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Klinikum Südstadt Rostock

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Olli wartete vor dem Eingang des Südstadt Krankenhauses und sah ungeduldig auf seine Uhr. Er hasste es, der Letzte zu sein, privat und erst recht, wenn es um dienstliche Belange ging. Aber noch mehr nervte ihn, wenn man ihn lange warten ließ. Auf einmal schrillte sein Telefon in der Tasche, als er aufs Display sah, erschien Lisas Nummer.

»Wo drückt dir am Morgen denn der Schuh? Bist du etwa zu früh aus dem Bett gefallen?«

»Nichts von beidem. Musste gerade an die Frau im Krankenhaus denken, die ihr gleich befragt. Hoffe, dass sie Informationen hat, die uns weiterbringen. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass ich in Gedanken bei euch bin.«

»Aha! Das ist nett von dir. Aber sonst muss ich mir keine weiteren Gedanken machen?«

»Mensch Olli, rede keinen Blödsinn. Darf ich dich nicht mal anrufen, ohne dass du schräge Hirngespinste bekommst? Wir sehen uns nachher.«

Bevor Olli antworten konnte, hatte Lisa aufgelegt.

Was war das denn eben? Lisa hatte sehr seltsam geklungen, irgendwie müde. Olli starrte immer noch aufs Telefon, als Heilmeyer und Jens ankamen.

»Morgen miteinander. Lisa hat mich eben angerufen. Ich habe den Eindruck, sie wäre gern bei der Befragung dabei.«

»Und woher kommt dein Eindruck?«, interessierte sich Heilmeyer.

»Nur so ein Gefühl. Aber warum sonst sollte sie, noch bevor wir die geschädigte Frau befragen, anrufen und uns viel Erfolg wünschen?«

»Okay, bitte lasst ab jetzt persönliche Mutmaßungen draußen. Wir haben als Erstes einen Termin in der Unfallchirurgie mit dem behandelnden Arzt der Frau. Den Kontakt konnte ich gestern erst herstellen, weil ich ihren behandelnden Arzt nicht ans Telefon bekam. Die Befragung von Frau Stolz wollte ich aber von ihrem Arzt abgesegnet haben. Er sagte mir auch, dass sie auf Station zwei liegt.«

Der Chef wartete keine Antwort ab und lief voraus. Olli und Jens blieb nichts anderes, als ihm zu folgen.

Der Arzt wirkte bereits aus der Ferne unruhig. Er wies eine Schwester barsch ab und eilte ihnen mit hastigen Schritten entgegen.

»Viel Zeit habe ich nicht«, sagte er dann tatsächlich zur Begrüßung. »Die nächste Operation wartet auf mich. Zehn Minuten gebe ich Ihnen aber gern.«

»Das sollte genügen«, meinte Heilmeyer gelassen.

Der Arzt bat die Beamten zu sich ins Dienstzimmer und fing an zu berichten, ohne eine Frage des Hauptkommissars abzuwarten. »Also, Frau Stolz wurde übel zugerichtet. Der Täter hat sie nicht nur lebensgefährlich verletzt, sondern auch misshandelt. Dabei sind die Knochenbrüche noch das geringste Übel. Wie ich Ihnen gestern schon sagte, mussten wir die Patientin ins künstliche Koma versetzen. Dadurch konnten wir einige tiefen Wunden versorgen, ohne dass sie die Prozedur bei vollem Bewusstsein mitbekam. Aus unserer Sicht hatte sie großes Glück, die Folter überlebt zu haben. Das hat sie nur ihrem ansonsten gesunden Körper und einer robusten Konstitution zu verdanken. Ich schlage vor, Sie besprechen heute mit Frau Stolz nur allgemeine Fragen. Sie darf auf keinen Fall überfordert werden. Meinen Sie, dass eine Viertelstunde genügt?«

Der Arzt musterte Olli, dann Heilmeyer, der sogleich antwortete: »Ich denke, das reicht für das erste Gespräch.«

»Können Sie schon sagen, wie lange die Frau bei Ihnen bleibt? Oder wird sie später auf eine andere Station verlegt?«, fragte Olli.

