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Lisas Rückkehr

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Gut vier Monate waren inzwischen vergangen, seit Lisa Liebich zum letzten Mal den beeindruckenden Anblick des Hafens der Warnow genießen konnte. Ihr wurde wieder deutlich vor Augen geführt, welch außergewöhnliche Lage ihre Dienststelle hatte.

Eine Ewigkeit, dachte sie gerade, als sie die wenigen Treppenstufen zum Hauseingang hinter sich gelassen hatte. Sie stand vor der vertrauten Bürotür und zögerte etwas, ehe sie eintrat. Seit Lisa aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte sie sich Gedanken gemacht, wie sie bei der Rückkehr nach ihrer langen Abwesenheit empfangen würde. Sie kam zwar auf eigenen Wunsch ins Kommissariat zurück, gleichzeitig fühlte sich dieser Moment fremd an.

Erneut zeigte sich das maue Gefühl in der Magengegend. Der trübe Novembertag mit einem rauen Nordwestwind machte ihre Gefühlslage nicht besser.

Erst jetzt war sie in der Lage, ihren Dienst aufzunehmen. Dabei hatte ihr die mehrwöchige Psychotherapie geholfen, bei der die Therapeutin den Finger auf ihre seelischen Wunden gehalten hatte, die sie nach dem Übergriff des Mörders erlitten hatte. Kaum war es Lisa besser gegangen, wollte sie zurück zur Kripo. Dazu war es vor allem nötig, dass Peter Heilmeyer, ihr Chef, sie nach dem Vorfall fest anstellte. Sie hatte als Polizistin bei der Aufklärung eines Falls absolut fahrlässig gehandelt. Gleichzeitig konnten die Kollegen erst durch ihre ungewollte Beteiligung am Tatgeschehen, den Fall des Serienmörders zum Abschluss bringen. Der Täter wurde zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt. Eine anschließende Sicherheitsverwahrung wurde später gerichtlich beschlossen. Mit der Festsetzung des Mörders konnte die Akte »Soko Weiße Calla« endgültig geschlossen werden.

Diese lange Auszeit hatte sie gebraucht, um in diesen Job erneut einzusteigen. Von dem Plan, ein Jura-Studium zu beginnen, hatte sie sich bereits im Krankenhaus, nach dem brutalen Übergriff endgültig verabschiedet.

Während sie zu Hause bleiben musste, hatte sie mehrfach telefonisch das Gespräch zu ihrem Chef gesucht. Der hatte versprochen, sich zu melden, sobald das Team sich einig darüber wurde, ob es Lisa trotz des Vorfalls dabeihaben wollte. Vor einer Woche hatte sie endlich erfahren, dass die Entscheidung für sie positiv ausgefallen war.

Endlich war sie hergestellt und konnte in Heilmeyers Team zurückkehren. Mit dem Wiedereinstieg in den Job wollte sie mehr denn je üblen Verbrechern das Handwerk legen.

Jetzt stand Lisa Liebich vor dem Eingang des Kommissariats und klopfte zaghaft an die Tür, bevor sie diese öffnete. Kaum stand sie im Raum, wurde sie mit einem freudigen Hallo begrüßt. Alle waren da, selbst Tess aus der Gerichtsmedizin. Mit so einem Empfang hatte Lisa nicht gerechnet. Sofort waren alle Zweifel für einen Neubeginn verflogen.

»Na, du hast uns ja lange zappeln lassen. Aber gut, dass du zurück bist«, preschte Olli vor und begrüßte sie als erster in seiner kumpelhaften Art.

Für einen Arbeitstag, wie Lisa ihn kannte, war dieser eher besonders. Die Kollegen hatten Kaffee mit Kuchen vorbereitet und ein bunter Blumenstrauß stand mitten auf dem Tisch.

Tess deutete auf den Kuchen. »Den habe ich gebacken. Hoffe, dass er dir schmeckt.«

Lisa lächelte verlegen. »Woher weißt du, dass ich Käsekuchen besonders mag?«

»Wer mag den nicht?«

Lisa antwortete mit einem Lächeln.

So schnell wie sie gekommen war, verflog die anfängliche Unsicherheit, genauso das maue Gefühl in ihrer Magengegend. Ab jetzt freute sich Lisa ungehemmt über die herzliche und bedingungslose Begrüßung ihrer Leute.

