Читать книгу Circles of Fate (4). Schicksalserwachen - Marion Meister - Страница 9

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Als Rukar das Torhaus zur westlichen Seite des Highgate Cemetery betrat, hörte er Stimmengewirr. Das war ungewöhnlich. Nicht nur für die Menschen war der Friedhof ein Ort der Stille. Auch die Gatekeeper achteten darauf, dass Reisende möglichst unauf‌fällig die jenseitige Welt betraten.

Er hielt im Tordurchgang inne und lauschte. Etwas stimmte nicht. Anspannung und Angst lagen wie zäher Sirup in der Luft.

Auf der Straße war niemand zu sehen gewesen. Alles wie immer. Nicht, dass er schon oft in die jenseitige Welt gereist wäre. Nur zwei Mal hatte Wook ihn dorthin geschickt, um besonders seltene, aber mächtige Zutaten zu besorgen. Diese Aufträge waren einfacher gewesen als befürchtet, auch wenn die Bürokratie ziemlich viel Zeit gefressen hatte. Beide Male war er der Einzige im Torhaus gewesen. Niemand sonst hatte vor den Arkaden gewartet, um einen Passierschein ausgestellt zu bekommen. Ein Übertritt in die andere Welt war mit so vielen Bedingungen verknüpft, dass es einfach nur so für einen kleinen Ausflug in die jenseitige Welt kaum die Mühe wert war.

Also was war hier heute los? Das Stimmengewirr klang wie entferntes Donnergrollen, bedrohlich und energiegeladen.

»Wartet«, sagte er leise und machte den anderen ein Zeichen, sie sollten im Schatten des Durchgangs stehen bleiben. Langsam trat er an das Ende des dunklen Durchgangs und sah sich um. Hinter dem Torhaus lag ein Platz, von dem links und rechts die Wege zu den Gräbern der Menschen führten. Ein verwilderter Wald, in dem verwitterte Steinengel und von Efeu überwucherte, schiefe Grabsteine der Zeit trotzten. Die gegenüberliegende Seite des Platzes wurde von Arkaden begrenzt. Allerdings konnte Rukar von den Bögen nicht viel sehen, denn ein Menschenauf‌lauf blockierte den Zugang. Natürlich waren es keine Menschen, auch wenn die meisten sich ein menschliches Aussehen gaben. Es waren Kami. Und Dunkelwesen, wie Rukar erschrocken feststellte. Sie alle drängten auf die Arkaden zu, wo sich zwischen den Pfeilern die Durchgänge zur jenseitigen Welt befanden. Noch nie zuvor hatte er so viele Dunkelwesen auf einem Haufen gesehen. Dunkelwesen, die den Menschen in bösen Träumen begegneten, geschaf‌fen aus ihren Ängsten. So viele vor den Toren der jenseitigen Welt – das bedeutete nichts Gutes.

»Was ist hier …?« Lita hatte natürlich nicht auf ihn gehört und den schützenden Schatten verlassen. Mit offenem Mund starrte sie die seltsamen Gestalten an.

»Das sind Kami und Dunkelwesen«, antwortete Rukar leise. Wenn sie bemerkten, wie Lita sie anstarrte, konnte alles passieren. Kami waren friedliebend. Aber diese hier hatten Angst. Und dass Dunkelwesen unter ihnen waren, erhöhte die Gefahr einer gewalttätigen Eskalation. Dunkelwesen waren aus menschlicher Angst und Panik, aus Wut und Zorn geboren und trugen diese in sich. Ihre Lebensaufgabe war es, die Menschen damit heimzusuchen.

Deshalb schob er Lita eilig zurück in den Torbogen. Diese Wesen waren nicht für einen fröhlichen Umtrunk hier zusammengekommen. Panik hatte sie an die Pforten zum jenseitigen Land getrieben. Die Furcht dieser Wesen war gewaltig. Wie ein schwarzes Meer wogte sie über ihren Köpfen.