»Das kann ich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, aber wir halten Sie selbstverständlich auf dem Laufenden.«

»Ist es möglich, dass wir die Frau gleich in ihrem Zimmer aufsuchen?«

»Ja, sie liegt im Zimmer 34, das ist ein Einzelzimmer. Da sie ständig versorgt werden muss, hielten wir das vorerst für das Beste. Aber sobald es ihr besser geht, werden wir sie wegen des sozialen Kontakts verlegen. Das ist für ihre mentale Situation wichtig.«

Der Arzt stand als erster auf, Heilmeyer, Olli und Jens folgten ihm.

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ich kann mir gut vorstellen, wie eng Ihr Dienstplan aussieht. Bei uns sieht es nicht anders aus«, meinte Heilmeyer.

»Gern. Viel lieber wäre mir natürlich, wenn es solche Fälle erst gar nicht gäbe.«

Heilmeyer nickte zustimmend und verließ mit Jens und Olli den Raum.

»Lasst uns auf der Station zwei das Zimmer 34 suchen«, meinte Heilmeyer und hielt auf eine Schwester zu, die ihnen den Weg zeigte.

»Ich schlage vor, dass nur zwei von uns die Frau aufsuchen. Ihr Zustand ist absolut desolat, wie wir eben erfahren haben, da würden wir sie mit voller Mannschaft nur erschrecken«, schlug Heilmeyer vor.

»Das sehe ich genauso und verzichte freiwillig«, meinte Jens schnell. Er holte sein iPhone aus der Tasche und zeigte darauf. »Es gibt genug zu tun. Ich warte auf euch da drüben im Wartebereich, aber vergesst bitte nicht, mich nachher abzuholen.«

»Natürlich nicht! Bis gleich.«

Olli klopfte zaghaft an die Tür, wartete aber keine Antwort ab und trat ein. Das Bett der misshandelten Frau stand direkt am Fenster, überall waren Gerätschaften an der Wand angebracht und zwei Monitore surrten monoton.

Da Frau Stolz nicht reagierte, trat Olli näher an das Bett heran. Wie es aussah, schlief sie. Er übernahm es, sie zu wecken.

»Frau Stolz?«

Frau Stolz öffnete erschrocken die Augen. Durch den Verband an ihrem Kopf wirkten sie groß und markant, wahrscheinlich größer als sie wirklich waren.

Instinktiv sprach auch Heilmeyer sie mit leiser Stimme an: »Hauptkommissar Heilmeyer, das ist mein Kollege Olaf Wilke. Wir sind froh, dass Sie das Schlimmste überstanden haben. Sind Sie in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten? Ihre Angaben sind wichtig, um den Mann, der Ihnen das angetan hat, schnell hinter Gitter zu bringen. Er darf keiner Frau mehr so etwas antun.«

Frau Stolz nickte heftig und gab eine erstaunlich klare Antwort. »Ja, das will ich natürlich auch nicht. Ich frag mich ständig, seit mein Kopf wieder einigermaßen klar ist, wie mir so was passieren konnte.«

»Na ja, mit so viel Brutalität rechnet normalerweise kein Mensch«, bemühte Olli sich, sie zu trösten. So ein Häufchen Elend hatte er lange nicht gesehen. Die Frau tat ihm leid. »Und Vorwürfe bringe Sie jetzt auch nicht weiter.«

»Wir haben ein paar Fragen vorbereitet, die uns womöglich weiterhelfen, den Mann zu überführen.« Heilmeyer wollte wohl schnell beginnen, um die Befragung nicht unnötig in die Länge zu ziehen. »Sie sind nicht die Einzige, die misshandelt wurde. Es gibt zwei weitere Frauen. Aber, das kann Sie sicher nicht trösten«, ging Heilmeyer beschwichtigend auf die Frau ein. »Lassen Sie uns am besten gleich beginnen, damit wir Sie nicht unnötig belasten. Wo sind Sie auf den Mann gestoßen?«

Frau Stolz sah aus, als müsste sie nachdenken. »Im Internet, eine Freundin hatte mir von diesem Portal erzählt«, begann sie schwerfälliger zu reden und machte eine kurze Pause, um mühsam ein Glas vom Nachttisch zu nehmen. Erst nachdem sie etwas getrunken hatte, sprach sie weiter. »Ich hatte meiner Freundin gebeichtet, wie mau es in meiner Ehe zugeht. Nach über 25 Jahren wohl kein Wunder?«