Olli wartete nicht lange und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund. »Köstlich«, sagte er mampfend.

Der Kuchen von Tess schien auch den anderen zu schmecken, alle langten kräftig zu.

Jens schluckte schnell einen Bissen hinunter und sah Lisa an. »Traust du dir die Arbeit bei uns überhaupt wieder zu?«

Olli wartete Lisas Antwort gar nicht erst ab und meinte: »Wir hatten Angst um dich, gut, dass du keinen körperlichen Schaden genommen hast.«

Die meisten Kollegen hatte Lisa tatsächlich in den letzten Monaten nicht zu Gesicht bekommen. Lediglich Tess, Olli, Jens und der Chef hatten sie im Krankenhaus und zu Hause regelmäßig besucht.

Im Dienstraum hob sich allmählich der Geräuschpegel und kaum jemand verstand mehr sein eigenes Wort.

Peter Heilmeyer zeigte auf seine Uhr. »Leute lasst uns mit der Besprechung beginnen. Es wird Zeit.« Dann sah er Lisa an. »Du merkst, dass alle sich freuen, dich wieder dabeizuhaben. Aber jetzt kommt bitte langsam zum Schluss der Kaffeerunde, auf uns wartet jede Menge Arbeit. Der neue Fall ist zwar kein Mord, aber er wird uns mindestens genauso intensiv beschäftigen. Davon gehe ich jedenfalls fest aus. Er birgt jede Menge Gewaltpotenzial und könnte weitere Straftaten nach sich ziehen.«

Lisa kannte den Chef, wenn er in dieser vehementen Art seine Stimme erhob, duldete er keinen Widerspruch und erwartete, dass jeder zur Sachlage überging. Er konnte es nicht ausstehen, unnütz Zeit zu verlieren.

»Ich bin mir sicher, Lisa, du bist bald mittendrin in der Arbeit und wirst dich schnell zurechtfinden. Wir werden dich nicht schonen, das kann ich dir versprechen. Es gibt jede Menge zu tun und wir brauchen jeden Einzelnen, der konzentriert bei der Sache bleibt.«

Der Hauptkommissar wollte ihr offenbar zeigen, dass sie keine Praktikantin mehr war, sondern ein vollwertiges Mitglied im Team.

»Ich brauche keine Sonderbehandlung, ich bin hier, um das Beste zu geben. Bevor es für mich aber richtig losgeht, muss ich ein Dankeschön loswerden. Leute, danke! Für alles«, betonte Lisa, froh darüber einen guten Start hingelegt zu haben.

»Schon gut. Das eben war vielleicht etwas direkt, aber du kennst mich hoffentlich noch. Nichts für ungut.« Während Heilmeyer den letzten Satz herausbrachte, lächelte er Lisa zaghaft an. Sie lächelte zurück und das Eis zwischen ihnen war gebrochen.

Heilmeyer sprach weiter: »Lasst uns die bisherigen Ermittlungen besprechen, damit Lisa auf demselben Wissensstand wie wir ist. Übrigens passt dieser Fall perfekt zum gerade erschienenen statistischen Bericht. Vergewaltigung und sexuelle Nötigung stehen an zweiter Stelle der seit zwei Jahren erhöhten Straftaten in unserem Land. In dem Bericht wurde aufgezeigt, dass es eine satte Steigerung von 12,8 % gibt. Diese Info nur mal nebenbei.«

Heilmeyer war ganz bei der Sache. Er machte seine Tasche auf, holte einige Fotos hervor, mit denen er in die Richtung der zentral angebrachten Pinnwand ging. Die große, fast die Hälfte der Wand einnehmende Schautafel stand in direkter Blickrichtung zu allen Teilnehmern der Runde. Neben den Fotos heftete Heilmeyer auch einige Notizen an, von denen er manche farblich markierte.

Während der Hauptkommissar mit den Infos an der Pinnwand beschäftigt war, räumte Tess leise sämtliches Geschirr vom großen Arbeitstisch ab. Dann gab sie Lisa ein Zeichen, dass sie später telefonieren würden, und verließ den Raum.

Heilmeyer blickte intensiv auf ein Foto, markierte es farbig, ging einen Schritt zurück und betrachtete es wieder. Dann drehte er sich um. »Lasst uns Struktur hier reinbringen. Fällt euch etwas auf?«

Stille im Raum. Nicht nur Lisa konnte nichts mit den Pfeilen und Farbmarkierungen Heilmeyers etwas anfangen.

