Читать книгу Circles of Fate (4). Schicksalserwachen - Marion Meister - Страница 10

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Jin hielt den alten abgegriffenen Handspiegel gegen die Säule im Foyer und eilte in die Halle des Weberinnenturms.

Einige der Unsterblichen hatten ihm in den letzten Jahrzehnten immer wieder ins Gewissen geredet, dass es gegen die Regeln des Anstands wäre, sich mit einer der Schicksalsfrauen einzulassen, wie die Altmodischen unter ihnen die Weberinnen gerne nannten. Doch Jin hatte nie begriffen, wieso er sich selbst in seiner (fast) grenzenlosen Existenz einschränken sollte.

Er hatte immer wieder ein paar sehr amüsante Jahre mit der ein oder anderen Weberin erlebt. Schmunzelnd steckte er den antiken Spiegel ein, dessen Vergoldung über die Zeit stumpf geworden war.

Ehrfürchtig ging er auf den Baum zu. Die Tauben hatten keinen Zugang in den Turm, sie konnten nur durch den Schleier und die Glasfassade blicken und erahnen, was hier vor sich ging. Deshalb wollte er sich vergewissern, dass Tegan ihre Arbeit getan hatte.

Leben ist Gift, es besiegelt das Schicksal. Aleph bringt das Ende.

Jin legte den Kopf in den Nacken und sah den Baum hinauf.

Das Ding sah furchterregend aus. Schwärze durchzog die Rinde, an vielen Stellen war sie rau und aufgerissen. Dunkler Sirup troff daraus hervor. Das früher so dichte grüne Blätterdach war zerfallen und das Laub hatte sich dunkel verfärbt und fiel zu Boden.

Zufrieden atmete Jin durch. Stellte sich nur die Frage, was Lita trieb, diese lästige Göre. Warum konnten die Tauben weder sie noch Zara ausfindig machen?

Am Fuß des Baums entdeckte er eine Gestalt. Jemand saß dort zusammengekauert auf den Stufen, die zu den Wurzeln hinabführten. Und wenn ihn nicht alles täuschte, war es Elaine. Wunderbar. Sie wusste mit Sicherheit, wohin ihre Enkelin verschwunden war.

Eine beschwingte Melodie summend, denn der Anblick des sterbenden Baums hatte seine Laune beträchtlich verbessert, ging er zu ihr. »Elaine! Wie schön, dich hier zu treffen!«

»Es scheint, als sei unser Turm inzwischen ein allseits beliebter Ausflugsort«, murrte sie. »Verschwinde, Jin.«

»Oh, keine Sorge, das habe ich vor.« Gelenkig ließ er sich neben sie fallen und musterte den Baum. »Meine Güte! Den hat es ja ganz schön erwischt!«

Das Quellwasser hatte sich in eine ölige Flüssigkeit verwandelt. Schwarze Klumpen, die ihn an geronnenes Blut erinnerten, verklebten die Wurzeln und wucherten den Stamm hinauf.

Leben ist Gift, es besiegelt das Schicksal.

Fast hätte er gelacht. Sein Blut, sein Leben, war der Schlüssel für das Ende der Welt. Wie hinterlistig von Äon. Dieses Wesen, über das er so oft gespottet hatte, bewies am letzten aller Tage einen feinen Sinn für Ironie. Das war ganz nach seinem Geschmack.

»Tja, und was nun, Weberin?« Mit einem neckischen Lächeln wandte er sich zu Elaine um und zuckte erschrocken zurück.

Die Frau, die neben ihm auf den Stufen kauerte, war zwar Elaine, aber nicht jene Elaine, die er erst gestern in ihrem Loft bestohlen hatte. Dies hier war eine uralte, gebrechliche Frau.

»Was ist?«, fragte sie bitter. »In all den Jahrtausenden noch keiner alten Frau ins Gesicht geblickt?«

»Ach, Elaine …« Tatsächlich traf ihn ihr Anblick. Verlegen wanderte sein Blick zum Schicksalsbaum hinauf. Er hatte gewusst, dass alle Leben mit diesem Gewächs verknüpft waren. Nicht nur die der Menschen. Auch jene der Weberinnen. Für sie war der Baum nicht nur das Werkzeug für ihr Wirken. Er war ein Teil von ihnen. Sie lebten mit ihm in einer Art Symbiose. Natürlich ging das Sterben des Schicksalsbaums nicht spurlos an ihnen vorüber.

In stummer Anteilnahme legte er seine Hand auf die ihre. Für einen kurzen Augenblick wollte er sie um Verzeihung bitten. Sein Erscheinungsbild hielt er seit Tausenden von Jahren auf Anfang dreißig. Doch Elaine … Ihre Hand war faltig, von Altersflecken bedeckt, die Haut wie Pergament.

»Ich beneide dich«, murmelte er.

