Читать книгу Circles of Fate (1). Schicksalsfluch - Marion Meister - Страница 9
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Die Tauben hatte ihm verraten, dass er hier nur zu warten brauchte. Dass man eine Uhr nach ihr stellen konnte. Es klang, als wäre sie perfekt.
Rukar zog die Jacke enger und griff nach dem Pappbecher Kaffee, der neben ihm auf dem Flachdach stand. Er nahm einen Schluck. Kaffee war mit Abstand das Beste, das die Menschheit je auf dieser Welt entdeckt hatte. Inzwischen regnete es einen feinen Niesel, was seinen Beobachtungsposten nicht gemütlicher machte. Aber er hatte schon schlimmere Posten beziehen müssen für einen Job. Und nie hatte eine solch fantastische Entlohnung auf ihn gewartet.
Von seinem Aussichtspunkt auf dem Dach hatte er freie Sicht auf den Ausgang der U‑Bahn-Station Embankment auf der einen und in den Park auf der anderen Seite. Gegenüber befanden sich mehrere Geschäfte, unter anderem ein Coffeeshop. Momentan war die Straße leer, der Regen hielt die Menschen vom Flanieren ab. Nur hin und wieder spuckte die U‑Bahn eine Handvoll Leute aus, die unter meist grauen Regenschirmen in verschiedene Richtungen davoneilten. Niemand blieb am Stand des Blumenhändlers stehen, dessen Ware momentan der einzige Farbklecks im tristen Regengrau war. Es schien, als wolle London noch heute endgültig in die Tristesse des Herbstes verfallen.
Rukar mochte es, über der Stadt zu sein. Von oben konnte er die Wege und Richtungen der Menschen beobachten, wie sie aufeinander zutrieben, davongespült oder mitgerissen wurden. Es war wie ein Netz, dicht und eng gesponnen. Nur war er nicht darin gefangen. Wenn er dort unten herumstromerte, machte es ihn oft unglücklich zu spüren, dass er nicht Teil des bunten Treibens war. Von hier oben störte es ihn nicht. Hier oben hatte er das Gefühl, der sein zu können, der er war.
Wer auch immer er tatsächlich war.
Er wusste so gut wie nichts über seine Herkunft, außer dass er ein Halbblut war. Ein Teil unsterblich, ein Teil menschlich. Immerhin hatte er inzwischen einiges über sich und seine geerbten Fähigkeiten herausgefunden.
Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee und musste feststellen, dass der Becher leer war. Ärgerlich. Natürlich hätte er leicht zu dem Shop gegenüber gehen und sich einen frischen holen können, aber er wollte seinen Posten nicht verlassen. Also stellte er den Becher zurück auf das Flachdach. Eine Handbreit rechts neben die Stelle, an der er zuvor gestanden hatte. Rukar schloss die Augen und konzentrierte sich.
Die Luft um ihn begann zu flirren wie an einem heißen Sommertag. Wäre ein Unsterblicher auf dem Dach gewesen, hätte er Rukar vermutlich für einen winzigen Augenblick drei Mal gesehen. Jenen Rukar, der sich konzentrierte, einen, der wie noch vor ein paar Minuten den Leuten auf der Straße zusah, und einen, der den leeren Kaffeebecher gegen den vollen tauschte. Das Flimmern um Rukar verschwand und er griff nach dem Becher, der immer noch – oder schon wieder – neben ihm stand. Allerdings jetzt weiter links als eben. Zufrieden blickte er hinein und trank.
Kleine Taschenspielertricks mit der Zeit. Er wurde immer besser darin.
Mit einem Mal knisterte die Luft hinter ihm. Er rührte sich nicht, sondern lauschte: Knistern und ein leises Tapsen. Rukar seufzte in sich hinein. Ausgerechnet.
Im Gegensatz zu vielen anderen mochte er Jin eigentlich schon. Doch der Unsterbliche nervte. Er nervte wie ein ungezogener Hund, der nie wusste, wann Schluss war. Der jedem seinen durchgekauten Ball in die Seite rammte, in der Erwartung, dass man sofort mit ihm spielte.
