Читать книгу Die Last der Lust - Marion Petznick - Страница 7

Rostock, Kriminalkommissariat

Оглавление

Lisa und Olli kamen ziemlich abgehetzt im Dienstraum an. Dabei waren sie längst nicht die Letzten, selbst der Chef war noch nicht da.

Die anderen nutzten die Gelegenheit Lisa weiter auszuquetschen, am Tag zuvor blieb kaum Zeit dafür. Sie hatte sich verändert, das war vor allem den Kollegen vom internen Kreis nicht entgangen. Wenige Minuten später betrat auch Peter Heilmeyer den Raum. Allmählich verstummten die angeregten Gespräche. Er war nicht allein, ein untersetzter Mann ohne nennenswerte Haare begleitete den Hauptkommissar. Der bot ihm direkt an seiner Seite einen Platz an, bevor er den Anwesenden den Mann als einen Kollegen vorstellte.

»Dr. Walter Althaus ist unter anderem Spezialist für verbotene Internetforen. In diesen Fragen arbeitet er eng mit dem LKA in Berlin zusammen. Er hat heute etwas Zeit freigeschaufelt, um uns bekannte Muster aufzuzeigen, die auf solchen Portalen zu finden sind. Ihr seht, unser aktueller Fall zieht bereits Kreise bis in die oberste Etage. Da Dr. Althaus’ Zeit begrenzt ist, lasst uns sofort beginnen.«

Dr. Althaus erhob unmittelbar nach der Vorstellung seine Stimme: »Danke für die nette Vorstellung, Peter. Ich werde ohne Umschweife oder lange Vorreden loslegen. Denke allerdings, dass euch einiges bekannt vorkommen könnte. Damit meine ich auch diese Zahl.« Er stand von seinem Platz auf und schrieb in die Mitte der Pinnwand »100.000 Straftaten im Netz.«

»Könnt ihr das so genau bestimmen?«, fragte Jens.

»In etwa. Jährlich werden circa hunderttausend Straftaten im Netz festgestellt, und das ist nur die Spitze des Eisberges. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher liegen.« Dr. Althaus schrieb weiter und markierte einige Zahlen. »Ich weiß, dass ihr gerade einen speziellen Fall auf dem Tisch habt, und denke, dass es für unsere Arbeit wichtig sein kann, engmaschig Informationen auszutauschen. Im LKA ist die zuständige Abteilung vor allem mit dem Cybergrooming beschäftigt. Einige kennen das sicher schon. Cybergrooming bedeutet nichts anderes als das Anbahnen oder Vorbereiten einer Straftat im Netz, also das strategische Vorgehen der Täter. Genauso gibt es selbstverständlich auch Täterinnen. Dabei wissen wir inzwischen, dass die Verbrecher es besonders darauf absehen, die Wahrnehmung und das Handeln von jungen Menschen zu manipulieren. Ja, man könnte auch sagen, dass Träume und Sehnsüchte der Kids künstlich aufgebaut werden.«

»Und da haben sie bei den meisten Kids leichtes Spiel«, unterbrach Peter Heilmeyer seinen Kollegen. »Ihr wisst selbst, wie leicht diese manipulierbar und beeinflussbar sind.«

Lisa dachte an den letzten Sommer. Alles hatte im Internet begonnen. Sie war erfahren und dennoch auf einen Verbrecher reingefallen. Sie hörte aufmerksam zu, ihre Kollegen dagegen wurden unruhig, weil Jens der Computerspezialist, sie unlängst über diese Verbrechen aufgeklärt hatte.

Althaus bemerkte wohl die aufkommende Nervosität im Raum. Er kräuselte ungehalten die Lippen, ließ sich aber sonst nicht beirren. »Die Täter im Netz geben sich meist als gleichaltrige oder nur wenig ältere Jugendliche aus, dabei zeigen sie sich als verständnisvolle Traumtypen. Die von ihnen verschickten Textnachrichten sind harmlos und zielen aufs Alltagsgeschehen ab. 65 Prozent der Täter sind unter 30, 25 Prozent sind zwischen 14 und 18 Jahren alt. Minderjährige sind demnach nicht immer nur die Opfer, sondern werden zunehmend selbst zu Tätern. Oft kommen die betroffenen Opfer aus Elternhäusern, die sich weniger um sie kümmern.«

»Sie sehen die Täter ja nicht, und die können übertrieben das Blaue vom Himmel lügen, damit erzählst du uns nichts neues«, warf Jens überheblich in den Raum.

