Читать книгу Circles of Fate (4). Schicksalserwachen - Marion Meister - Страница 6

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Nimm das mit.« Hanna drückte Lita ein paar Münzen in die Hand.

Verwundert musterte sie das Geld. »Damit ich mir da drüben einen Burger kaufen kann?«

Hanna schmunzelte und umarmte Lita zum siebten Mal, seitdem die beiden Elaines Loft betreten hatten, um zusammen Litas Tasche zu packen. »Es gibt Gerüchte, dass es dort drüben einen Fährmann gibt.«

Lita schob ihre Mutter von sich und steckte die Münzen in die schon ziemlich pralle Umhängetasche.

Von Elaine hatte sie sich eine Stoff‌hose geborgt. Sie passte ihr halbwegs. Ihre eigene Jeans war mit der öligen Schmiere des verseuchten Quellwassers vollgesogen. Sie hatte versucht, die Ausbreitung des Gifts zu stoppen, und war deshalb in das verpestete Wasser am Fuß des Schicksalsbaums gestiegen. Ihr heiß geliebter Parka, den sie in den Abfluss gestopft hatte, war wohl für immer verdorben. »Alles klar. Ich bezahle den Fährmann, sobald wir drüben sind. Nicht vorher. Ich weiß schon.«

Hanna lachte aufmunternd, doch Lita blickte zweifelnd auf ihre Umhängetasche, die wie ein riesiger Medizinball aussah und auch ungefähr so viel wog. »Bist du sicher, dass ich das alles brauchen werde? Wie lange werden wir überhaupt weg sein? Ich meine …« Sie deutete auf die Krone des Schicksalsbaums, die man durch die gläsernen Wände des Lofts sah. Die Blätter waren zum Teil eingerollt und hatten sich schwarz verfärbt. Die Fäulnis war bereits bis in die Spitzen vorgedrungen. »… sehr viel Zeit haben wir nicht mehr.« Sie war froh, dass Rukar wusste, wie sie in die jenseitige Welt kamen. Schon jetzt fühlte sie sich verloren und hatte Angst, dass sie sich dort verirrte. Sie verlief sich ja selbst hier in London immer wieder!

»Soweit ich weiß, ist die Zeit in der jenseitigen Welt eine andere. Vielleicht kommt ihr zur selben Minute zurück, zu der ihr hineingegangen seid …« Hanna lächelte sie an, doch Lita konnte die Sorge in ihrem Blick sehen. »Von uns Weberinnen seid ihr jedenfalls die Ersten, die dorthin gehen.«

Entschlossen nahm Lita die schwere Tasche und drückte ihre Mutter ein letztes Mal. »Wir werden Zara nach Hause bringen, den Fluch ihres Totenfadens brechen und damit alle, die zu Schatten geworden sind, zurückholen. Und wir werden einen neuen Baum pflanzen.«

»Ja, das wirst du.« Hanna zog Lita zu sich und drückte sie erneut. Sie spürte, dass ihre Mutter Tränen hinunterschluckte. Ohne sie noch einmal anzusehen, um nicht selbst zu weinen, verließ sie das Loft und eilte die Treppe hinunter.

Während sie die Stufen hinablief, stellte sie sich vor, wie es gewesen wäre, wenn sie hier mit ihrer Mutter aufgewachsen wäre. Als Weberin. Dann hätte es all den Streit und die Angst, die Therapiestunden, die dunklen Gedanken nicht gegeben. Sie hätten beide glücklich in diesem lichtdurchfluteten Turm zusammengelebt.

Aber sie wäre wohl nicht auf ihre Schule gegangen und hätte nie DeeDee, Lauren und Chloe kennengelernt. DeeDee. Lita presste die Lippen zusammen und konzentrierte sich auf die Stufen. DeeDee war zu einem Schatten geworden, als ihr Schicksalsfaden zu Asche zerfallen war. Lita fühlte sich dafür verantwortlich, dass DeeDee von ihrer Familie vergessen worden war. Dass ihre beste Freundin von allen vergessen war. Die Schuld brannte tief in ihrem Inneren. Aber sie würde es wiedergutmachen. Für alle Menschen. Nicht nur für DeeDee.