»Hey, Jin. Was führt dich zu mir?«, begrüßte er seinen Gast, ohne sich nach ihm umzudrehen. Zu oft war der Unsterbliche bei ihm im Lager oder sonst wo, vorzugsweise während eines Auftrags, unangemeldet reingeswipt. Swipen war Jins bevorzugte Art zu reisen. Das Knistern, das die Luft jedes Mal kurz vor seinem Erscheinen durchlief, kündigte ihn zuverlässig an. Für Rukar war es, gepaart mit dem Geräusch der glatten Ledersohlen beim Aufkommen auf dem Boden, das Erkennungszeichen von Jin. Seines Wissens war Jin der Einzige, der konsequent Lederschuhe trug. Andere Unsterbliche wechselten ihr Schuhwerk je nach Landesmode und Jahreszeit.
»Muss ich denn immer etwas wollen?« Jin klang leicht gekränkt, als er neben Rukar trat.
»Müsstest du nicht. Aber meistens ist es so.« Rukar nippte an seinem Kaffee und hoffte, Jin würde einfach wieder gehen, wenn er ihm die kalte Schulter zeigte. Andererseits wusste er, dass es mehr als einer kalten Schulter bedurfte, um den Unsterblichen loszuwerden.
»Es gibt hübschere Dächer, um bei Regen zu faulenzen.«
»Mache ich auf dich den Eindruck, als würde ich faulenzen?« Nun wandte er sich doch Jin zu. Die Arme auf die Knie gestützt, den Kaffee locker in der Hand, wusste er sehr wohl, wie er wirkte: tiefenentspannt. War er bis jetzt auch. Aber auch nur bis jetzt.
Jin hingegen sah wie immer abgrundtief gelangweilt aus. Vielleicht lag es an seiner geraden Nase und den schmalen Lippen, dass ihn stets eine Aura gepflegten Desinteresses umgab. Oder es war seine Kleidung, die zwar von teuren Designern stammte, jedoch von Jin derart schlampig und ungepflegt getragen wurde, dass sie seinem Gegenüber die unmissverständliche Nachricht übermittelte: Mir ist alles egal.
Mit stoischer Miene ließ Jin den Blick unter dem Regenschirm hervor über den Park, die Geschäfte und die U‑Bahn-Station gleiten. Unweigerlich lächelte Rukar in sich hinein. Er wusste, Jin platzte vor Neugier, was Rukar bei Regen auf dieses ungastliche Dach trieb. Aber Geschäft war Geschäft. Und ein Teil von Rukars Erfolg beruhte auch auf seiner absoluten Verschwiegenheit.
»Kein Auftrag heute?« Jin warf die Frage hin, als wäre es nichts. Wie das Wegwedeln einer lästigen Fliege.
»Es gibt immer einen Auftrag«, murmelte Rukar ausdruckslos. Dabei hielt er die U‑Bahn-Station im Blick und nippte in aller Seelenruhe an seinem Kaffee. Leider wurde der langsam kalt.
Inzwischen hatte der Regen aufgehört. Prüfend hielt Jin die Hand unter seinem Schirm hervor und klappte ihn daraufhin zu. Ganz im Stil eines englischen Gentlemans hängte er sich den eingerollten Schirm über den Arm. »Verstehe. Dann läuft ja dein Geschäft. Was ist es denn diesmal?«
Darauf kannst du lange warten, dachte Rukar und ignorierte Jins Frage.
Jin seufzte enttäuscht. »Natürlich. Geheimhaltungsklauseln.«
Rukar leerte den Pappbecher mit einem letzten Zug.
»Na gut. Schon verstanden. Du nimmst deine Aufträge ernst. Vorbildlich. Wenn du für mich unterwegs bist, erwarte ich ja auch, dass du meine Pläne nicht an jeder Straßenecke herumerzählst.«
Noch immer ignorierte Rukar den Unsterblichen, der inzwischen ungeduldig auf den Zehen auf und ab wippte. Die nächste U‑Bahn schwemmte wieder ein Dutzend Leute auf die Straße. Rukar streckte sich. »Also, Jin.« Er wandte sich ihm nun zu. Jin war eine Handbreit größer als Rukar, er war trockener als er, er war selbstsicherer und er war älter – wesentlich. Aber das sah man ihm nicht an. Jeder Mensch hätte Jin auf irgendwas um die dreißig geschätzt. »Was willst du von mir? Ein Auftrag?« Er konnte sich an keine Begegnung mit dem Unsterblichen erinnern, bei der Jin nicht versucht hatte, etwas für sich herauszuschlagen. Oder von vornherein eine Forderung hatte. Das war okay. Jeder sollte Ziele haben. Doch Jin drehte es immer so, als ob es seine eigene Idee gewesen wäre, ihm Haus und Hof zu überschreiben. Und das mochte Rukar gar nicht. Hätte er die ersten Begriffe nennen sollen, die ihm zu Jin einfielen, wären es sicher Manipulation und Schadenfreude gewesen. »Also, letzte Chance, wenn du ein Anliegen hast.«
Jin tat tief verletzt. »Es geht mir in keiner Weise um mich! Es ist nur so, dass ich mich um dich sorge!« Er blickte Rukar fest an, doch der behielt seine gleichgültige Miene. »Ich habe gehört, du willst Krötenkami verlassen, Rukar.«
Fast hätte Rukar losgelacht. Er kannte natürlich den fiesen Spitznamen für seinen Ziehvater. Die Statur von Wook drängte diesen Vergleich ja auch geradezu auf.