Lisa konnte seinen Einwurf gut verstehen. Interessant wären Informationen darüber, ob es allgemeine Verknüpfungen zu dem Seitensprungportal in Rostock gibt. Zwielichtige Portale in der digitalen Welt der Kids waren allen längst bekannt. Fälle in diesem Bereich wurden in Rostock aber eher selten gemeldet, weshalb die Anzeigen spärlich und überschaubar waren. »Ich merke, dass ihr euch auskennt, aber ich möchte meine Ausführungen mit dem allgemeinen Begriff des ›Cybercrime‹ vervollständigen. Mit diesem Begriff sind alle Straftaten im Internet gemeint, also informationstechnische Systeme oder deren Daten. Computersysteme werden manipuliert und damit persönliche Daten abgefangen.«

»Genau, der sogenannte Identitätsdiebstahl.« Wieder war es Jens, der sich einmischte.

Dr. Althaus nickte. »Meist wird Lösegeld gefordert oder es werden andere kriminelle Handlungen mit den Daten betrieben. Mir ist bewusst, dass ihr mit einigen dieser Straftaten in der Praxis längst konfrontiert wart. Ich möchte euch lediglich einen kurzen Überblick geben, bevor wir uns mit den in unserer Abteilung erhobenen statistischen Erhebungen beschäftigen. Die Daten gründen auf präzisen Ermittlungen unserer Kriminalbeamten. Wir haben dabei eine große Anzahl von Netzwerken untersucht, die alle nach einem einheitlichen Muster vorgehen. Mecklenburg–Vorpommern gehört mit den knappen Beispielen kaum dazu, aber bei eurem Fall weist auch alles auf ein einheitliches Muster hin.«

Althaus schwieg kurz, nahm aus seiner Tasche Unterlagen und gab sie zum Verteilen in die Runde der Zuhörer. »Ihr werdet feststellen, dass diese Erhebungen interessant sind, denn sie zeigen eindeutig, wie diese Banden zusammenarbeiten.«

»Werden wir wenigstens Verknüpfungen zu unserem aktuellen Fall finden?«, fragte Olli, der sich diese Anmerkung wohl nicht verkneifen konnte, denn der aktuelle Fall verlangte schnelles Handeln. Es musste schließlich verhindert werden, dass sie in absehbarer Zeit in einem Mord ermitteln mussten.

Anstatt darauf zu antworten, erhob sich Althaus und lief bedächtig im Raum umher. »Seht euch die Unterlagen genau an! Die meisten Linien führen an einem Punkt zusammen. Ihr erkennt, dass die meisten kriminellen Strukturen in Berlin zu finden sind. Ich selbst lebe in der Hauptstadt und arbeite eng mit den Kollegen zusammen, die diese Erhebungen angefertigt haben.«

»Okay, Rostock-Berlin, das sind gerade mal 250 Kilometer. Das dürfte für einen Verbrecher keine große Hürde sein.«

Althaus antwortete auf die knappe Feststellung von Jens genauso knapp: »Für den Täter im Netz sind Entfernungen nicht wichtig, dort gibt es keine räumlichen Barrieren.« Althaus ging auf Jens zu und blieb direkt vor ihm stehen. »Zuerst sind da die Köpfe mit einer Idee, die beginnen Partner zu suchen, dann spinnen sie das Netz weiter. Nicht nur in der zivilen Welt sind Netzwerke unabdingbar.«

Inzwischen lagen vor allen Anwesenden die von Dr. Althaus mitgebrachten Unterlagen. Lisa betrachtete diese genauso interessiert wie ihre Kollegen. Sie erkannte auf einen Blick eine präzise Statistik, deren Spitze durch die Straftaten in Berlin angeführt wurde.