Entschlossen sprang Lita über Blätter des Schicksalsbaums hinweg, die jemand auf der Treppe zusammengefegt hatte. Sie waren schwarz und ölig wie das vergiftete Wasser an seinen Wurzeln und sie musste aufpassen, auf dem Laub nicht auszurutschen.

Ihr Blick glitt nach unten, hinab in die Halle. Das Laubdach des Baums hatte sich bereits erheblich gelichtet, sodass Lita bis nach unten blicken konnte. Dort wurzelte er in einem Becken, das einst von dem klaren Wasser der Urquelle gespeist worden war. Doch Jin hatte das Wasser vergiftet und so den Baum ermordet. Und mit ihm auch die anderen elf auf der Erde wachsenden Schicksalsbäume, da sie alle von derselben Quelle genährt wurden, die jetzt nur noch eine brackige, stinkende Brühe war. Selbst die Luft im Turm stank nun modrig. Lita merkte, wie sie eine Faust ballte. Jin! Wer hätte es sonst tun können? Er hatte durch Hanna erfahren, wie er das Ende der Welt herbeiführen konnte. Und er hatte seine Chance ergriffen.

In der Halle warteten Rukar und Zara auf sie. Tegan stand abseits, aber sie hatte sich bereit erklärt, Lita auf der Mission zu begleiten. Es war offensichtlich, dass die junge Weberin Lita nicht mit Rukar alleine in die jenseitige Welt gehen lassen würde, denn sie misstraute Rukar zutiefst.

Als Lita den Weltenraum passierte, hielt sie kurz inne und warf einen Blick auf die Lebensfäden, die sich darin von einem Ende zum anderen spannten. Das Regenbogenleuchten der Fäden hatte nachgelassen. Das Gespinst war merklich ausgedünnt und den Boden bedeckte ein tiefschwarzer Ascheteppich. Es tat ihr weh, das Geflecht so zu sehen. Auch wenn sie erst seit wenigen Tagen von alldem hier wusste und selbst die Fähigkeiten einer Weberin besaß, fühlte es sich an, als hätte man Lita ein Stück ihres eigenen Lebens herausgeschnitten. Sie musste alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Baum zurückzubringen, und damit die Schicksalsfäden für die Menschen. Die Fäden leiteten die Menschen durch den Ozean ihres Lebens, führten sie sicher auf den ihnen vorherbestimmten Weg. Für einen winzigen Augenblick sah Lita vor sich, wie sie Zaras Totenfaden in das Spindelwerk gleiten ließ. Sie hatte Äons Prophezeiung erfüllt. Den Tod zu den Lebenden und die Welt zu Fall gebracht.

Doch sie selbst besaß keinen Faden und deshalb konnte sie ändern, was passierte. Daran durf‌te sie nie zweifeln!

Winnie, die junge Weberin, die ihre Nase am liebsten in die Prophezeiungen steckte und darin schmökerte wie andere in einem guten Buch, hatte offenbar an der Pforte auf Lita gewartet. In der Hand hielt sie eine Stoffrolle. Lita erkannte an den bunten Fäden, dass es eine Prophezeiung war. »Lita?« Zögerlich kam Winnie auf sie zu. »Bitte nimm das mit.«

»Was ist das?« Sie nahm den gewebten Stoff entgegen und rollte ihn auf. Es war tatsächlich eine Prophezeiung, doch ein Stück fehlte. »Woher hast du den?«, fragte sie erschrocken. Ihr war sofort klar, dass dies der Rest von Rukars Prophezeiung sein musste. Das fehlende Stück war in seinem Besitz. Wie auch immer er es bekommen hatte, denn eine Prophezeiung durf‌te den Turm nicht verlassen.

»Tegan und ich haben ihn im Archiv aufgestöbert. Du weißt, was das ist?«

Lita nickte. »Es ist Rukars Prophezeiung! Er hat das abgetrennte Stück.« Es war noch nicht allzu lange her, da hatte sie in Rukars Teppichabschnitt gelesen. Darin ging es nur um seine Kindheit. »Ich habe ihm gesagt, wer er ist.« Entschieden gab sie ihr den Teppich zurück.