Lisas Augen huschten von Bild zu Bild. Aber was sollte sie schon mit ihnen anfangen? Schließlich war heute ihr erster Arbeitstag.

»Was soll uns dieses Foto mit der brutal zugerichteten Frau überhaupt sagen?«, fragte Lisa deshalb laut.

Auf einmal sah es aus, als wollten alle eine Antwort geben. Dabei murmelten sie sich nur untereinander etwas zu. Der Chef unterbrach die lauter werdenden Stimmen und schaute alle im Raum erwartungsvoll an. »Was gibt es da so lange zu überlegen? Seht euch alle Fotos an, nicht nur die mit den misshandelten Frauen. Wie ihr seht, haben wir zwei Opfer, die sind klar auf den Bildern hier zu erkennen. Von der anonymen Anruferin haben wir keine persönlichen Angaben. Aber ich will auf etwas anderes hinaus. Gibt es etwa nicht einen einzigen scharfsinnigen Beobachter unter euch?«

Lisa sah von Kollege zu Kollege und las in deren Gesichtern viele Fragezeichen. Heilmeyer wollte gerade selbst die Antwort geben, als Lisa eine Idee kam. »Ich bin zwar in den aktuellen Fall nicht involviert, aber das Foto der Frau auf der rechten Seite kommt mir bekannt vor. Und wenn ich das Logo darunter richtig deute, ist es dieselbe Partnervermittlung vom Sommer. Die spielte ja bereits im August keine unwesentliche Rolle. Wir konnten denen zwar keinen direkten Einfluss nachweisen, aber ganz geheuer waren mir die Damen nicht.«

»Bingo, Lisa! Genau diese Agentur meinte ich. Willkommen im Team! Ich merke, du bist dabei. Seit einiger Zeit betreiben die Leute neben dem uns bekannten Partnerportal eine mysteriöse Seitensprungagentur, und das nicht ganz legal. In diesen Kreisen sind sie längst keine Unbekannten mehr.«

Olli schaute irritiert. »Seitensprungagentur? Wie bitte darf ich mir so einen Laden vorstellen? Und was soll die mit unserem Fall zu tun haben?«

Heilmeyer sah Olli an. »Olli, stell dich nicht dümmer an als nötig. Der Name sagt es bereits. Aber eigentlich läuft alles im Hintergrund über eine Webseite ab, und genau die Seite wird von dieser ominösen Agentur angeboten. Dort melden sich oft unzufriedene Frauen an. Sie suchen für ihre speziellen Vorlieben einen entsprechenden Mann, weil sie sich nicht trauen, ihrem Partner oder Ehemann ihre speziellen Wünsche anzuvertrauen.«

»Meinst du etwa, sie sind Gefangene ihrer Triebe oder so was in der Art? Ich meine damit, dass sie ohne eigene Kontrolle, nymphoman oder so was Ähnliches sind?«

»Soweit würde ich nicht gehen, Olli, aber sicher haben die Männer und Frauen ihre Motive. Um ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen, ist ihnen sicher jedes Mittel recht, und wie es den Anschein hat, fängt hier unsere Arbeit an. Es hat sich herausgestellt, dass das Portal gleichermaßen alle Geschlechter anspricht. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass das Interesse von Frauen und Männern sich die Waage hält.«

»Okay, soweit klar. Aber noch einmal. Was haben diese speziellen Interessen von, wie du sagst, ›Getriebenen‹ mit unserem Fall zu tun? Wäre das nicht eher was für den Fachbereich Sitte?«

»Wir haben bisher zwei Frauen, die geschädigt wurden«, mischte sich Jens ein und sah von Olli zu Heilmeyer. Letzterer zeigte auf die Wand. »Seht euch die Fotos an! Das Opfer auf dem rechten Bild meldete sich direkt aus einem Hotel und rief in unserer Zentrale an. Inzwischen wissen wir, dass das Hotel ein beliebter Treffpunkt für Paare ist, die sich zum Sex verabreden. Und die Frau selbst gab offen zu, dass sie sich immer wieder mal mit fremden Männern traf, um mit ihnen Sex zu haben. Angeblich, weil sie den zu Hause von ihrem Mann nicht bekommt.«

»Das ist nicht gerade viel. Denn weder sprach sie davon, dass sie den Täter über ein Seitensprungportal kennenlernte, noch, dass sie mehrmals verletzt wurde«, warf Jens ein.