»Du interessierst dich also für mein Schicksal? Wow. Seit wann das?« Ganz schlechtes Thema, dachte Rukar und sah hinunter. Nun, da der Regen aufgehört hatte, füllte sich der Park wieder mit Menschen.
»Schon immer! Schließlich hat mich der Rat beauftragt, mich um dich zu kümmern.«
»Der Rat? Seit wann schert es den Rat der Unsterblichen, was mit mir ist?« Soweit Rukar wusste, trafen sich zwölf der Unsterblichen alle paar Jahre mal in ihrem prunkvollen Palast auf einen Tratsch. Denn der Rat, der einst über Zeichen und Wunder, Katastrophen und Kriege unter den Menschen beraten hatte, wurde nicht mehr benötigt. Die Menschen regelten ihre Konflikte inzwischen mit Technik und Geld. Wunder und Götter waren überflüssig. Und gab es mal etwas Außergewöhnliches wie ein Halbblutfindelkind, wollte sich niemand der Unsterblichen damit belasten.
Seit die Menschen die Unsterblichen nicht mehr wie Götter anhimmelten, waren die Unsterblichen arbeitslos. Manche hatten sich eine Existenz unter den Menschen aufgebaut, andere zogen sich ganz in die Sphäre der Unsterblichen zurück und verbummelten dort ihre Tage wie Pensionäre.
Und dann gab es Jin.
Der schnappte entrüstet nach Luft. Eine überzogene theatralische Geste, die Rukar mit einem Kopfschütteln quittierte.
»Lass gut sein, Jin. Es hat euch nie interessiert und muss es jetzt erst recht nicht.«
»Wir haben dich gefunden und dafür gesorgt, dass du ein Zuhause hast!«
So langsam war der Punkt erreicht, an dem Rukar die Geduld verlor. »Bei einem Kami!«, antwortete er verächtlich. Keiner der Unsterblichen hatte sich die Mühe gemacht herauszubekommen, wer Rukars Eltern waren.
»Höre ich da eine gewisse Abneigung gegen diese Wesen heraus?« Tadelnd musterte Jin ihn.
Ärgerlich warf ihm Rukar einen Blick zu. Die Unsterblichen behandelten die Kami seit jeher wie dumme, nichtsnutzige Kleingeister. Dabei hatten sie inzwischen eine große Glaubensgemeinde unter den Menschen, während die Unsterblichen nahezu vergessen waren. Jin und die anderen verachteten die Kami genauso, wie sie Halbblute verachteten. »Höre ich da eine gewisse Ablehnung gegen Halbblutfindelkinder heraus?«, gab er deshalb zurück.
Jin pochte mit seinem Schirm aufs Dach. »Jetzt aber mal halblang, junger Freund! Wir wissen doch gar nicht, wer du bist! Wir können doch nicht jedem Obdach bieten!«
Treffer. Rukar schnaubte. »Willkommen im Club!« Und bevor dieser Dummschwätzer ihn noch mehr provozierte, sprang Rukar vom Dach. Er hatte einen Auftrag. Dem musste seine ganze Aufmerksamkeit gelten.
Er landete sicher, richtete sich auf und schlenderte los, als sei er nicht eben von einem sechs Meter hohen Dach in die Tiefe gesprungen. Sein Ziel war der Coffeeshop an der Ecke. Es traf sich hervorragend, dass er eine echte Leidenschaft für Kaffee hatte, genau wie das Mädchen.