Ein Leuchten glitt über Winnies Gesicht. »Er weiß es? Und Tegan …? Hat er es ihr schon gesagt?«

Lita starrte auf den Teppich. Vieles darauf war für sie hinter einem Nebel verborgen. Vermutlich die Gegenwart und Zukunft Rukars. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, denn sie wusste, sie konnte diese Ereignisse nicht lesen, weil sie nun Teil von seinem Leben war. »Nein, Tegan weiß nichts davon. Sie ist noch immer viel zu wütend auf ihn. Den Namen Jin jetzt zu erwähnen, wäre sicher nicht gut.«

Winnies Ausdruck verdüsterte sich. »Sag es ihr. Bitte. Vielleicht denkt sie dann anders über ihn. Du hast doch keinen Faden. Und wenn du recht hast und ihr Äons Plan vereiteln könnt …« Nervös zwirbelte Winnie eine ihrer roten Locken. »… vielleicht kannst du dadurch den Ausgang …« Flehend sah sie Lita an.

»Du hast gelesen, was hier steht?« Ein heißer Schauer überlief Lita. Winnie konnte sicher den kompletten Teppich lesen, da ihr Schicksal nicht mit Rukars verbunden war. Dann wusste sie … »Du weißt, ob wir es schaf‌fen!« Mit einem Mal fühlte sich ihr Mund ganz ausgedörrt an.

Winnie sah ertappt zur Seite. »Ich darf dir nichts verraten.«

Natürlich wusste Lita, dass Winnie alles vergessen würde, sobald sie Rukar oder Lita – die ja Teil seines Schicksals war – etwas über seine Zukunft erzählte. Dennoch konnte Lita nicht anders. »Was passiert mit Rukar? Was meinst du damit: den Ausgang … ändern? Verhindern?«

Winnie zog den Mantel enger um sich und wich vor Lita zurück. »Bitte, geh! Ich will doch nur, dass Tegan weiß, dass Rukar ihr Bruder ist.«

»Was?« Überrascht wich sie einen Schritt vor Winnie zurück. Tegan war … Rukars Bruder – natürlich!

Plötzlich war es ganz offensichtlich. Die Weberin auf Rukars Prophezeiung hatte sie an jemanden erinnert. Aber als sie im Café die Teppichfäden gelesen hatte, hatte sie die breiten Wangenknochen und dunklen Augen nicht mit Tegan in Verbindung gebracht. Beide hatten dieses dicke schwarze Haar, auch wenn Tegan ihres lila färbte. Der Schwung der Nase und das amüsierte Lächeln – nur Tegan benutzte es wenig. Vielleicht wäre es Lita sonst selbst aufgefallen.

»Aber … ich dachte …« Unsicher sah Winnie sie an. »Das weißt du doch schon … Was hast du ihm denn dann von seinem Teppich vorgelesen?« Hilflos hielt sie ihr den Teppich entgegen.

»Ich habe seine Mutter gesehen und mir war klar, dass sie eine Weberin ist, aber dass Tegan und er Geschwister sind …« Lita hätte Winnie zu gerne erneut über die Prophezeiung ausgefragt, darüber, was Rukar und damit auch ihr selbst bevorstand. Aber niemand durf‌te seine eigene Zukunft kennen. Dennoch versuchte sie, aus Winnies Blick einen Hinweis darüber abzulesen. »Wird er mit mir zurückkommen? Werden wir den Fluch lösen und einen neuen Baum pflanzen?«, flüsterte sie.

Winnie presste die Lippen aufeinander. »Sag Tegan, dass sie Halbgeschwister sind. Bitte. Ich kann es nicht. Ich werde sonst auch alles andere vergessen, was der Teppich mir gezeigt hat. Aber …« Ganz offensichtlich kämpf‌te sie mit den Tränen. »… ich will nicht vergessen. Und jetzt geh! Los!« Sie drehte sich um und rannte davon, den Teppich an sich gepresst, als wäre er die letzte Erinnerung an einen geliebten Menschen. Für einen Moment sah es so aus, als wollte Winnie wie immer in den Ästen des Baums verschwinden, doch sie bremste ab, strauchelte und rannte dann die Treppe hinauf.

Der Baum war morsch und glitschig. Stamm und Äste schimmerten nicht mehr silbrig, sondern waren schwarz und schmierig. Das Licht, das den Weberinnenturm erfüllt hatte, und die Melodie, die die Blätter stets geflüstert hatten – nichts davon war mehr da. Alles starb. Nicht nur der Baum, sondern mit ihm auch die Menschen. Es wurde Zeit, dass sie aufbrachen.

