Читать книгу Circles of Fate (1). Schicksalsfluch - Marion Meister - Страница 6

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Die Herbstsonne hatte zahlreiche Londoner aus ihren Häusern gekitzelt. Sie ließen sich durch den Tag treiben, schlenderten an den Geschäften und Cafés entlang und bestaunten die Darbietungen der Straßenkünstler, die wie jeden Tag in Covent Garden ihre Show abzogen.

Rukar beschleunigte seine Schritte. An Tagen wie diesen, wenn er für seinen Ziehvater durch den Dreck gekrochen war, konnte er den fröhlichen Trubel der Menschen nicht ausstehen. Immer wieder musste er Pärchen ausweichen, die tuschelnd und kichernd Arm in Arm flanierten. Oder Müttern mit ihren Kindern, lachend, Süßigkeiten in der Hand, starrten sie das Wunder eines in der Luft sitzenden Mannes an. Alle waren glücklich, fröhlich – mit ihren Liebsten, Freunden, Familie.

Mit gesenktem Kopf, den Blick starr auf die Spitzen seiner Stiefel gerichtet, pflügte er durch die Flanierenden. Er hätte den Weg über die Dächer nehmen sollen. Doch nun war es zu spät.

Kaum hatte er Seven Dials erreicht, bog er ab und stand vor dem niedrigen Tunnelgang. Das braune Päckchen unter seinem Arm wand sich. Es war jedoch fest verschnürt. Noch immer klebte die dunkle, schwere Friedhofserde an seinen Fingernägeln. Selbst in den feinen Ziselierungen der Messingknöpfe an seiner Jacke haftete Dreck.

Mit einem kurzen Blick über die Schulter prüfte er, ob einer dieser blöden Touristen hinter ihm stand. An so manchem Wochenende musste er fast eine Stunde warten, bevor er die Gasse betreten konnte. Entweder war der Andrang der Touris, die durch diese hippe Gasse schlendern wollten, so dicht, dass er einige von ihnen unweigerlich mitgenommen hätte, oder die Selfiejunkies fanden kein Ende mit ihren Aufnahmen. Ein Foto oder gar Video eines jungen Mannes, der unsichtbar wurde, nun … keine gute Idee.

Auch wenn Rukar vieles an der Welt der Menschen nervte, im Grunde wusste er, dass er neidisch war. Flanieren mit Freunden, Lachen mit der Familie … sogar Gruppenselfies machen. Zu gerne wäre er Teil ihrer Welt gewesen. Aber er war allein. Sein Platz war zwischen den Welten. Mittlerweile hatte er es akzeptiert und seine Schwäche zu seiner Stärke gemacht.

Er seufzte, als sich eine Gruppe Studenten näherte. Prompt blieben sie hinter ihm stehen und posten für ein Foto.

Das Paket zappelte und er verstärkte den Griff, während die Gruppe die Fotos begutachtete und noch eine Runde knipste. Ungeduldig beobachtete er sie. Hoffentlich bemerkten sie ihn nicht und fragten womöglich noch, ob er ein Foto von ihnen allen machen könne.

Er wandte sich dem kleinen Kami-Schrein zu, der in eine Mauernische eingelassen war. Eine halbrunde Vertiefung, in die, ebenfalls aus Stein, die Fassade eines Tempels eingepasst war. Blumen waren auf dem schmalen Sims vor dem Relief abgelegt. Rukar senkte den Kopf und tat, als sei er in ein Gebet vertieft. Dabei spähte er zur Studentengruppe, die anscheinend gar nicht genug Erinnerungsfotos knipsen konnte.

Das Päckchen krümmte sich erneut und Rukar seufzte. Beeilt euch!, dachte er.

Aber manchmal war einem das Schicksal auch gnädig. Denn aus heiterem Himmel – und er war wirklich wolkenlos gewesen – ging ein heftiger Regen nieder.

Quiekend und kreischend stob die Gruppe in den Durchgang.

Bitte nicht stehen bleiben! Sucht in einem Café Schutz!

Sie waren so nett.

Eilig flüchteten sie in den kleinen Hof hinter dem Durchgang und verschwanden in einem stylishen Laden.

Noch einmal sah Rukar sich um. Niemand da. Der Regen hatte sie von der Straße gespült. Nur ein paar Londoner unter ihren Regenschirmen folgten stoisch ihrem Weg durch den Platzregen.

Endlich konnte er zu Wook.

