleiner als die junge Frau und hatte die gleichen Augen und dunklen Locken wie das Kind, nur dass sie bei ihm mit Silberfäden durchwirkt waren. Er trug eine saubere Wolltunika, die von einem breiten Ledergürtel gehalten wurde, über schlichten Beinkleidern. Das Kind krähte, als es ihn sah, und streckte die Ärmchen nach ihm aus. Lächelnd nahm er es auf seinen Arm.
»Willkommen in meinem Haus!«, begrüßte er Aelia. »Du hast es richtig gemacht, hierherzukommen, denn draußen kann niemand auch nur eine Woche überleben. Spätestens wenn die Soldaten ihre Hunde hier durchhetzen, ist es aus für Entflohene wie dich.«
Aelia schluckte. Sie hatte immer noch Durst.
»Wo sind meine Kleider?«
Der Mann überhörte ihre Frage. »Es hat seine Vorteile, sich dem guten Bassus anzuschließen! Er sorgt für seine Familie besser als der Bischof. Hier gibt es keinen Streit, sie haben alle zu essen und ein Dach über dem Kopf. Also, wer hat dir den Wink gegeben, hierherzukommen? Wer war’s?«
Aelia wusste nicht, was sie sagen sollte. »Niemand.«
Bassus trat einen Schritt nach vorn und schaukelte das Kind auf seinem Arm. Er lächelte.
»Nun, meine Liebe, ich bin kein junger Mann mehr, wie du siehst. Im Laufe der Jahre habe ich viel mitgemacht. Ich musste erleben, wie die Barbaren unser Stadtviertel niederbrannten, nachdem sie es geplündert hatten. Ich musste mit ansehen, wie unsere Stadt sich von einer schönen Frau in ein altes, geschändetes, widerwärtiges Weib verwandelte. Ich habe gesehen, wie ehrbare, gute Menschen starben und die anderen sich in gemeine Hunde verwandelten, um zu überleben. Diese Augen«, er deutete mit zwei Fingern auf sein Gesicht, »können mehr erkennen und tiefer sehen, als jedes junge Gänschen hier glaubt. Also: Wer hat dich zu uns geschickt?«
»Niemand. Es hat nach Suppe gerochen, und ich hatte Hunger.«
Der Mann starrte sie an. Sein Gesicht verzog sich, als wollte er fluchen, dann entschied er sich anders und stieß ein trockenes Lachen aus. »Du bist also einfach hierhergekommen und dachtest, beim Bassus riecht’s gut, da frage ich nach einer Suppe!«
Er lachte wieder. Das kleine Mädchen auf seinem Arm lachte mit und zupfte an seinen Haaren.
»Ich wusste nicht, dass ihr hier lebt. Der Hunger trieb mich.«
Bassus wurde wieder ernst. Er zog das Ärmchen des Kindes aus seinen Haaren und trat einen Schritt heran. »Warum glaubst du, dass man hier ungefragt hereinspazieren darf?«
Aelia presste sich tiefer in die Decke. Etwas an dem Mann gefiel ihr nicht. »Deine Mildtätigkeit oder auch … Großzügigkeit. Nenn es, wie du willst. Keiner, der ein Herz hat, schlägt einer Hungernden einen Napf Suppe ab.«
Bassus grinste, in seinen Augen lag ein boshaftes Glitzern.
»Ah, du bist noch jung und gutgläubig. Du kennst die Verderbtheit der Menschen noch nicht. Nun, du hast Glück, bei uns zu sein. Wir haben ein Herz und geben dir Suppe. Wenn du Glück hast, bekommst du noch mehr davon.«
Er stupste das Kind am Näschen. »Aber du sollst wissen – Iulia oder Livia oder wie immer dich dein Herr genannt hat, dem du entflohen bist –, ich werde dich Iulia nennen. Du sollst wissen, Iulia, dass hier nichts umsonst ist.«
Aelia dachte, dass sie alles tun würde, wenn er ihr nur zu essen und ihre Kleider wiedergeben würde. Später, wenn sie satt genug wäre, würde sie darüber nachdenken, wie sie hier wegkommen könnte.