»Lügner!«

Aber er tat es wirklich. Zumindest ein wenig. Sie würde sterben. Ihr elendes Dasein auf dieser Welt hinter sich lassen. Und er? Er hoff‌te inständig, dass Äon seine Ankündigung schnellstens wahrmachte und diese Welt beendete. In die Luft sprengte. Zerfallen ließ. Wie auch immer. Er wollte endlich sterben!

Unruhig blickte er sich um. Sie waren allein. Keine andere Weberin war zu sehen. Warum auch. Es gab nichts mehr zu ernten, zu spinnen oder einzuflechten. Hatte sich Lita irgendwo in diesen Turm zurückgezogen? Unwahrscheinlich. Doch in London war sie auch nicht. Die Tauben hätten sie entdecken müssen. Mit Sicherheit glaubte Lita noch immer, gegen Äon gewinnen zu können. Dieses Mädchen war zu stur und eigensinnig.

»Wie konntest du nur!«, blaffte Elaine ihn an. Doch von ihrer einstigen Energie lag nur noch ein schwacher Widerhall in ihrer Stimme.

Voller Mitleid tätschelte er ihre Hand. »Es ist Zeit, alldem ein Ende zu setzen, Elaine. Und wenn du nicht so verbohrt wärst, würdest du es dir endlich eingestehen. Diese Welt ist eine Hölle.«

»Du warst schon immer nur an dir selbst interessiert.«

Jin lachte. »Das sagst du mir? Willst du mir weismachen, dass du deine kleinen Manipulationen zum Wohl aller gesponnen hast?« Er nahm ein herabgefallenes Blatt in die Hand und drehte es zwischen den Fingern. Es war matschig und zerfiel zu schwarzen, schmierigen Klumpen.

Elaine richtete sich auf, als wollte sie ihm beweisen, dass er immerhin noch mit der Obersten Weberin sprach. Doch es gelang ihr nicht. Sie war nur noch eine alte Frau, deren graue Haare ein schmales, müdes Gesicht rahmten. »Ich habe immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.«

»Natürlich. Und was sagt dein Äon dazu?«, fragte er hämisch. Es war unfair von ihm, sie so zu quälen. Aber er ließ sich von ihr keinen Vorwurf machen. Sie hatte die Tür geöffnet, als sie ihre Tochter gegen Äons Willen am Leben ließ. Er war nur hindurchspaziert.

Mit einem ekelerregenden Pflatsch landete eine verfaulte Frucht des Baums neben ihnen und zerplatzte auf den Fliesen. Eine stinkende schwarze Masse blieb zurück.

»Ich denke, die Welt war schon die ganze Zeit verdorben. Es wollte nur keiner sehen«, meinte er und musterte die kahlen Zweige über sich, denn er hatte keine Lust, so eine Fäulnisbombe auf den Kopf zu bekommen.

»Es ist nicht an dir, die Schöpfung zu bewerten«, erwiderte Elaine bitter.

»Ach, nein? Ich muss es hier schon eine ganze Weile aushalten, meine Liebe. Ich habe jedes Recht, an diesem Pfusch herumzumäkeln! Und es ist wirklich erleichternd, dass Äon endlich ein Einsehen hat.«

»Äon hätte nur mich bestrafen sollen«, murmelte Elaine. »Ich habe es verraten.«

Jin lachte laut auf. »Jetzt mach mir meine Show nicht mies! Es war mein Geistesblitz, wie ich dieses Prachtstück zu Fall bringe.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung zum Schicksalsbaum. »Dieses Dämlack Äon hat damit nichts zu schaf‌fen!«

»Es hat es bestimmt. In seinen letzten Worten hat es deine schändliche Tat angekündigt. Ich war nur zu blind, um ihre wahre Bedeutung zu erkennen.«

Jin wollte widersprechen. Er als Unsterblicher hatte keinen Schicksalsfaden. Wie sollte also dieses dämliche Wesen über sein Handeln bestimmen? Doch er stutzte. Sekunde. Überrascht drehte sich Jin zu ihr um. Elaine hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen.

»Seine letzten Worte?«, fragte er scharf. Elaine regte sich nicht.

Das kann doch nicht wahr sein! Er lachte erneut lauthals auf. Sein Lachen dröhnte verloren durch den Turm, zersplitterte in der Leere und hallte tausendfach zu ihm zurück. »Du bist wirklich in Ungnade gefallen! Dein heiß geliebtes Äon hat dich verlassen!« Es war nicht zu fassen! »Du hast alle belogen! Wie lange schon hat Äon nicht mehr zu dir gesprochen? Etwa seit Litas Geburt?« Die Tauben hatten also all die Jahre über recht gehabt, als sie herumerzählten, Äons Orakel wäre verstummt. Erneut musste er lachen. Solch ein Meisterstück an Blendung hätte er Elaine niemals zugetraut.

»Das letzte Mal, als es zu mir gesprochen hat, hat es mir die Prophezeiung über das Ende gegeben«, flüsterte Elaine.

»Seitdem hast du dir alle Lebenswege … ausgedacht?« Anerkennend nickte Jin ihr zu. Hut ab. Das war eine Leistung. Kein Wunder, dass sie den Turm nicht mehr verlassen hatte.