Heilmeyer hörte ihm aufmerksam zu und meinte schließlich: »Ich habe da noch etwas.«

Er öffnete seine Tasche und zog einen Ordner mit weiteren Fotos heraus, die er neben die anderen an die Wand anbrachte. Das neue Bild zeigte eine jüngere blonde Frau mit zerrissener Bluse und blutverschmiertem Oberkörper. Außerdem war ihr Gesicht stark gequollen. Genau wie auf dem Bild, das er schon angebracht hatte, machte die Frau einen desolaten Eindruck. Mit blauen Flecken und tiefen Wunden blickte sie ängstlich in die Kamera.

Heilmeyer hatte nun alle seine Fotos angebracht. »Seht euch die Fotos genau an. Frau Paul berichtete freiheraus auf ›nicht normalen Sex‹ zu stehen. So nannte sie das am Telefon, und dafür traf sie sich eben mit speziell veranlagten Männern. Sie wandte sich nur deshalb an die Polizei, weil sie das letzte Mal lebensbedrohlich verletzt wurde. Sie meinte, dass die Aktion einer Vergewaltigung gleichgekommen wäre und sie wohl von Glück sprechen könne, dass sie noch am Leben sei.«

»Und das alles erzählte sie am Telefon?« Lisa war überrascht.

»Genau, sie hatte den Mann noch am selben Tag angezeigt und erwähnt, dass der Schläger ein Kondom benutzt hat, bestimmt, um bei einem möglichen Gentest keine verwertbaren Spuren zu hinterlassen.«

»Und? Wann war das?«, wollte Olli ungeduldig wissen.

»Das war vor zwei Tagen!«

»So ein Date läuft natürlich absolut anonym ab, oder?«

»In der Regel schon.«

»Und? Wir sollen untersuchen, ob der Mann derselbe ist, der auch die andere Frau hart zugerichtet hat?«

»Ganz richtig, Jens. Einiges spricht dafür, anderes weniger. Auf den ersten Blick sieht es jedenfalls nach einem möglichen Zusammenhang aus. Frau Paul, die in der Lage war bei uns anzurufen, meldete sich ja gleich am selben Tag. Ihr erinnert euch? Sie nannte sogar das Hotel, aus dem sie anrief. Ob Frau Stolz im gleichen Hotel unterwegs war, müssen wir erst klären. Wir werden sie später sprechen, wenn sie überhaupt dazu in der Lage sein sollte, noch erlauben es die Ärzte nicht.«

»Der Typ hat sie ziemlich zugerichtet, jedenfalls soweit es auf den Bildern zu erkennen ist«, äußerte sich Lisa angewidert.

Heilmeyer antwortete nicht und ließ die Aussage für sich stehen.

»Das ist kein Zufall und wir sollten nicht warten, bis Frau Stolz vernehmungsfähig ist. Wir müssen handeln!« Ollis Ton klang ungewohnt barsch.

»Solange werden wir auch nicht brauchen«, gab Heilmeyer zur Antwort.

»Gibt es weitere Hinweise?«, meldete sich nun Lisa erneut zu Wort.

»Ja, der Mann hat sein mitgebrachtes Messer mehrfach zum Einsatz gebracht, um Frau Stolz bewusst Schmerzen zuzufügen. Wahrscheinlich befriedigte ihn das sexuell. Aber diese Verletzungen reichten ihm nicht, er fesselte sie auch und fügte Frau Stolz lebensgefährliche Schnittwunden zu. Nicht nur am Hals, wie hier deutlich zu sehen ist, sondern auch an den Armen, aber vor allem am Oberkörper. Mit seiner Quälerei zwang der Täter sie, perverse Handlungen an ihm vorzunehmen.«

»Ja und? Berichtete die Frau, die anonym aus dem Hotel anrief, Ähnliches?«

»So ist es, Jens. Wir haben es hier also jedes Mal mit einem identischen Muster zu tun. Deshalb habe ich mich im forensischen Bereich kundig gemacht.«

Olli nickte, bevor er seine Stimme erneut erhob »Die Fotos zeigen ganz klar sadistische Züge. Die Würgemerkmale, die blauen Flecken, alles sieht selbst auf den Fotos noch grauenvoll aus.«