»Ich mache, was du willst«, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme fest genug klang, »wenn du mir nur meine Kleider wiedergibst.«
Doch Bassus hatte andere Vorstellungen von dem, wie sie auszusehen hatte. Auf seinen Wink hin gab die junge Mutter ihr eine dünne Tunika.
»Du musst dir deine Kleider erst verdienen«, sagte er, schob den Vorhang beiseite und verschwand. Aelia konnte noch hören, wie er mit der Kleinen scherzte.
Nur mit der Tunika bekleidet, war Aelia gezwungen, auf ihrem Lager unter der Decke zu bleiben. Dort blieb sie auch den nächsten Tag. Die junge Mutter kam und gab ihr eine dünne Suppe zu essen sowie einen Krug Wasser, was gerade reichte, um sie am Leben zu erhalten.
Aelia kauerte unter der Decke und fragte sich, was Bassus mit ihrer Kleidung getan hatte, ob er ihr wohl neue gab und was sie dafür tun musste. Schließlich fiel ihr der Ring wieder ein, den sie unter ihren Leinenbinden getragen hatte, und sie fluchte in sich hinein. Wer weiß, wie viel Geld er damit verdient hatte! Es wäre das Geld gewesen, das sie so nötig für ihre Flucht gebraucht hätte! Wie dumm war es von ihr gewesen, ausgerechnet dieses Haus auszuwählen!
Mit der Zeit bekam sie mit, was hier geschah. Die Männer und Frauen, die zu Bassus’ »Familie« gehörten und hinter dem Vorhang schliefen, gingen in aller Frühe fort und kehrten erst bei Einbruch der Nacht mit Beuteln voller Münzen wieder zurück, die Bassus geräuschvoll zählte. Wer nicht genug dabeihatte, den schlug er oder ließ ihn auf dem Hof bei den Ziegen schlafen.
Aelia wurde klar, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als einem von ihnen die Kleider zu stehlen. Sie wusste nicht wohin, aber hierbleiben konnte sie auf keinen Fall, wenn sie nicht zur »Familie« gehören wollte.
Am nächsten Abend blieb sie so lange wach, bis sie sich sicher war, dass alle eingeschlafen waren. Dann erhob sie sich, hängte sich die Decke um und schlich sich barfuß zu den Schlafenden. Im matten Schein des verglimmenden Feuers suchte sie die Reihen ab. Was sie trugen, waren nicht mehr als Lumpen – Bettlergewänder, schmutzig und zerrissen. Die Familien lagen fest aneinander geschmiegt unter Wolldecken – Mütter und Väter mit ihren dünnen Kindern, manchmal auch Großmütter. Sie hatten, nachdem sie vom Betteln und Stehlen zurückgekehrt waren, von Bassus’ Frau ein karges Mahl bekommen und waren nicht lange danach eingeschlafen. Aelia seufzte, als sie auf die armseligen Gestalten hinuntersah.
Ihr Blick blieb an einem schlafenden Mädchen mit einem haarlosen Kopf hängen. Sie lag nahe am Feuer und hatte die Wolldecke bis über die Schultern gezogen.
Aelias Herz tat einen Satz. Vorsichtig schlich sie sich an die Schlafende heran. Im schwachen Licht erkannte sie ein Tuch vor den Augen des Mädchens. Sie ließ sich auf die Knie fallen, strich über den Kopf der Schlafenden, spürte den sanften Flaum nachwachsender Haare.
»Verina!«
Die andere schreckte auf. Ihre Hände fuhren abwehrend hoch, trafen auf Aelia. Dann, nachdem sie sich beruhigt hatte, fasste sie nach Aelias Hemd und tastete, als sie nichts fand, die Haut der anderen hinauf bis zum Kopf, und ein Lächeln des Erkennens überzog ihr Gesicht.
»Aelia!«
Aelia nahm Verinas Hände in ihre. Sie wollte etwas sagen, aber Verina legte einen Zeigefinger auf ihren Mund und schüttelte den Kopf. »Wo sind deine Kleider?«
»Bassus hat mir alles gestohlen. Er hält mich nackt gefangen.«
Verina nickte. »Das macht er bei allen. Er verkauft alles, was sie haben und die Gewänder, damit niemand fliehen kann. Wenn die Leute hungrig genug sind, schickt er sie in alten Lumpen betteln.«
»Was ist mit deinen Augen?«
Verina schüttelte den Kopf und schwieg. Aelia hielt ihre Hand umklammert. In der Nähe drehte sich jemand im Schlaf und murmelte etwas.