Seine Hände fanden die Mauersteine im Tunneleingang von selbst. Seit Rukar laufen konnte, ging er zwischen der Welt der Kami und der der Menschen ein und aus. Er tippte eins, zwei, drei, hoch, hoch, runter, vor. Die Backsteine der Tunnelwand vibrierten nur leicht unter seiner Berührung. Die Luft im Durchgang vor ihm teilte sich, als öffne sich ein Vorhang.

Die Welt der Kami, ebenso die der Unsterblichen und Weberinnen, waren nur durch einen dünnen Schleier von der Menschenwelt getrennt. Sie existierten nebeneinander am selben Ort und doch auf verschiedenen Ebenen. Wenn man wusste, wie man die Schleier öffnete, konnte man zwischen den Welten ganz einfach wechseln.

Die Menschen hatten jedoch keine Ahnung, dass es diese anderen Ebenen gab. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, dass gleich neben ihren hippen Läden hier in Neal’s Yard eine andere, für sie unsichtbare Welt existierte: das Kami-Viertel.

All die handgeletterten Schilder der Cafés, die fröhlich bunten Fassaden, die Sitzbänke zwischen Blumentrögen – all das wurde unscharf und tauchte unter, als versänke es unter Wasser. Stattdessen hob sich Rukars Zuhause empor. Im strömenden Regen wirkte die Siedlung der Kami noch trostloser als sonst. Hier schien die Zeit wie stehen geblieben. Der enge Hinterhof mit den von Ruß geschwärzten Fassaden hatte sich in den letzten hundertfünfzig Jahren nicht verändert. An diese Häuser hatte niemand frische Farbe angebracht, neue Fenster oder gar Heizungen eingebaut. Die Kami liebten zwar die Dinge der Menschen, doch Arbeit in ihre Behausungen zu stecken, war ihnen fremd.

Wäscheleinen spannten sich quer über den verwinkelten Hof und ließen ihn noch schmaler erscheinen, als er tatsächlich war. Um mehr Platz in den viel zu engen Wohnungen zu gewinnen, hatten manche vor ihren Fenstern hölzerne Minibalkone angebracht. Es roch nach saurem Sud und beißender Schärfe.

Plastikplanen waren hastig über Auslagen geworfen worden, um sie vor der Regenflut zu schützen. Auf Teppichen und Kisten boten Händler vor ihren Häusern Waren aller Art an: Altes, Neues, Lebensmittel, Haushaltswaren, Andenken aus der jenseitigen Welt, Plastiktand aus der Menschenwelt.

Rukar sprintete durch den Regen. Vorbei am Pub, aus dem Stimmengewirr und quäkende Musik drang. Vorbei an den unzähligen Vogelkäfigen jedweder Art und Größe, die die Fassade von Jonguks Laden zierten. Hinein in Wooks Krämerladen, dessen Eingang im schmalsten Teil der Gasse lag und dessen Räume so niedrig waren, dass Rukar sich ducken musste, seit er mit dreizehn in die Länge geschossen war.

»Ich bin zurück«, rief er in den düsteren Verkaufsraum und schloss die Tür hinter sich. Das Bronzeglöckchen darüber bimmelte alarmierend.

Draußen stand die Luft noch immer unter Wasser, doch hier drin, in Meister Wooks Zutatengeschäft, herrschte eine regelrechte Abwesenheit von Wasser. Jegliche Zutat, die Wook seinen Kunden anbot, war getrocknet, dehydriert, mumifiziert oder zu Staub zermahlen.

Rukar duckte sich unter einer Reihe von Kräutern hindurch, die von der Decke hingen ebenso wie Krähenfüße, Entenschnäbel, Hasenpfoten, Bärentatzen, Biberschwänze und Mauseohren.

Seine abgewetzten Lederstiefel hinterließen nasse Abdrücke auf den geschwärzten Dielen. Von seiner altmodischen Marinejacke tropfte ebenfalls Wasser herab.

»Bei allen guten Zutaten!« Der Perlenvorhang, der den Verkaufsraum von Wooks Büro trennte, klapperte, als der kleine runde Mann hindurchwuselte. Wie immer war er herausgeputzt wie zu einem Staatsempfang. Sein schütteres Haar klebte an seinem seltsam oval geformten Schädel und seine winzigen Augen musterten Rukar wütend. »Rukar! Wasser!« Wooks Stimme kiekste vor Entsetzen. Auf seiner gräulichen Haut ploppten lila Flecken auf.