»Hmm …« Lisa runzelte die Stirn. »Warum wurden die Frauen überhaupt mit dem Messer so stark verletzt, wenn er sie zuvor gefesselt hat?«

»Eine berechtigte Frage Lisa, die einem normal denkenden Menschen natürlich sofort aufkommt. Die Psychologen nennen das Dissexualität. Das ist eine Verhaltensstörung, die in beiden Fällen klar zu erkennen ist.«

Heilmeyer stand auf, ging zur Pinnwand und stellte sich, die Arme verschränkt, davor. Auf seiner Stirn erschien eine tiefe Falte, die Lisa sogar von ihrem Sitz aus gut erkennen konnte.

»Hierzulande kommt es zum Glück nur selten zu derartig schweren Übergriffen mit Vergewaltigungen in einem solchen schweren Ausmaß. Aber genau aus diesem Grund liegt das jetzt mit hoher Priorität auf unserem Tisch. Ich möchte noch mal die Psychologen zitieren, die meinen, dass bis zum sexuell motivierten Töten nur ein kurzer Weg sein kann. Der eine oder andere wird sich dunkel daran erinnern, dass wir im Strafgesetzbuch unter ›Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung‹ in den Paragrafen § 174 – 184 alles zur Rechtslage nachlesen können. Wen das im Detail interessiert, sollte da ruhig mal reinschauen, weil wir mit derartigen Straftaten eher selten zu tun haben.«

»Also können wir davon ausgehen, dass die Männer oder der Einzeltäter bald töten wird?«

»Genau, Jens. Solange diese Männer ihre Fantasie in den eigenen vier Wänden mit ihren eigenen Partnern auf freiwilliger Basis ausleben und kein anderer Mensch geschädigt wird, bleiben die Handlungen eine persönliche Angelegenheit. Sobald Personen vergewaltigt und zu perversen Handlungen gezwungen werden, ist das abnorm und wir müssen handeln.«

Peter Heilmeyer machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Ihr wisst, die Umstände machen die Tat. Wir müssen also verhindern, dass aus der nächsten Vergewaltigung ein Mord wird.«

»Und zwar so schnell wie möglich. Es dürfen nicht noch mehr Frauen in die Falle dieser kranken Männer tappen«, mischte sich Lisa mit fester Stimme ein. Die brutalen Vergehen an diesen Frauen erinnerten sie nur allzu genau an ihre eigene drastische Situation vor wenigen Monaten. Sie schluckte schwer. Besann sich aber schnell und wollte sich besser auf die anstehende Arbeit mental einstellen und aktiv werden.

»Ich könnte mich morgen früh gleich auf den Weg in die Partnervermittlungsstelle machen und den Frauen dort mal auf den Zahn fühlen. Die dürften nicht mehr so unwissend rüberkommen wie beim letzten Mal. Zumal Reiman, der von uns überführte Mörder, auch ein Klient von ihnen war. Kooperativ konnte man die Zusammenarbeit mit denen ohnehin nicht nennen. Bin gespannt, was die Blondinen dieses Mal zu bieten haben.«

»Gut, Lisa. Du kennst dich dort ja aus. Doch wie gesagt, es geht uns jetzt nicht um die Partnervermittlung, sondern um die neue Seitensprungagentur.«

»Vielleicht gibt es weitere geschädigte Frauen, die ihren Lover dort kennengelernt haben?«

»Zumindest Frau Paul gab an, dass sie den Mann auf dieser Seite kennengelernt hat.«

Olli zog sein Handy aus der Tasche und tippte auf diesem kurz rum, bis er vielsagend aufblickte. »Hört mal, ich habe da was recherchiert.« Er räusperte sich, bevor er begann den herausgesuchten Text laut vorzulesen: »Vergiss enttäuschende Bekanntschaften – hier gibt es Männer und Frauen, die Spaß haben wollen! Melde dich bald an und du findest garantiert den Partner, der zu dir passt. Unsere Leute von Seitensprung.de sind natürlich, tolerant und lechzen nach neuen Abenteuern. Du kannst all deine Fantasien ausleben und lang ersehnte Träume wahr werden lassen! Bisher hat jeder bei uns seinen perfekten Gegenpol gefunden.«