Althaus und Heilmeyer flüsterten, um die anderen nicht zu stören. Dann sagte der Gast laut: »Falls jemand von euch eine Verbindung zwischen eurem aktuellen Fall und den hier aufgezeigten Erhebungen erkennt, der notiert sich das bitte. Wir beziehen jeden weiteren Anhaltspunkt in unsere Arbeit mit ein. Vielleicht kommen wir einen Bruchteil weiter. Unser aller Ziel bleibt es, diesen Banditen das Handwerk zu legen. Bisher haben wir lediglich die Untermänner erwischt. Die Macher bleiben stets im Hintergrund und vernetzen sich sofort wieder neu, sobald einer auffliegt.«

Heilmeyer ergriff das Wort: »Das ist für alle Beteiligten ein schweres Unterfangen, aber wir werden auch in Rostock nicht aufgeben.«

»Ich hätte natürlich die Statistiken per Post senden können«, holte Dr. Althaus aus, um zum Schluss seiner Ausführungen zu gelangen. »Aber bei der Gelegenheit haben wir uns wenigstens persönlich kennengelernt. Das LKA Berlin hat die Absicht, sich auf dem Gebiet der Cyberkriminalität mit möglichst vielen Dienststellen bundesweit zu vernetzen. Nur gemeinsam können wir grundlegend eingreifen.«

Alle trommelten als Anerkennung für das Statement von Althaus auf den Tisch.

»Okay Leute, ich denke, dass wir demnächst mehr miteinander zu tun bekommen. Mein kurzer Auftritt sollte euch lediglich für die aktuellsten Erhebungen sensibilisieren und motivieren, sie nicht gleich in der Tonne verschwinden zu lassen. Noch eins, wenn einer von euch mal in Berlin zu tun hat, kann derjenige ruhig mal bei uns vorbeischauen. Lasse für den Fall ein paar Karten da.«

Auch Lisa schnappte sich eine Visitenkarte und schaute Olli dabei verschmitzt an. »Man weiß ja nie.«

»Was willst du in Berlin, die Ostsee würde dir sowieso bald fehlen.«

»Erst recht die gute frische Luft«, antwortete sie keck, »da kommt die Berliner Luft ohnehin nicht mit.«

Beide grienten.

So unauffällig wie Dr. Walter Althaus gekommen war, so flott war er auch wieder verschwunden. Der Besuch dauerte zwar nur etwas mehr als eine Stunde, aber der Hauptkommissar bot trotzdem eine kurze Raucherpause an.

»Wir machen gleich mit unseren eigenen Ermittlungen weiter, macht also nicht so lange.«

Lisa nutzte die Zeit, um ihre Notizen von der Partnervermittlung querzulesen.

Andere diskutierten die neue Statistik oder verglichen die farblichen Markierungen, die Peter Heilmeyer inzwischen an der Wand ergänzt hatte. Olli war draußen bei den Rauchern. Lisa ging hinterher, um frische Luft aufzusaugen, bevor es weiterging.

»Warum hat der Chef überhaupt diesen Dr. Althaus eingeladen?«, fragte sie in die Runde.

»Keines unserer Probleme hat der Mann wirklich angesprochen«, meinte nun auch Olli.

»Genau, statistische Erhebungen bringen uns nicht weiter.«

»Bin gespannt, was Peter zum Auftritt von Kollege Althaus zu sagen hat«, meinte Lisa skeptisch.

»Einen Grund gibt es bestimmt. Ihr kennt Peter, er macht nichts ohne Sinn«, mischte sich auch Jens ein. Er stand bei den Rauchern, obwohl er nicht mehr rauchte, seit seine Frau vor ein paar Jahren ihr erstes Kind bekommen hatte.

Die Anwesenden kommentierten Jens’ Einwurf nicht, stattdessen gingen sie gemeinsam in den Dienstraum. Dort warteten bereits alle anderen auf die Raucher.

»Ich will nicht lange herumreden, mir ist das Unverständnis bei einigen von euch über den Besuch von Dr. Althaus nicht entgangen«, empfing Heilmeyer seine Leute.