»Ja, Wook. Regen!«, äffte Rukar den Tonfall des Kamis nach. »In London!«

Wooks Miene verfinsterte sich noch mehr. Rukar kannte kein anderes Wesen, das so viele unterschiedliche Gesichtsausdrücke für Missbilligung beherrschte wie Wook.

»Es steht dir nicht zu, dich über mich lustig zu machen! Du weißt, welch verheerende Wirkung Wasser auf mein Geschäft hat! Und für meine Kunden –«

»Jaja … nur das Beste blablabla.« Rukar zog das Paket unter seiner Jacke hervor und warf es Wook zu, der es ungeschickt auffing. »Spar dir die Mühe, Danke zu sagen. Es macht unglaublichen Spaß, sich durch Friedhofserde zu graben. Ich mach das wirklich gerne.«

Natürlich grunzte Wook kein Danke. Er dachte sicherlich nicht mal eines. Ohne Rukar eines weiteren Blicks zu würdigen, öffnete der Kami gierig das Paket. Kaum war es offen, kroch einer der Friedhofswürmer heraus. Sein blasser Körper leuchtete in der Düsternis des Ladens. Umständlich versuchte Wook, ihn wieder zurückzustopfen, hielt das Päckchen dabei aber so tölpelhaft, dass ein weiterer Wurm herausfiel – direkt in den ausladenden Ärmel seines schwarzen, mit Goldfäden bestickten Kimonos.

Rukar verkniff sich ein Grinsen. Wook hielt sich für den gerissensten und somit reichsten, wichtigsten und erfolgreichsten Geschäftsmann im Viertel. Was nicht der Wahrheit entsprach. Vielmehr war er der Starrköpfigste, Ungeschickteste und Wankelmütigste unter den Kami. Dass er weder bei der letzten noch bei der vorletzten Wahl zum Sprecher der Kami gewählt worden war, hatte Wook nicht verwunden. Allerdings hatte er den Schuldigen für sein wiederholtes Scheitern ausgemacht: Rukar.

Rukar. Kein Kami. Kein Unsterblicher. Kein Mensch. Ein Fremder. Ein Halbblut. Einer, der hier nur widerwillig geduldet war. Weil Wook diesem Bastard Unterschlupf gewähren musste, vertrauten die Kami ihm nicht. Es war demnach Rukars Schuld, dass Wook nicht das Amt innehatte, das ihm seiner Meinung nach zustand.

Dabei bemühte sich Rukar seit Kindestagen, ein Teil der Kami-Gemeinschaft zu werden, doch sie wollten ihn nicht akzeptieren. Egal, was er für sie tat. Zu groß war ihr Misstrauen gegenüber einem Halbblut.

Wook hatte bemerkt, dass ein Wurm in den Ärmel seines Kimonos entkommen war, und hüpfte einbeinig im Kreis, schüttelte den Ärmel, begleitet von saftigen Flüchen. Seufzend trat Rukar an Wook heran, hielt den Kami fest, der ihm gerade mal bis zur Brust reichte, und schnappte sich mit einem flinken Griff in den Ärmel den flüchtenden Friedhofswurm. »Am besten, du frittierst sie sofort.« Er stopfte den Wurm zurück in das Paket und verschloss es wieder.

»Sag mir nicht, wie ich mit meiner Ware zu verfahren habe!« Ruppig wich Wook von Rukar zurück.

»Alles gut.« Abwehrend hob Rukar die Hände.

»Geh auf dein Zimmer. Aber häng deine Sachen nach draußen! Sie sind nass.« Wook drehte ihm den Rücken zu und tippelte mit den Würmern zurück in sein Büro.

»Es regnet, du –«, murmelte Rukar und schritt mit gesenktem Kopf, um nicht an eine gedörrte Fledermaus oder Oktopustentakel zu stoßen, in Richtung Lagerraum.

Hinter der aus minderwertigem Holz zusammengenagelten Tür befand sich Wooks Lager. Es war nicht nur extrem geräumig, vor allem war es gute drei Meter hoch. Endlose Reihen deckenhoher Holzregale, gefüllt mit Tiegeln, Dosen, Flaschen, Flakons, Bündeln und Paketen, in denen sich so gut wie jede Zutat, die man sich wünschen konnte, für so gut wie jeden Ritus, Zauber, Aberglauben, Kult, Fluch oder zur bloßen Heimdeko befand.

Im fünften Regal, letzte Reihe, bei dem einzigen Fenster, das dieser Raum zu bieten hatte, wohnte Rukar.