»Na ja, das hört sich maßlos übertrieben an, aber das muss es wohl auch, um überhaupt die Leute mit speziellen Vorlieben zu erreichen.« Jens betonte das Wort »maßlos« besonders stark und ergänzte: »Wobei ich denke, dass solche Foren gar nicht schlecht sind. Wenn wirklich ein Topf seinen Deckel finden würde, wäre alles okay. Böse wird es erst, wenn einer von beiden eine andere Vorstellung vom Sex oder der Herangehensweise zum Höhepunkt hat.«

Heilmeyer unterbrach Jens, der seine ausschweifenden Anmerkungen gerade fortsetzen wollte. »Uns interessieren weniger die sexuellen Vorlieben dieser Herren als ihre Straftaten, die in dem Zusammenhang stehen. Deshalb der Reihe nach, der letzte Übergriff auf eine Frau, wurde uns erst gestern gemeldet. Wir prüfen sämtliche Zusammenhänge, die es auch mit anderen Frauen gab, und laden diese so schnell wie möglich zur Befragung zu uns ein.«

»Ich überprüfe die Angaben zum Hotel. Vielleicht plaudern die an der Rezeption etwas aus«, meinte Olli, sah Lisa dann an und gab ihr mit den Augen ein Zeichen. Sie verstand ihn sofort. »Ich könnte mit Olli gemeinsam zum CityHotel fahren und würde von Graal-Müritz mit dem Zug fahren, so wäre es kein Umweg.«

»Meinetwegen, übernehmt ihr morgen früh das Hotel und im Anschluss könnt ihr gleich die Partneragentur aufsuchen.«

»Apropos Hotel, das CityHotel soll in unmittelbarer Nähe zum Rostocker Hauptbahnhof sein. Von dort ist man relativ schnell aus der Stadt verschwunden. Seht euch das genauer an. Vielleicht ist es sogar möglich, anonym rein- und rauszuspazieren.«

Lisa nickte. Sie kannte sich in der Gegend relativ gut aus, weil sie manchmal mit dem Zug von Graal-Müritz nach Rostock fuhr.

»Nicht schlecht gewählt«, meinte auch Olli.

»Aus diesem Grund nehmt ihr morgen als Erstes das Hotel unter die Lupe. Bin gespannt, welche Neuigkeiten ihr herausbekommt. Wenn es als Stammhaus des Seitensprungportals läuft, dürfte das den Leuten von der Rezeption nicht entgangen sein«, ergänzte Heilmeyer.

Olli nickte unruhig und deutete auf seine Uhr als Zeichen, dass er noch einen Termin in anderer Sache hatte.

»Gebt mir eine Minute, bevor wir für heute etwas zeitiger auseinander gehen. Jens, du machst bei den Webseiten im Netz weiter. Vielleicht gibt es noch mehr Portale, die spezielle Dates anbieten.« Heilmeyer stand auf, ging zur Pinnwand und zeigte auf die angebrachten Fotos. »Die beiden Frauen hier an der Wand sind nicht die Einzigen. Die dritte Frau blieb bis auf wenige Telefonangaben bis jetzt zwar anonym, aber ich denke, dass keine weitere dazukommen darf. Das ist uns allen wohl klar. Macht heute mit euren Recherchen weiter. Ich bin im Außendienst, morgen schließen wir an dieser Stelle an.«

Lautes Klopfen auf den Tisch wurde von schrillem Schurren der Stühle verstärkt.

Bevor sie mit den anderen hinausging, verschaffte sich Lisa in einem Ordner einen Überblick über die Arbeit der letzten Monate und merkte, dass einiges nachzuholen war.

Um 17 Uhr war Lisas erster Arbeitstag Geschichte, aber ihr Job als vollwertige Kollegin in Heilmeyers Team hatte gerade erst begonnen. Sie war keine Praktikantin mehr, und das wollte sie ab jetzt auch unter Beweis stellen.