Olli wollte den hinkenden Vergleich nicht unkommentiert stehen lassen. Er kannte es von seinen Eltern anders, die mehr als 30 Jahre verheiratet waren und deren Ehe weiterhin liebevoll und vertraut war. »Allerdings gibt es auch Ehen, wo alles stimmt, sogar noch nach vielen Jahren.«

»Das weiß ich ja«, meinte Frau Stolz kleinlaut, drehte sich um und nahm sich ein Taschentuch. »Ob Sie mir das glauben oder nicht, ich liebe meinen Mann. Er ist der großartigste Vater, den es gibt.« Die Frau machte erneut eine Pause, schluchzte laut und sprach zaghaft weiter. »Wir sprechen über vieles, aber mir fehlte dennoch etwas. Seit vielen Jahren schlafen wir wie Bruder und Schwester nebeneinander ein. Keiner meiner Küsse weckt seine Begierde. Ja und kein einziger Kuss endete mehr beim Sex. Wirklich alle meine Verführungsversuche schlugen fehl.«

Die Frau hörte wieder auf zu sprechen. Sie merkte anscheinend, dass alles, was sie sagte, einer Entschuldigung gleichkam und nach einem Fehltritt aussah. Doch plötzlich schien sie wie ausgewechselt und sprach klar weiter. »Als ich den Text des Mannes auf der Internetseite las, wusste ich: Das ist er. Wir schickten Bilder hin und her. Selbst was ich anziehen sollte, bestimmte er. Der Gedanke, dass ein Mann mich sexy fand, erregte mich. Und jetzt …«

Sie schluchzte und begann leise zu weinen. Olli reichte ihr ein Taschentuch und wartete einen Augenblick, ehe er weiter fragte. »Wo haben Sie sich getroffen?«

»Das war in der Nähe des Bahnhofs. Ich wohne in Dierkow und habe zurzeit kein Auto. Er selbst schlug das CityHotel am Bahnhof in Rostock vor. Das musste auch für ihn gut gewesen sein. Er betonte, dass er nicht aus Rostock käme.«

»Woher kam er?«

»Darüber sprachen wir nicht. Ich hatte ihn an diesem Tag erst zum zweiten Mal getroffen. Er hatte auch keinen mecklenburgischen Dialekt, im Gegenteil, ich erinnere mich an ein ziemlich gutes Hochdeutsch. Also von der Küste kam er bestimmt nicht. Sonst erkenne ich das gleich.«

»Haben Sie vorher schon mal das Seitensprungportal genutzt oder haben Sie den Mann gleich beim ersten Anlauf getroffen?« Olli wollte unbedingt wissen, ob der Mann sich die Frauen erst nach längerer Suche schnappte.

»Ich hatte einige Tage zuvor recherchiert. Eigentlich wollte ich mir die Sache noch mal überlegen. Sowas hatte ich meinem Mann zuvor nie angetan. Wie gesagt, im Internet sah der Täter gut aus und machte viele Versprechungen. Aber ich will nicht lange drum herumreden, ich hatte einfach Lust auf ein Abenteuer und wollte mich endlich wieder mal spüren.«

Heilmeyer sah Olli kurz an, der verstand es als Aufforderung, seine letzte Frage zu stellen. »Dürfen wir noch einmal vorbeikommen, falls sich weitere Fragen ergeben?«

»Natürlich. Wenn ich behilflich sein kann, dieses Monster endlich hinter Gitter zu bringen, dann gern.«

»Vielen Dank, Frau Stolz, wir wünschen Ihnen baldige Genesung und alles Gute auch privat.«

Heilmeyer stand bereits in der Tür, als Olli noch eine Frage einfiel.

»Ach ja, hat Ihr Mann Ihnen eigentlich den Seitensprung verziehen?«

Heilmeyer wirkte entsetzt und schüttelte den Kopf. Da Olli die Frage aber nicht zurücknahm, entschied er sich wohl selbst einzugreifen: »Verzeihen Sie meinem Kollegen diese indiskrete Frage, auf die Sie natürlich nicht antworten müssen.«

»Es ist sowieso alles egal«, antwortete Frau Stolz resigniert. »Nein, er ist mehr über mein Verhalten schockiert als über die Tatsache, wie der Kerl mich zugerichtet hat. Ich wünsche mir jetzt nichts sehnlicher, als dass sich unsere Beziehung wieder glättet und so wird wie früher.«

Die Beamten nickten verständnisvoll.