»Ich finde zwar, dass die Vorrede von Dr. Althaus zum Thema etwas zu lang gezogen war, aber er ist auf seinem Gebiet eine echte Kapazität, und nicht nur, weil er an den ersten statistischen Erhebungen selbst mitgewirkt hat. Er weiß also ganz genau, was los ist und worum es uns geht. Die vor euch liegenden Materialien könnten uns daher noch nützlich sein.

Außerdem werden wir mit den Kollegen in Berlin mehr zu tun bekommen. Das war heute sozusagen der erste Kontakt. Bei der ständig steigenden Cyberkriminalität müssen wir über den Tellerrand schauen und flächendeckend mit möglichst vielen Fachleuten zusammenarbeiten. Es handelt sich schließlich um kein lokales Problem, sondern um eins, das sich rasant wie ein Lauffeuer ausbreiten kann.«

Lisa stellte in der kurzen Sprechpause, die Heilmeyer machte, fest, dass er zufrieden wirkte. Sie wusste vom Chef, dass es ihm besonders wichtig war, alle seine Mitarbeiter mitzunehmen und möglichst keine Fragen offen stehen zu lassen. Er betonte oft genug, wie wichtig ihm Transparenz, Offenheit und Loyalität waren. Heilmeyer ging vom Fenster zu seinem Tisch zurück und wechselte das Thema.

»Bevor Olli und Lisa uns von ihrem Ausflug berichten, kann ich erfreulicherweise mitteilen, dass es laut Krankenhaus Frau Stolz deutlich besser geht. Heute Morgen sagte mir eine Schwester am Telefon, dass es von Seiten der Ärzte keine Einwände gibt, sie morgen Nachmittag kurz zu befragen. Die Betonung liegt allerdings auf kurz, denn länger als zehn Minuten dürfen wir nicht zu ihr. Aber es wäre wichtig zu erfahren, ob es dasselbe Hotel wie bei den anderen Frauen war. Natürlich brauchen wir auch eine genaue Beschreibung von dem Mann, mit dem sie sich traf und der sie so übel zugerichtet hat.«

»Ich bin bei der Befragung dabei«, meldete sich Olli.

»Gut, Olli. Ich möchte aber zwei Mann im Krankenhaus dabeihaben. Jens, was ist mit dir?«

»Geht klar Chef, ich auch.«

Lisa, die eigentlich auch zum internen Kreis für die Außenarbeit zählte, blieb still. Sie brauchte sich aber auch nicht zu melden. Der Chef wandte sich ganz von selbst an sie. »Lisa, du hältst dich erst mal von Krankenhäusern fern. Ich denke, das ist auch in deinem Interesse.«

Lisa blickte Heilmeyer dankbar an und nickte verlegen.

»Okay, dann wäre für morgen alles soweit klar. Lisa und Olli, wir sind ganz Ohr, was ihr herausbekommen habt.«

Lisa breitete ihre Notizen vor sich aus und sah dann zu Olli. Der forderte sie mit den Augen auf, zu beginnen. Sie zögerte nicht lange. »Zum Hotel gibt es nicht viel zu sagen. Es entspricht genau dem Charakter eines anonymen Hauses, so wie wir es uns gedacht haben. Suiten gibt es auch, sogar eine mit einem Raum, der als Bücherwand getarnt wurde. Wir kamen dort nicht weiter, weil wir durch eine Putzfrau gestört wurden. Nun wissen wir nicht konkret, ob unsere Vermutung zutrifft oder etwas anderes dahintersteckt.«

»Wir wollten keine schlafenden Hunde wecken«, fügte Olli hinzu.

»Wieso seid ihr so sicher, dass es eine getarnte Tür ist?«, hakte Jens interessiert nach.

»Wie bezeichnest du denn einen Knopf an der Wand mit sichtbaren Zeichen eines Zimmers, das auf ein Versteck hinweist? Und dann sogar hinter einer Bücherwand versteckt liegt?« Olli rutschte seine Antwort hingegen etwas zu unwirsch heraus.