Lita wandte sich um und wollte die Treppe hinunter, doch da stieß sie beinahe mit Faine zusammen, der plötzlich vor ihr stand. Wo kam er denn her? Hatte er sich einen Swipe auf dem Schwarzmarkt geholt? Oder von Hanna eine Einladung in den Turm erhalten?

Entspannt lehnte er am Geländer und lächelte sie an. Sein grüner Samtanzug wirkte vor der Kulisse des sterbenden Baums wie ein Fehler. Das Grün leuchtete und funkelte wie der pure Frühling, doch um ihn herum war nur der Tod.

»Nun, junge Abenteurerin. Ich habe gehört, du wirst dich auf eine außergewöhnliche Reise begeben.«

»Hat Hanna dich gerufen?« Sie freute sich, den Glückskami zu sehen. Bisher hatte er ihr immer geholfen, auch wenn er es über Umwege tat. Aber das war vermutlich die Art und Weise der Kami. Überhaupt wirkte er in diesem Moment seltsam alt. Obwohl er noch immer aussah wie ein Zwanzigjähriger, lag etwas Uraltes und Wissendes in seinem Blick. Soweit Lita wusste, konnten Kami ihre Erscheinungsform frei wählen. Dass Faine also herumlief wie ein Student, bedeutete nicht, dass er ebenso jung war.

»Ich wollte dir Glück wünschen.« Er zwinkerte. »Mein Spezialgebiet.« Aus seiner Tasche zog er ein Stück rote Kordel.

»Ist das ein Schicksalsfaden?« Doch dazu war die Schnur zu robust und dick. Sie sah eher aus wie eine rote Paketschnur. »Gibt es diesmal keinen Glückskuss auf die Stirn?«

»Gib mir dein Handgelenk«, bat er sie und streckte die Hand aus. »Ich kann dich doch nicht dauernd küssen. Was soll Rukar denken?«

Zu ihrem Entsetzen schoss ihr Hitze in die Wangen. »Gar nichts würde der denken.« Gehorsam hielt Lita ihm ihre linke Hand hin und sah zu, wie Faine die Kordel darumschlang und verknotete. Sie hatte Faine jahrelang für einen Arbeitskollegen ihrer Mutter gehalten. Und obwohl er stets freundlich war, hatte sie ihn nicht wirklich leiden können. Er war nur wenig älter als sie selbst und sie war fest davon überzeugt gewesen, dass er in Hanna verliebt war. Weshalb sonst hatte er immer wieder bei ihnen herumgehangen? Ein knapp Zwanzigjähriger bei einer gut Vierzigjährigen …! Doch da hatte sie auch noch nicht gewusst, dass er ein Kami war.

»Es ist leicht, sich in der jenseitigen Welt zu verlaufen, Lita«, sagte er und prüf‌te, ob der Knoten fest war.

»Das hättest du mir jetzt nicht sagen dürfen«, grummelte sie. Die Angst, nicht rechtzeitig zurückzukehren, saß ihr sowieso schon im Nacken. Nun auch noch zu wissen, dass sie Gefahr lief, den Rückweg nicht mehr zu finden, gab ihr den Rest. »Ich verlauf mich doch selbst auf dem Weg in mein Zimmer!«

»Deswegen trägst du nun diesen … nennen wir es Anker.« Faine tätschelte lächelnd ihr Handgelenk. »Du darfst es unter keinen Umständen abnehmen. Versprichst du mir das?«

Lita nickte und sah auf das leuchtend rote Band an ihrem Handgelenk. »Versprochen.«

»Gutes Kind.« Zufrieden ließ er sie los, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah wieder aus wie ein schlaksiger Junge, der über Nacht vom Erwachsenwerden überrascht worden war. »Dann los. Rette die Welt!«

Einem Impuls folgend umarmte sie ihn. »Danke, Faine.«

Er schien für einen Moment wie erstarrt unter ihrer Berührung, doch dann legte er seine Arme um sie und erwiderte ihre Umarmung.

Circles of Fate (4). Schicksalserwachen

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