»Was wollen die alle auf einem Friedhof?« Tegan stand neben Zara und zog ihren Weberinnenmantel enger um sich.

Besorgt musterte Rukar die Menge. Das mussten mehrere Hundert sein. Er konnte ihre Furcht sehen. Die Anspannung in ihren Körpern, die Blicke, das nervöse Zucken der Köpfe. Es gab nur eine Erklärung, warum sie sich alle hier eingefunden hatten. »Sie wissen vom Weltuntergang und wollen fliehen«, murmelte er.

»In die jenseitige Welt?« Lita klang überrascht. »Soll das heißen, selbst wenn die Welt untergeht – das Jenseits bleibt bestehen?«

Rukar zuckte mit den Schultern. »Es ist das erste Mal, dass Äon seine Schöpfung beenden will. Falls es einen Rettungsplan gibt, hat mir keiner Bescheid gesagt. Doch offensichtlich gibt es das Gerücht, dass nur die Menschenwelt ein lebloser Ort wird.«

Lita spitzte die Lippen und schnaubte. »Die Menschen werden also zu endlosem Leiden verurteilt, genau wie die Weberinnen, aber die Unsterblichen und Kami, sogar diese Albtraumwesen ziehen einfach um? An einen hübscheren Ort?«

»Scht! Wenn sie dich hören, werden sie uns angreifen.«

»Warum? Sitzen wir nicht alle im selben Boot?«

»Es liegt in der Natur der Dunkelwesen, Menschen als Beute zu sehen. Und die Kami sind sehr nervös. Sie würden euch nichts tun, aber Dunkelwesen sind unberechenbar.« Rukar kniff die Augen zusammen. Sein Blick glitt über die Menge. Menschliche Köpfe, Reptilien, Raubvögel, düstere Schatten, Einäugige, Mehrköpfige … welche Ausgeburt der Dunkelheit auch immer, sie schienen alle hier zu sein. Immer wieder kam es zu Handgemengen. Es wurde geschubst und getreten. Jeder wollte in Sicherheit sein, bevor der Vorhang fiel und die Welt unterging. Kami sahen sich im Vorrecht, Dunkelwesen waren jedoch stärker und trugen Waffen, wenn sie nicht mit scharfen Schnäbeln, beeindruckenden Reißzähnen und spitzen Krallen bewehrt waren.

Er brauchte einen neuen Plan. Denk nach! Wie kommen wir schnellstens hinüber?

Sie konnten sich schließlich nicht unbemerkt vordrängeln. Das erste Dunkelwesen, das Lita oder Tegan sah, würde seine Klauen nach ihr ausstrecken.

»Sekunde«, hakte Lita nach. »Das heißt, wenn wir alle Weberinnen in die jenseitige Welt bringen würden, dann passiert ihnen nichts und sie überleben den Weltuntergang?«

Rukar ging nicht auf ihre Frage ein. Die Menge war so groß, dass sie die Arkaden, in denen die Schreibtische der Gatekeeper standen, komplett abriegelten. Sie kamen noch nicht einmal von hinten, durch den Wald mit den Gräbern, an die Gatekeeper heran.

»Rukar!« Lita gab ihm einen Klaps. »Wären die Weberinnen auf der anderen Seite in Sicherheit?«

»Was? Nein. Ich … keine Ahnung! Wir kommen hier nicht durch, Lita! Schon gar keine Horde Weberinnen!« Sein Blick blieb an einem Nebelumhang haften, der mitten zwischen Mänteln, Jacken, Fellen und Schuppen aufblitzte. Die Unke!

Als hätte sie seine Anwesenheit gespürt, blickte sie über die Schulter zu ihm. Sofort wich Rukar noch weiter zurück in den Schatten des Torbogens. Doch sie hatte ihn bereits bemerkt und ihre Miene verdüsterte sich. Natürlich, schoss es Rukar durch den Kopf. Mit Sicherheit hat sie jedem, der es hören oder auch nicht hören wollte, von Asche und dem Ende der Welt erzählt. Und als die ersten Schatten in den Straßen auf‌tauchten, gab es keinen Zweifel mehr, dass die Unke recht hatte.