Lisa machte ungeachtet des verbalen Schlagabtausches ihrer Kollegen weiter. »Ich kann mir auch gut vorstellen, dass der Raum hinter der Wand dazu dient, etwas zu verbergen.«

Olli unterbrach Lisa noch einmal: »Wir haben uns beim Personal bewusst nicht zu erkennen gegeben, weil wir damit bis nach der Befragung der zweiten Frau warten wollten. Vielleicht steckt ja viel mehr dahinter?«

»Danke ihr beiden«, erhob Heilmeyer seine Stimme. »Frau Stolz werden wir morgen befragen, danach werden wir unter Umständen ein großes Stück weiter sein. Durch eure Recherchen haben wir nun einen ersten Eindruck vom Hotel, aber auch eine bessere Vorstellung von dem, was die Frau beschreiben wird. Gibt es Videoaufnahmen?«

»Ja, die gibt es. Wir haben einige Kameras entdeckt.«

»Okay, die wird sich Jens später vornehmen, wenn die Frau ihren Aufenthalt im Hotel bestätigt hat.« Heilmeyer sah von Lisa zu Olli. »Und wie war es bei der Partnervermittlung?«

Obwohl der Chef Olli ansprach, machte Lisa weiter: »Da gibt es eine neue Entwicklung. Silke Peters, die frühere Chefin, ist ausgeschieden und arbeitet angeblich gar nicht mehr für irgendein Portal, geschweige denn für ein Seitensprungportal. Niels Sauer, der ehemalige Geschäftspartner, ist jetzt der neue Chef und leugnet jeglichen Kontakt zu seiner damaligen Chefin. Er gab aber zu, dass die Peters Schwierigkeiten mit einer Kollegin hatte.«

»Aus diesem Grund könnte sie weggegangen sein«, ergänzte Olli.

Lisa nickte. »Irgendwas stimmt an der Sache nicht, der muss mehr wissen, als er zugegeben hat. Wir sollten ihm weiter auf die Finger schauen, denke ich jedenfalls.«

»Genauso sehe ich das zwar auch«, unterbrach Olli Lisa energisch, »aber der Sauer meinte auch, dass er selbst nichts mit dem Seitensprungportal zu tun hatte. Genau das nehmen Lisa und ich ihm allerdings nicht ganz ab. Wie schon gesagt, wir sollten dranbleiben. Entweder lügt er oder Silke Peters hat das Portal mit anderen Leuten aufgezogen.«

»Danke euch beiden, im Protokoll werden wir sicher mehr Details dazu nachlesen können. Ich schlage vor, wir machen für heute Schluss. Lisa, du bleibst morgen mit den anderen hier und recherchierst weiter. Vielleicht entdeckst du auf dem Portal von Niels Sauer Neuigkeiten, die bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen sind.

Olli und Jens, wir treffen uns um zehn Uhr vor dem Krankenhaus in der Südstadt. Frau Paul, die uns direkt aus dem Hotel anrief, ist für den Nachmittag eingeladen. Bin sicher, dass sie uns den Mann beschreiben wird, das wollte sie am Freitag ja noch nicht machen.«

»Aus purer Angst hat schon manch einer gesprochen. Wer weiß, womit der Mann ihr gedroht hat?«

»Lisa, das sind Vermutungen, die bringen uns nicht wirklich weiter. Du wirst morgen das Gespräch mit Frau Paul führen. Wahrscheinlich wird sie etwas lockerer sein, wenn sie von einer Frau befragt wird. Ich denke, du beginnst und ich stoße später dazu. Olli, du machst das Protokoll!«

Lisa nickte kurz.

Heilmeyer gab das Zeichen für heute Schluss zu machen, indem er begann seine Sachen einzupacken. Sofort wurden die Stimmen im Raum lauter und das vertraute Verabschiedungsgeplänkel war unüberhörbar. Gerade als Lisa den Raum verlassen wollte, winkte Heilmeyer sie zu sich.