Als er, wortwörtlich, noch klein war, hatte das untere Fach ausgereicht, um dem Findeljungen ein Bett zu sein. Inzwischen beanspruchte Rukar das gesamte Regal für sich. Die untersten Fächer hatte er ausgebaut, um auf seiner harten Schlafstatt wenigstens halbwegs sitzen zu können.

Obwohl die Jacke noch feucht war, schnappte er sich die Kleiderbürste und befreite sie von der dunklen Friedhofserde. Die Marinejacke hatte er sich von seinem ersten selbst verdienten Geld gekauft. Wook bezahlte ihn nicht für seine Dienste als Laufbursche und Zutatenjäger. Andere hingegen schätzten Rukars Geschick und sie zahlten gut.

Zufrieden betrachtete er die jetzt wieder sauber glänzenden Messingknöpfe. Da klopfte es an das schmale Fenster, das einen guten Meter über Rukar auf das Dach hinausführte.

Eine Taube saß davor und musterte Rukar mit schief gelegtem Kopf. Er schob einen Schemel an die Wand, öffnete und die Taube flatterte herein. Gurrend, mit ruckartigen Kopfbewegungen überbrachte sie ihre Nachricht.

Stirnrunzelnd hörte Rukar zu.

»Das ist ja mal eine Herausforderung.« Wieder gurrte die Taube und Rukar schnappte nach Luft. »Du hast dich verhört!«

Beleidigt drehte die Taube sich von ihm weg und beäugte die Erdkrümel am Boden.

»Das wäre der dreifache Tarif!« Damit wäre er schneller aus diesem Loch, als er gehofft hatte. Was gab es da zu überlegen? »Sag ihm, ich brauche das Doppelte an Spesen. Aber ich nehme den Job an.«

Die Taube plusterte sich kurz auf und flog dann durch das Fenster über die Dächer von London davon. Tauben waren der Nachrichtendienst der Unsterblichen. Zum einen weil sie sich unauffällig unter den Menschen bewegen konnten. Zum anderen hatten sie die Gabe, zwischen den Ebenen der Welten zu wechseln. Allerdings hatte Rukar hin und wieder den Eindruck, dass es den Tieren nicht guttat, ständig die Realitäten zu wechseln. Manche Vögel begannen, wirr mit dem Kopf zu rucken oder ohne Sinn im Kreis zu laufen.

Kurz sah Rukar der Taube nach. Das Fensterrechteck zeigte grauen Himmel. Es regnete noch immer.

Eine der obersten Regeln, die er sich selbst auferlegt hatte, war, bei einem Job nie nach dem Warum zu fragen. Er mischte sich nicht ein, schlug sich auf keine Seite. Niemand wollte ihn bei sich. Weder die Kami noch die Unsterblichen und schon gar nicht die Menschen, die sowieso blind und dumm waren. Geschäft ist Geschäft, war sein Leitspruch. Kein Gewissen, keine Sympathien.

Es konnte ihm egal sein, worauf dieser neue Auftrag abzielte. Ob er einen Krieg auslöste. Er würde ihn einfach erledigen. Und mit dem Geld endlich ein eigenes Leben beginnen.

Rukar schlüpfte in die noch feuchte Jacke.

Er nahm ein Gipssouvenir, das die ältesten Sehenswürdigkeiten Londons zeigte, aus dem Regalfach. Oben auf der Scheußlichkeit thronte eine Schneekugel mit dem London Eye. Das Glas hatte einen feinen Riss, sodass sich die Flüssigkeit im Laufe der Jahre verflüchtigt hatte. Rukar hatte es als Kind auf der Straße gefunden. Irgendeinem Touristen war es wohl aus der Tasche gefallen. In stundenlanger Arbeit hatte er den Gips ausgehöhlt und bewahrte seitdem sein Erspartes darin auf.

Inzwischen lagerte dort nur noch sein Kleingeld. Denn er hatte durch seine Erledigungen eine Menge Geld angespart. Gut versteckt in Hohlräumen zwischen Regalbrettern. Sobald er eine Wohnung gefunden hatte, die an ein Halbblut vermietet wurde, würde er Wook verlassen.

Er steckte ein paar Münzen in eine der vielen Taschen, mit denen er die Innenseite seiner Jacke ausgestattet hatte, und überprüfte, ob sich alles Nötige in seinem ebenfalls mit etlichen Taschen bestückten Gürtel befand. Mit einem Sprung war er auf dem Fenstersims und schlüpfte hinaus in den Londoner Regen. Hinauf auf die Dächer. Der einzige Ort, an dem er sich wirklich zu Hause fühlte.

Circles of Fate (1). Schicksalsfluch

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