Elaine saß eingefallen da, nur ein Schatten der einst so starken Obersten Weberin. »Ich habe alle belogen. Die Weberinnen wie die Menschen. Und ich hatte auch noch die Arroganz zu glauben, dass ich Äon durch den Mord an meiner Tochter wieder gnädig stimmen kann. Und dass es zu mir zurückkommt.« Verloren blickte sie zu dem sterbenden Baum hinauf.

Jin schüttelte amüsiert den Kopf. Was für eine Scharade. Äon hatte die Menschen schon vor Jahren verlassen, doch Elaine hatte so getan, als stünde die Welt noch immer unter seinem Schutz. Und das nur, um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, wie schwach und fehlbar sie war. »Du bist unverbesserlich, Elaine. Den Sturkopf hat deine Enkelin Lita von dir geerbt.« Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er sie. Er empfand es zwar als ungemein beschwingend, dass Äon nicht mehr hier war, dennoch beunruhigte ihn das Verschwinden dieser Göre. Äon wollte, dass die Welt endlich verging. Mit seinen letzten Worten hatte es die Mechanik in Gang gesetzt. Was aber, wenn Lita irgendein Kniff einfiel, um das Ende zu vereiteln? Dann wäre kein Äon da, das die Welt doch noch in die Luft jagte. Er bemerkte, dass die Erwähnung von Litas Namen Elaine für einen Moment lächeln ließ.

»Was treibt sie denn nun, da die Welt zugrunde geht?«, hakte Jin nach.

»Sie folgt ihrem Dickschädel, was denkst denn du?« Noch immer lag das Lächeln auf Elaines Gesicht.

Es verunsicherte Jin, dass der Gedanke an Lita Elaine anscheinend beflügelte. Was heckte dieses Mädchen nur aus?

»Sieh dich an, Jin! Du hast ja Angst vor ihr!« Elaine kicherte leise.

»Was?« Empört stand er auf. »Vor dieser Anfängerin? Wieso sollte ich? Äon hat doch alles in Stein gemeißelt. Es kommt, wie das oberste Wesen es vorgegeben hat.«

»Das mag sein. Aber Lita hat keinen Faden.« Sie zwinkerte ihm verschmitzt zu. Da war sie wieder. Die Elaine, mit der er vor Jahrzehnten durch die Welt geswipt war, mit der er Grenzen ausgereizt hatte. Was hatten sie alles angestellt, wovon die Weberinnen wie die Unsterblichen besser nichts erfuhren …! Sie waren immer mit allem davongekommen.

»Was willst du damit sagen?«

»Dass sie noch Hoffnung hat. Sie verfolgt eisern ihr Ziel, die Welt zu retten. Und sie hat Hilfe.«

»Rukar und Zara«, murmelte er. So viel war klar, denn keinen von ihnen konnten die Tauben ausfindig machen.

Elaine blickte ihn triumphierend an. »Ja, auch dieses Halbblut – wer weiß, welche Fähigkeiten er beisteuern wird?«

Jin begegnete ihrem Blick. Bohrend, fragend, wissend. Plötzlich fühlte er sich leicht benommen. Sicher kam es nur von dem Gestank nach Fäulnis, der sich im Turm verbreitete. Oder war es der Gedanke, dass Elaine wusste, wer Rukar war, und er selbst diese Antwort nie gefunden hatte? All die Jahre hatte er aus dem Jungen nicht herausbekommen können, über welche Fähigkeiten er verfügte. Er wusste nur, dass er genauso wie Lita sicher nicht auf Äons Liste stand.

Wütend starrte er den Baum an. Wieder fiel eine Frucht herab und landete platschend im Wasser.

»Alles wird gut«, sagte er zu sich. »Der Baum stirbt. Kein Orakel mehr, das mir in die Suppe spuckt.« Gezwungen optimistisch tätschelte er Elaine die Schulter. »Alles wunderbar. Es gibt nichts auf dieser Welt, das das Ende noch aufhalten könnte!« Obwohl er ein wissendes Aufblitzen in Elaines Blick registrierte, konzentrierte er sich nur auf die guten Aussichten. »Du wirst mir nicht verraten, wohin sie verschwunden sind?«

Sanft schüttelte Elaine den Kopf. »Wenn du das Offensichtliche nicht selbst siehst … Vielleicht ist Äons Plan ja doch ein anderer, als du hoffst?«

Wütend sah er auf Elaine herab. »Netter Versuch. Ist Äons Wille nicht offensichtlich?« Mit einer fahrigen Geste wies er auf den Baum. Lita hat keine Chance! Niemals. »Schöne Grüße an die Familie«, zischte er. »Ich gehe Schampus kaufen.« Und bevor Elaine etwas erwidern konnte, drehte er sich um und stiefelte aus dem Turm.

Niemand, wirklich niemand würde ihm seinen Weltuntergang versauen!

Circles of Fate (4). Schicksalserwachen

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