»Ich würde gern einen Zeichner aus unserem Kommissariat zu Ihnen schicken, der würde mit Ihnen gemeinsam ein Phantombild anfertigen. Wäre das für Sie in Ordnung?«, fragte Heilmeyer.

»Bitte nicht heute. Jetzt brauche ich Ruhe. Das Gespräch hat mich ziemlich belastet und aufgewühlt.«

»Keine Sorge. Wir haben mittlerweile eine spezielle Software, die für diese Aufgabe entwickelt wurde und dazu einen Fachmann, der ein Phantombild ziemlich rasch herstellen kann. Das dauert nicht lange.«

»Das wäre gut, bin ja hier festgenagelt, und das sicher für eine nicht absehbare Zeit. Weglaufen ist also nicht möglich.« Die Trauer war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören und so fiel es Olli schwer, zu antworten, aber er fand dennoch ein paar Worte. »Wir werden unseren Besuch vorher ankündigen, dann wissen Sie Bescheid und können sich auf unser Treffen einstellen.«

Die Frau schloss die Augen als Zeichen, dass sie jetzt allein sein wollte. Olli schloss die Tür beim Hinausgehen genauso zaghaft wie beim Eintritt.

Beide Männer blieben vor der Tür stehen und atmeten erst mal kräftig durch. Olli war der erste, der seine Sprache wiederfand. »Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob ich sie bedauern soll. Irgendwie hat sie sich da selbst rein manövriert.«

»Das ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen. Wir müssen den Typen finden, der sie so zugerichtet hat. Vor allem wissen wir jetzt, dass wir im CityHotel weiter auf Spurensuche gehen sollten, und Jens bekommt auch einiges mehr zu tun. Das können wir ihm gleich persönlich sagen.«

Jens hatte es sich im Warteraum bequem gemacht, so gut es eben ging. Er war gerade im Gespräch mit einem Besucher, als Olli und Heilmeyer ankamen. »Hat ja nicht lange gedauert«, begrüßte Jens die beiden.

»Dafür haben wir dir genug Arbeit mitgebracht. Lass uns gleich losfahren. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Auf dem Weg zur Dienststelle klärte Heilmeyer Jens über die anstehenden Aufgaben auf.

»Okay, wann soll ich die Frau aufsuchen, um das Phantombild anzufertigen?«

»Warte erst mal die Befragung am Nachmittag ab. Vielleicht ist Frau Paul in der Lage, eine gute Beschreibung zu liefern, dann könntest du darauf aufbauen. Es müsste schon ein großer Zufall sein, wenn zeitgleich mehrere Männer von diesem ominösen Seitensprungportal in ein und demselben Hotel aktiv gewesen sein sollten.«

»Und so brutal zuschlugen«, ergänzte Olli.

»Wobei die dritte Frau, die direkt nach dem Vorfall die Polizei anrief, nicht solche Blessuren davongetragen haben kann.«

»Wie kommst du darauf, Jens?« Der Hauptkommissar zeigte sich erstaunt.

»Na ja, von der hat man nie wieder was gehört, keine Angaben über sich oder den Mann. Nicht mal, ob sie verletzt wurde. Ja und es gab auch keine Protokollnotiz.«

»Immerhin hat sie uns erst auf die Spur des CityHotels gebracht. Sie war es ja, die beim Anruf das Hotel nannte.«

»Nur als die Streifenpolizei ankam, war weder von der Frau noch von dem Mann etwas zu sehen. Das Personal an der Rezeption hielt sich genauso bedeckt. Damit hatte sich für alle die Sache erledigt«, fügte Olli entrüstet hinzu.

Heilmeyer nickte. »Da habt ihr recht. Wir müssen herausbekommen, was wirklich passiert ist. Diese Frau sollten wir schnellstmöglich finden. Fakt ist, dass der brutale Typ mit Beweisen festgenagelt werden muss, bevor er erneut zuschlägt. Was offensichtlich im wahrsten Sinne des Wortes zutrifft.«

Die Last der Lust

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