»Wir müssen hier weg«, flüsterte Aelia. »Lass uns fliehen!«
»Wie denn ohne dein Kleid? Wo sollen wir hin? Wir werden keine Woche überleben können!«
»Weißt du, wo Bassus die Lumpen aufbewahrt?«
Verina überlegte eine Weile. »Ich glaube, in seiner eigenen Kammer. Da muss die Truhe sein.«
»Gut, ich versuche, ein paar Lumpen zu stehlen. Dann hole ich dich.«
»Sei vorsichtig!« Verina drückte ihre Hand, ehe Aelia sich fortschlich.
Freude über das Wiedersehen erfasste sie. Verina lebte! Sie waren wieder zusammen. Dieser Gedanke gab Aelia Kraft und neue Zuversicht. Gemeinsam würde alles viel besser sein. Sie würden sich durchschlagen, auch im Winter, notfalls würden sie sogar zur Bischofskirche gehen, wenn die Freundin es wollte.
Aelia schlich sich vorsichtig zur Kammer, wo Bassus mit seiner Familie schlief. Dass der Lehmfußboden eiskalt war und sie halbnackt, störte sie nicht. Sie drückte vorsichtig die Klinke herunter, aber die Tür blieb zu. Natürlich hatte er sie abgeschlossen. Erschreckt horchte Aelia, ob jemand sie gehört hatte. Von jenseits der Tür erklang leises Schnarchen.
Erleichtert atmete sie auf. Nun musste sie ihren ursprünglichen Plan ausführen und jemandem die Gewänder stehlen. Sie schlich sich zurück zu den Schlafenden. Alles in ihr sträubte sich dagegen, jemanden im Schlaf zu überwältigen, aber sie musste es tun, wenn sie etwas zum Anziehen haben wollte. Sie musste eine Frau aussuchen, deren Kleider ihr passten, aber keine Mutter und kein Kind. Ihr Blick fiel auf ein Mädchen, das etwa dieselbe Größe hatte wie sie. Sie zögerte, als sie sie friedlich auf dem Boden schlafen sah.
Meine Güte, dachte sie. Meine Güte.
Sie holte aus. Ihre Faust traf das Mädchen an der Stirn, jedoch nicht zu heftig und auch nicht an jener empfindlichen Stelle, die sie bei Eghild erwischt hatte. Aelia seufzte, als sie daran dachte, schob den Gedanken aber fort. Voller Angst sah sie sich um, dann ließ sie den Kopf des Mädchens auf das Lager sinken. Es sah so aus, als ob sie schliefe.
Aelia schlug die Decke zurück. Die Bewusstlose trug eine Tunika und zum Glück Stiefel. Aelia löste den Stoffgürtel, die billige eiserne Gewandspange und zog dem Mädchen die Tunika aus. Das kostete sie einige Mühe. Sie musste sich beeilen. Rasch schlüpfte sie in die Gewänder, in die noch warmen Stiefel. Sie tastete neben dem Lager nach einem Mantel und fand einen groben Wollumhang, den sie sich rasch umhängte. Er roch muffig und nach allen möglichen Körperflüssigkeiten, aber wenigstens wärmte er.
Aelia warf einen Blick auf die Ohnmächtige, die nackt auf ihrem Lager lag, und bedeckte sie mit ihrer Wolldecke. Leise huschte sie zu Verina zurück, die inzwischen aufgestanden war und suchend nach ihr tastete. Sie nahm ihre Hand, hängte ihr den Mantel um und führte sie zwischen den Reihen der Schlafenden hindurch fort.
Sie mussten jedoch feststellen, dass die Eingangstür verschlossen war. Die Luken waren groß genug, sie durchzulassen, aber sie lagen zu hoch in den Wänden.
»Du musst mir hochhelfen«, flüsterte Aelia.
Wortlos bückte sich Verina und half ihr, die Fensterlaibung zu erklimmen. Die Mauern waren so dick, dass man ohne Weiteres auf den Laibungen sitzen konnte. Als Aelia oben war, fasste sie nach Verina, aber die Freundin zögerte.