»Alles gut bei dir? Durch unseren aktuellen Fall wirst du ja gewissermaßen auf Schritt und Tritt an deine eigene Geschichte erinnert?«

»Stimmt, ist aber auch ein gutes Mittel endgültig davon loszukommen. Leider sterben diese perversen Typen wohl nie aus. Wenigstens arbeite ich an der richtigen Stelle, um denen hin und wieder mal kräftig dazwischen zu funken. Aufgeben gibt es für mich nicht.«

»Wenn irgendwas sein sollte und du eine Pause brauchst, sag bitte Bescheid. Wir würden vorübergehend sicher auch andere Aufgaben für dich finden.«

»Nix da. Ich habe nicht gedrängt, bei euch wieder einzusteigen, um mich wenig später zu schonen. Ich hatte genug Zeit, um mir das gründlich zu überlegen. Peter, bitte keine Extrawurst für mich.«

Der Hauptkommissar griente. »Ist ja schon gut. Du bist unsere einzige Frau im Team, wir wollen dich nicht gleich vergraulen.«

»Verstehe«, meinte Lisa kurz und griente ihren Chef ebenfalls an. »Und versprochen, wenn es was gibt, mit dem ich nicht klarkomme, wirst du es von mir erfahren.«

Peter Heilmeyer nickte zustimmend und reichte Lisa zum Abschied die Hand, die sie zögerlich ergriff.

Draußen begann es gerade dunkel zu werden. Lisa fröstelte, obwohl das Thermometer noch bei guten Plusgraden stand. Mit 10°C war es ungewöhnlich warm für einen Novembertag. Temperaturen entsprechend der Jahreszeit wollten sich bislang in diesem Winter, selbst nach dem langen Sommer, nicht einstellen. Doch Lisas Gänsehaut rührte nicht von der Wetterlage her. Die Darstellung der brutalen Vergewaltigung setzte ihr heftiger zu, als sie anfangs geglaubt hatte.

Lisa rubbelte sich über die Arme und freute sich auf ihren Kamin zu Hause. Den würde sie sofort anmachen und nach langer Zeit einen guten Tropfen Wein dabei trinken. Ob sie eine Freundin anrufen sollte? Nein, dachte Lisa und schüttelte instinktiv den Kopf. Ihr war es lieber in aller Ruhe, die ersten Diensttage Revue passieren zu lassen. Die brutalen Übergriffe auf die Frauen brachten tatsächlich ihre eigenen Erinnerungen zurück.

Auch ihre Geschichte begann mit einem Mann, den sie im Internet kennengelernt hatte. Genau wie bei den Frauen, die sie morgen zu befragen hatten. Und auch bei ihr endete alles mit einem brutalen Übergriff.

Lisa blieb abrupt stehen. Plötzlich stand ihr die unwirkliche Situation in der Rostocker Heide vor Augen. Sie lag auf dem kalten Boden, geknebelt und gefesselt. Das Loch hatte der Mörder bereits ausgehoben, in dem er sie bei lebendigem Leib entsorgen wollte. Ihr wurde kalt. Sie sah seine Augen genau vor sich und es brauchte einiges an Anstrengung, um sein Gesicht zu verdrängen.

Sie schüttelte sich. Die Bilder waren nur in ihrem Kopf. Sie war frei und lebendig. Und sie konnte sich glücklich schätzen, dass ihre Kollegen schnell zur Stelle gewesen waren, noch bevor Hans Reiman, der Psychopath, seine Perversion an ihr ausleben konnte, so wie bei ihrer Freundin Sarah. Schlimm genug, dass sie damals nichts mehr für ihre Jugendfreundin tun konnte. Sarah hatte er genau wie seine Opfer davor, in einem Waldstück getötet. Er hatte sie hingelegt, als ob sie schliefen. Das war sein krankhaftes Muster bei allen Frauen und mit Lisa hatte er das Gleiche vor.

Bis heute hatte Lisa nicht erfahren, woher die Kollegen wussten, dass sie in großer Gefahr schwebte. Sie würde sie später vielleicht einmal danach fragen, bis jetzt war keine Zeit dafür da gewesen, um über diese Nacht zu sprechen. Aber die würde sich demnächst finden.

Die Last der Lust

Подняться наверх