Jetzt hoff‌ten die Kami, dass sie in der jenseitigen Welt sicher wären. Und die Dunkelwesen hatten natürlich ebenfalls Wind davon bekommen. Deshalb dieser Massenauf‌lauf. Er rubbelte sich durch die Haare und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie konnte er Zara und die anderen sicher hinüberbringen?

Lita reckte das Kinn. »Wenn hier der Durchgang ist, müssen wir uns eben durch die Menge quetschen. Wir sagen ihnen, dass wir die Welt retten werden. Worauf warten wir noch?«

Etwas zu ruppig packte er sie am Arm und riss sie zurück. »Hast du den Verstand verloren?«, zischte er. »Siehst du nicht all die Monster unter den Kami? Das sind die Dunkelwesen, zu denen du wolltest, um sie um einen Zauber zu bitten.«

Litas Miene versteinerte und sie beobachtete sichtlich verunsichert einige der gruseligen Gestalten.

»Siehst du ihre Klauen?« Rukar drängte sie hinzusehen. »Hast den da drüben gesehen? Der hätte fast den Kami aufgeschlitzt, weil er ihn angerempelt hat. Diese Menge ist ein Pulverfass! Nicht nur, dass die Dunkelwesen schon an normalen Tagen jedem an die Kehle wollen – sie alle haben Angst.«

»Aber wir sitzen doch alle im selben Boot … Vielleicht.«

»Nein!«, sagte Rukar entschieden. »Wir können hier nicht rüber.«

»Aber die meisten sind Kami«, wandte Lita ein. »Sie helfen Menschen.«

Ihre Blicke trafen sich und Rukar stellte entsetzt fest, dass Lita das tatsächlich glaubte. »Früher vielleicht einmal. Aber diese hier, die wollen nur ihre Haut retten. Ein falsches Wort – und dieser Trupp verwandelt sich in einen blutigen Albtraum.«

Tegan meldete sich mit einem Schnauben zu Wort. »Er will damit sagen, dass er so viele von ihnen gelinkt hat, dass sie ihn zu Kleinholz verarbeiten, wenn sie ihn erkennen.«

Wütend warf er ihr einen Blick zu. »Du bist doch nur so gelassen, weil du denkst, das Ticket in deiner Tasche rettet dich.« Für eine Sekunde freute er sich, als er den überraschten Schock in ihren Augen sah.

Tegan war inzwischen von Zara abgerückt, denn die Kälte, die von ihr ausging, wurde immer unerträglicher. Zaras Verfassung verschlechterte sich zusehends. Ihre Haut wurde stetig heller, fast schon meinte Rukar, sie würde bläulich leuchten. Er ahnte, was mit ihr passierte. Als er Zaras Blick begegnete, schien eine rote Flamme darin zu züngeln. Beschämt senkte Zara den Blick.

Er musste endlich handeln. Die Fäden zerfielen, die Menschen waren Schatten, hier tickte eine Zeitbombe und Zara … »Es gibt einen zweiten Zugang«, sagte Rukar hastig. »Doch der ist … kompliziert.« Mehr als das. Er hatte sich geschworen, ihn nie zu benutzen.

Lita horchte auf. »Einen zweiten? Was ist daran kompliziert?«

Er zog Lita tiefer in den Durchgang, weg von den Kami und Dunkelwesen, denn Tumult war unter ihnen ausgebrochen. Schreie hallten über den Friedhof, hallten zwischen den Arkaden wider und jagten ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Alle vier starrten voller Entsetzen auf die wogende Menge und wichen noch tiefer in die Schatten des Durchgangs zurück. Klauen blitzten auf, metallisches Klirren ertönte, Schreie, Fauchen und dumpfe Schläge.

»Also, was ist mit dem anderen Tor?«, wollte Lita wissen.