»Wenn sie draußen die Hunde auf uns hetzen? Die Soldaten des Präfekten machen jede Nacht Kontrollgänge!« Zaghaft klang Verinas Stimme aus dem Dunkel.
»Ich kenne ein Versteck, da finden sie uns nicht!«
Doch Verina hörte nicht zu. »Vor ein paar Tagen haben sie eine von Bassusʼ Frauen verhaftet«, flüsterte sie. »Sie hatte kein Zeichen auf dem Arm, weil Bassus es ihr noch nicht gegeben hatte. Wenn du sein Zeichen hast, lassen sie dich in Ruhe. Aber ich habe noch kein Zeichen von ihm, Aelia.«
»Ich auch nicht.« Aelia hatte Mühe, ihre Stimme zu dämpfen. »Wir gehören niemandem. Oder hat Dardanus dich etwa an Bassus verkauft?«
Verina schüttelte ihren Kopf. Schlimm sah sie aus mit ihrem Verband um die Augen. Aelia fühlte Mitleid in sich aufsteigen.
In der Halle stöhnte jemand leise. Das Mädchen, fuhr es Aelia durch den Kopf. Sie streckte ihre Hände wieder nach der Freundin aus.
»Verina, bitte! Was soll ich ohne dich machen? Zu Dardanus kann ich nicht mehr zurück. Komm mit, ich helfe dir, das verspreche ich.«
»Du weißt nicht, was du da sagst. Ich bin blind, Aelia. Bassus hat mich geblendet.«
»Warum?«
»Für das Betteln. Die Leute haben mehr Mitleid mit Blinden.«
Aelia war, als müsste sie jeden Augenblick von der Fensterlaibung fallen. Ihre Hand griff nach Verina, aber die Freundin wich zurück.
»Verina, dieser Kerl ist ein Verbrecher! Du musst hier weg. Oder willst du dein Leben lang für ihn betteln?«
»Was soll ich denn sonst machen?«
Sie hielten inne, als sich jemand in der Nähe räkelte. Aelia senkte ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Bitte komm mit, ich werde für dich sorgen. Notfalls bringe ich dich zur Bischofskirche, mir fällt schon etwas ein. Du musst nur mit mir gehen.«
Endlich trat Verina aus dem Dunkel und legte ihre Hände in Aelias.
Wenig später landeten sie draußen auf dem weichen Boden, und Aelia zog die Freundin mit sich fort. Die Nacht war klar und kalt. Kurz zuvor hatte es Neuschnee gegeben. Am Himmel leuchtete der volle Mond zwischen unzähligen Sternen und ließ den Schnee aufschimmern. Aelia war froh über die helle Winternacht, denn nirgends brannte eine Fackel, drang ein Lichtschein aus Fenstern, glühte ein heruntergebranntes Feuer. Aber sie mussten aufpassen, nicht über Mauerreste zu stolpern oder in Reste eines Kellers zu fallen, die der Schnee verdeckt hatte. So kamen sie nur langsam voran. Verina hatte nicht nur ihr Augenlicht verloren, sondern offenbar auch ihre Kräfte. Das Klettern aus dem Fenster hatte sie so angestrengt, dass sie Aelia bald bat, sich ein wenig ausruhen zu dürfen.
Aelia gefiel das nicht, denn sie waren noch nicht weit genug von der alten Töpferei entfernt. Jederzeit konnte Bassus erwachen und nach ihnen suchen. Es wäre ein Leichtes für ihn, ihre Spuren im Neuschnee zu verfolgen. Aber dann tat die Freundin ihr wieder leid. Wer wusste schon, was sie alles erlitten hatte in den letzten Wochen! Sie zog sie in einen Bretterverschlag, der im Sommer als Viehunterstand gedient hatte, wo sie sich auf einen Mauerrest kauerten. Verinas Hand war eiskalt.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Wir werden zur Kirche gehen und dort um Einlass bitten.«
»Jetzt, mitten in der Nacht?