Alle Kollegen waren bereits auf dem Weg zu ihren Autos, nur Olli kam ihr entgegen und hielt sie am Arm fest. »Hey, nicht so schnell. Ich freu mich wirklich, dass du zurück bist. Wollte dir das nur noch einmal persönlich sagen. Um welche Uhrzeit treffen wir uns morgen?«

»Wie gesagt, manchmal fahre ich mit dem Zug von Graal-Müritz nach Rostock, das dauert etwa eine halbe Stunde. Ich denke, um neun Uhr könnte ich am Bahnhof sein. Hol mich dort ab, dann laufen wir zum Hotel rüber und anschließend zur Partneragentur.«

»Gut, so machen wir das. Kann ich sonst irgendwas für dich tun?«

Lisa schaute Olli überrascht an. »Hallo? Du, ich bin fit. Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich habe genug getan, um die böse Geschichte vom Sommer loszuwerden. Aber, wenn was sein sollte, wärst du der Erste, der davon erfährt. Versprochen.«

»Dann verstehen wir uns ja und fangen einfach dort an, wo wir im Sommer aufgehört haben. Ich denke, das wird die beste Basis für eine gute Zusammenarbeit sein.«

»Danke Olli, du hast recht. Wir sollten so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren. Morgen wird ein guter Start dafür sein. Dir einen schönen Abend, bis später.«

Olli nickte zustimmend und ging mit ihr zusammen in Richtung Parkplatz. Als er in sein Auto stieg, schaute Lisa ihm mit einem langen Blick hinterher und spürte plötzlich ein wohliges Gefühl durch ihren Körper fließen. »Ich bin zurück«, dachte sie gut gelaunt.

Auf der Heimfahrt nach Graal-Müritz ließ Lisa den ersten Arbeitstag Revue passieren. Dieser war deutlich einfacher verlaufen, als sie es zuvor vermutet hatte. Ihre Leute freuten sich aufrichtig und erleichterten ihr mit ihrer Freude den Wiedereinstieg. Ihr wurde zwar immer noch mulmig zumute, wenn sie am Waldstück in der Rostocker Heide vorbeifuhr, in das der Mörder sie entführt hatte. Doch ab heute sollte der normale Alltag beginnen. Sie wollte endlich zur Normalität zurückkehren.

Sie erreichte gerade Torfbrücke, den Vorort von Graal-Müritz, als ihr der leuchtend bunte Blätterwald auffiel. Die goldenen Baumkronen glitzerten in der Sonne und ihr wurde vom Anblick warm.

Bis vor einigen Tagen hatte Lisa überhaupt keine Augen für den Herbst mit seiner bunten Pracht gehabt. Die fallenden Blätter sah sie als Gleichnis für ihre momentane Situation. Altes fiel ab, damit Neues entstehen konnte. Dieser Gedanke gefiel ihr und sie atmete leicht und unbeschwert durch, so wie schon lange nicht mehr.

Selbst zu Hause ging Lisa vieles leichter von der Hand. Sie dachte daran, dieses besondere Gefühl an diesem Abend mit einem Titel ihrer Lieblingsmusik zu unterstreichen. Sie ging ihre übersichtliche und gut sortierte Schallplattensammlung durch. Nach dem Umzug von Rostock nach Graal-Müritz vor drei Jahren, wollte sie nur noch wenige behalten. Die mit Nelly Furtado war zwar eine Platte älteren Datums, aber der Titel »I'm Like A Bird« sprang ihr dennoch sofort ins Gesicht. Mit diesem Lied ließ sich garantiert ihre gute Laune verstärken.

Behutsam legte sie die Platte auf den uralten Player und drehte die Lautstärke ungewöhnlich laut auf. Die Musik würde eh niemanden stören, weil im Herbst kaum Leute anzutreffen waren. Selbst das Haus, in dem sie lebte, blieb meist Feriengästen vorbehalten, sodass Lisa in der Nachsaison fast allein in diesem dreistöckigen Haus wohnte.

Graal-Müritz strahlte in der Nachsaison eine entspannte Ruhe aus. Der Ort gehörte wieder den Einheimischen, aber das bedeutete nicht, dass Lisa sich einsam fühlte. Sie mochte den Herbst mit all seiner bunten Pracht besonders gern. Die Abende wurden zwar kürzer, aber umso gemütlicher machte sie es sich in dieser dunklen Jahreszeit zu Hause mit einem guten Buch vor dem knisternden Kamin. Sie würde neu durchstarten und den Kollegen zeigen, dass es richtig war, ihr eine zweite Chance zu geben. Der Anfang war geschafft. Ihre Gedanken wanderten in eine positive Richtung, nach vorn. Sie war raus aus dem Tief.

Die Last der Lust

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