»Hier in Highgate kann man sich, wenn man einen triftigen Grund für die Reise nachweisen kann, direkt an den Ort teleportieren lassen, zu dem man will«, murmelte Rukar. »Reiseverkehr ist auf der anderen Seite unerwünscht. Die jenseitige Welt ist kein Ort, an dem Kami oder gar Menschen Urlaub machen sollten.«

Eine kleine Falte hatte sich auf Litas Stirn gebildet und sie sah ihn forschend an. »Und der zweite Zugang? Wo kommen wir da raus?«

Rukar seufzte. Alles in ihm sträubte sich, überhaupt nur an dieses Tor zu denken. »Der ist für Leute wie mich«, murmelte er.

Tegan gab einen glucksenden Laut von sich. »Ein Fluchtweg für Diebe?«

»Ein Zugang für Halbblute«, blaffte er sie an.

»Das heißt, wir anderen werden da gar nicht durchkommen?« Litas besorgter Blick sprang zwischen ihm und der inzwischen laut kreischenden Menge hin und her.

Genervt fuhr sich Rukar durch die Haare. Er wusste, es gab Wetten auf ihn, wann er durch das Tor gehen würde. Vermutlich war nichts dabei, viele vor ihm hatten es durchschritten. Auch wenn nicht alle erfolgreich wiedergekehrt waren. Er hatte keine Angst vor dem, was dort auf ihn warten könnte. Er hatte Angst vor dem, was die Aufgabe, die ihm gestellt wurde, beweisen würde. »Sie nennen sie die Pforte der Helden.«

»Pforte der Helden!« Tegan lachte auf. »Keine Chance, dass du da durchkommst.«

»Das wäre natürlich klasse.« Er grinste sie an. »Während Lita Zara nach Hause bringt und den Samen holt, könnten wir es uns bei einem Kaffee gemütlich machen.«

Angriffslustig ballte Tegan die Fäuste und wollte auf ihn los, doch Lita stellte sich zwischen sie.

»Lass es. Es hallt in dem Torbogen. Wir ziehen noch die Aufmerksamkeit der Dunkelwesen auf uns.« Lita wandte sich ihm zu und verschränkte die Arme. »Pforte der Helden. Klingt jetzt nicht soooo übel und Furcht einflößend.«

»Halbblute, deren Schicksal eine besondere Aufgabe von ihnen verlangt, müssen diesen Durchgang benutzen.«

»Also ist das der gefährliche Weg mit den dreiköpfigen Hunden und schlangenhäuptigen Frauen?«

»So in etwa. Denke ich.« Das größte Problem war: Er hatte eben keine Ahnung, wo die Pforte sie ausspucken würde. Er wusste nur, dass jeder, der von einem Unsterblichen abstammte, irgendwann von Äon an diese Pforte geführt wurde. Denn auf jeden von ihnen wartete in der jenseitigen Welt eine Aufgabe. Rukar hoff‌te nur, dass seine Aufgabe darin bestand, Lita zu führen. Und nicht, mit einem Höllenhund zu kämpfen. Er war nämlich kein Held. Er war ein Findelkind, das niemand wollte. Vom Vater verstoßen, im Vorratsregal eines egozentrischen Kamis groß geworden.

»Dann los mit uns. Wir haben ja etwas sehr Heldenhaftes vor!« Lita zog ihn mit sich, zurück auf die Straße, damit er sie swipen konnte.

Hinter ihnen gellten wütende Schreie und schrilles Kampfgetöse. Rukar lief ein Schauder über den Rücken. Die Dunkelwesen hatten die Geduld verloren. Kurz schloss er die Augen und hoff‌te, dass die Kami sich schnell genug in Sicherheit brachten.

Doch da drängte schon eine Welle fliehender Kami in den Tordurchgang. Allen voran die Unke, die, als sie Rukar erblickte, in ein schrilles Kreischen ausbrach. »Da ist er! Er hat die Asche über die Welt gebracht!«

Circles of Fate (4). Schicksalserwachen

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