»Wir können nichts anderes tun. Wenn die Soldaten kommen und uns hier finden, dann …«
»… stecken sie uns in die Verliese, und wir kommen nie wieder raus«, vollendete Verina den Satz. »Bassus hat uns immer gedroht, dass er uns aus dem Haus wirft, wenn wir nicht genug Geld heranschaffen. Seitdem die Soldaten nachts Wachgänge machen und jeden verhaften, der kein Obdach hat, konnte er uns gut damit drohen. Wo soll man auch hin? Der Bischof kann nicht alle Armen der Stadt aufnehmen! Glaubst du, er nimmt uns auf?«
Ihre Stimme klang so verängstigt, dass Aelia den Arm um sie legte.
»Sie werden uns bestimmt einlassen«, sagte sie und versuchte, so viel Zuversicht wie möglich in ihre Stimme zu legen. »Wir dürfen uns nur nicht von den Soldaten erwischen lassen.«
Sie presste die Lippen fest zusammen, damit ihr nichts von ihrer Befürchtung entglitt – nämlich, dass man sie wieder zu Dardanus zurückschicken könnte. Sie sah über das schneebedeckte Ruinenfeld zur Via Valentinian hinüber, wo sich die mächtigen Umrisse der alten Thermen vor dem Mondlicht abzeichneten, und ein kalter Schauer überlief ihren Rücken.
»Wir müssen weiter!«, drängte sie und erhob sich, doch Verina umklammerte ihre Hand und hielt sie zurück. »Warst du auch in den Thermen?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Aelia setzte sich zu ihr auf den Stein zurück. »Ja, ich war da.« Sie versuchte, das Bild des erleuchteten Badesaals zurückzudrängen, das von ihr Besitz ergreifen wollte.
»In einem Kampf auf Leben und Tod?«
Aelia nickte. Ihre Hand presste die von Verina, als die Erinnerungen sie überwältigten.
»Aber du bist doch nicht verletzt worden …?«
Aelia lächelte matt. »Nein, ich habe gewonnen. Dann bin ich geflohen.«
»Du bist freiwillig zu Bassus gekommen?«
»Ich wusste nicht, wer er ist. Ich hatte Hunger, und zurück konnte ich nicht mehr.«
»Warum bist du nicht sofort zur Kirche gegangen?«
»Ich weiß es nicht.« Aelia seufzte leise und starrte auf die Spuren, die sich vor ihnen im glitzernden Schnee abzeichneten. »Dardanus hat Eghild an Marcellus verkauft und mich in den Thermen gegen sie kämpfen lassen. Sie gaben ihr ein Schwert und mir ein Messer und einen Schild.«
»Gegen Eghild?! Heiliger Herr Jesus!«
Verina bekreuzigte sich.
»Wie ich schon immer vermutet hatte, war sie eine ausgezeichnete Schwertkämpferin. Ich … habe sie trotzdem …«
»Du hast sie getötet.«
Es war eine nüchterne Feststellung, und sie klang umso merkwürdiger aus Verinas Mund, weil Verina nicht der Mensch für nüchterne Feststellungen war. »Gott möge sich ihrer Seele erbarmen«, seufzte sie und bekreuzigte sich wieder. Eine Weile schwiegen beide und starrten auf den glitzernden Schnee.
»Meine Gegnerin war zu stark«, fuhr Verina leise fort. »Das Publikum stand auf ihrer Seite. Sie hat mich so niedergeschlagen, dass ich das Bewusstsein verlor. Wahrscheinlich haben sie mich dann begnadigt, denn als ich wieder aufwachte, war ich schon bei Bassus.«
Sie lachte bitter auf.
»Das muss aufhören!«, sagte Aelia leise. »Wir müssen zum Bischof gehen und ihm sagen, dass sie heimlich Kämpfe auf Leben und Tod veranstalten. Er ist ein christlicher Mensch, er wird uns anhören.«
Sie war zwar nicht davon überzeugt, dass der Bischof ihnen glauben würde, aber bei ihm müssten sie am wenigsten befürchten, dass er sie zu Dardanus zurückschicken würde.
Im Dunkeln konnte sie sehen, wie Verina den Kopf hob. »Du hast recht. Der Bischof wird uns bestimmt helfen.«
Von irgendwoher hörten sie ein Geräusch. Aelia fuhr auf, lauschte in die kalte Winternacht hinein, hörte aber nichts. Vielleicht war es ein Tier gewesen, ein Nachtvogel oder eine Katze.
»Wir müssen weiter.« Sie spähte in die Dunkelheit. Als sie niemanden sah, half sie Verina hoch und führte die Freundin weiter durch das verfallene Viertel. Da Verina Schwierigkeiten hatte, auf dem unebenen Gelände zu gehen, führte Aelia sie durch eine kleine Seitenstraße bis zur Via Fori. Still lag die Straße in der Dunkelheit, während Spuren von Rädern und Schuhen im Schnee vom geschäftigen Treiben zeugten, das tagsüber hier herrschte.
»Hast du Geld?«, fragte Verina zaghaft.
»Nein.« Aelia fiel wieder ein, dass Bassus ihr Eghilds Ring gestohlen hatte. Dieser Hurensohn! Erde über ihn! Möge er an einer langen qualvollen Krankheit zugrunde gehen! Ihre Wut hielt sie so gefangen, dass sie die Schritte erst hörte, als Verina sich umwandte.
Zwei Soldaten folgten ihnen. Aelia fasste Verinas Hand fester und beschleunigte ihre Schritte. Sie waren nahe der Via Fori, dort, wo das verfallene Viertel endete und das belebte Herz der Stadt begann. Ein Stück weiter entfernt lag ein Haus mit einem schützenden Säulengang, aber sie konnten es nicht mehr bis dorthin schaffen, ohne von den Soldaten bemerkt zu werden.
Verinas Hand verkrampfte sich in ihrer. »Wer ist das?«
»Soldaten.«
Verina fuhr zusammen.
»Nur ruhig weitergehen, dann tun sie uns nichts«, presste Aelia zwischen ihren Zähnen hervor. Aber ihre Hoffnung war vergeblich. Die Soldaten kamen rasch näher, während der Schnee unter ihren Stiefeln knirschte. Sie trugen Kettenhemden unter ihren Mänteln, lange Beinlinge, Stiefel.
»Stehen bleiben!«, befahl einer von ihnen, ein junger, kräftiger Mann mit kurz geschorenen Haaren. Neugierig flog sein Blick über sie hinweg und blieb an Verinas Augenbinde hängen. »Wo wollt ihr hin?«
Aelia versuchte, ihre Angst niederzukämpfen. Sie konnte mit Verina unmöglich fliehen, zusammen wären sie viel zu langsam. Allein würde sie gegen zwei bewaffnete Männer nicht ankommen. Sie musste mit ihnen reden.
»Zum Bischof.«
»Zum Bischof? Mitten in der Nacht? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«
»Doch, ist es. Wir haben Hunger und uns ist kalt. In der Kirche bekommen wir Obdach, hat man uns gesagt.«
Die beiden Soldaten wechselten Blicke. »Nehmt eure Kapuzen ab!«, befahl der Kurzgeschorene.
Im Licht des Vollmondes betrachtete Aelia die Soldaten genauer. Das Erkennen durchfuhr sie wie ein Schlag: Es waren jene Soldaten, die am Abend ihres Kampfes in den Thermen Wache gehalten hatten. Sie würden sie an ihren haarlosen Köpfen sofort erkennen.
Aelia hob ihren Arm und hieb dem Soldaten heftig ihre Faust ins Gesicht. Er taumelte und prallte gegen den anderen. Dann zog sie Verina mit sich fort. Gemeinsam rannten sie die Via Fori hinunter zum Forum. Aber sie waren nicht schnell genug. Schon bald hörten sie Schritte hinter sich im Schnee. Die Männer zogen ihre Schwerter. Aelia stellte sich vor Verina und ballte ihre Fäuste. Der Kurzgeschorene starrte sie wütend an. »Ergib dich, Kämpferin des Dardanus!«
Aelia zögerte. Ihre Kapuze war während der Flucht heruntergerutscht, und sie spürte einen kühlen Luftzug auf der Haut. Sie starrte auf das Schwert hinunter, das vor ihrer Brust aufblitzte. Vielleicht wäre es besser, jetzt einen schnellen Tod zu sterben. Alles wäre besser, als wieder zu Dardanus zurückzumüssen. Da fühlte sie Verinas Hand auf ihrer Schulter. »Aelia, bitte!«
Sie atmete tief die kalte Nachtluft ein. Langsam hob sie ihre Hand zum Zeichen, dass sie sich ergab.