Читать книгу Die Last der Lust - Marion Petznick - Страница 6

Rostock, Innenstadt

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Punkt neun Uhr kam Lisa auf dem riesigen Bahnhofsvorplatz an. Olli stand rauchend am Auto und als Lisa ihn sah, musste sie lächeln. Er war wie immer überpünktlich und hatte das mehr als einmal unter Beweis gestellt. Sie stiegen ohne lange Begrüßungsfloskeln ins Auto und Olli steuerte zügig das CityHotel an. Das Hotel befand sich in unmittelbarer Nähe, eigentlich hätten sie dorthin laufen können. Im Anschluss wollten sie aber gleich den Termin in der Altstadt wahrnehmen und um 14 Uhr hatte der Chef wie immer die Besprechung geplant, also brauchten sie das Auto, um zügig voranzukommen. Nicht erst beim Aussteigen fiel Olli auf, wie gut gelaunt Lisa war. Kaum zu vergleichen mit dem gestrigen Tag. »Du bist richtig gut drauf, hast dich wohl auf mich gefreut?«

Lisa sah Olli mit schrägem Blick an. »Ich dachte eigentlich, das Kapitel ist abgeschlossen. Aber ansonsten freue ich mich immer, wenn ich dich sehe.«

Ollis Stimmung verschlechterte sich augenblicklich, nicht wegen Lisas Abfuhr, es gab schlichtweg in der Nähe des Hotels keinen Parkplatz. Extra in die Tiefgarage wollte er nicht fahren, also hieß es: Weitersuchen.

»He, da fährt gerade ein Auto weg, beeil dich!«

»Offenbar bist du mein Glücksbringer, da kann der Tag ja nur gut werden.«

Nach wenigen Schritten standen sie vor der Eingangstür des Hotels, die genauso schmucklos aussah wie der gesamte Hotelkomplex.

»Ein Haus ohne Gesicht«, stellte Lisa gleich fest.

»Kein Wunder, Leute, die anonym bleiben wollen, suchen sich so einen Kasten aus. Der ist vergessen, ehe man drin gewesen ist. Also mein Geschmack ist anders.«

Lisa antwortete auf Ollis Feststellung mit einem müden Lächeln.

Sie durchschritten eine große Pendeltür und standen in einem ausladenden Foyer. Zwei schwere Säulen ließen den Raum riesig erscheinen. In ihrer direkten Blickrichtung lag die mittig angebrachte Rezeption. Zwei Mitarbeiterinnen waren mit Unterlagen beschäftigt und ein Mann unterhielt sich mit einem Gast. Auf der gegenüberliegenden Seite saß eine junge Frau auf einem bequemen Schwingsessel an einer kleinen Café Bar.

Lisa und Olli hatten sich darauf geeinigt, an diesem Tag nur das Haus zu inspizieren, ohne sich dem Personal gegenüber zu outen. Fürs erste sollte es reichen, sich einen Überblick über die Achtsamkeit der Leute an der Rezeption zu verschaffen.

Behielt das Personal wirklich das Kommen und Gehen der Gäste im Blick oder ging es eher salopp zu?

Das war zumindest gleich nach dem Betreten des Hotels ihr erster Eindruck. Sie wollten vor allem nach Fluchtwegen Ausschau halten und sich einen ersten Eindruck vom Hotel verschaffen. Vielleicht hatten sie ja Glück und ein sexhungriges Paar ließ sich blicken.

Erst einmal fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage, dabei entging ihnen nicht, dass das problemlos möglich war, selbst, ohne Gast des Hotels zu sein. In vielen Häusern gab es längst eine Karte, die als Zimmer- und Fahrstuhlschlüssel diente. Ohne ein angemietetes Zimmer bekam niemand die Chance, den Lift zu nutzen. Unliebsamen Besuchern wurde durch so ein Prozedere ein Riegel vorgeschoben. Aber das schien der Hotelleitung offenbar nicht wichtig zu sein.

Im obersten Stockwerk angekommen, erstreckten sich lange, weitläufige Flure. Ein Putzwagen stand zwar im Flur, doch eine Putzfrau war weit und breit nicht in Sicht. Alles machte den stillen Eindruck eines leeren Hauses.

Plötzlich öffnete sich eine Tür, heraus kam ein gut gelauntes Paar. Der Mann zog einen Rolli hinter sich her und die ihm nachfolgende Frau trug leichtes Handgepäck. Die Frau ließ die Tür offen stehen, wahrscheinlich für die Putzfrau, deren Wagen genau vor der Tür stand. Lisa und Olli gingen weiter in Richtung der offenen Tür. Lisa blieb vorsichtshalber draußen, um Olli rechtzeitig zu warnen, falls jemand käme.

Olli warf einen vorsichtigen Blick zunächst in den Flur, dann ging er in das großzügige Zimmer hinein.

»Beeile dich, ich kann die Putzfrau schon hören«, meinte Lisa unruhig.

Olli ging unsicher weiter, ohne weiter auf Lisas Worte zu achten. Auf einmal rief er begeistert: »Das musst du dir ansehen! Das ist ein besonders großes Appartement, ich würde sagen erster Klasse.«

»Erkennst du etwas, das mit unseren Nachforschungen zu tun hat?«

»Ich sehe mich jetzt in dem separaten Wohnbereich etwas näher um.«

Dieser Raum war hell und sah von innen weitaus freundlicher aus, als das Haus von außen vermuten ließ. Beim Blick aus dem Fenster sah Olli einen großzügigen Innenhof mit wenigen rotgoldenen Blättern an den Bäumen und Rosen, die sehr kurz beschnitten waren. Die parkähnliche Anlage machte einen gepflegten Eindruck, dabei störten lediglich die ungeordneten Tische und Stühle.

Draußen hatte er genug gesehen.

Interessiert begann Olli die Räume weiter nach Auffälligkeiten abzusuchen. Dabei entgingen seiner Aufmerksamkeit die hochwertigen Möbel und die dazu passenden Zierfiguren nicht. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt und machte einen stilvollen, gehobenen Eindruck. Es gab viel Platz, obwohl eine moderne Sitzgruppe mitten im Raum ihren Platz fand. Das Badezimmer war mit einem Whirlpool ausgestattet, an dessen Rand hochwertiger Nippes standen.

Ansonsten gab es nichts Interessantes zu sehen, also kehrte Olli um und gab Lisa das Zeichen, hineinzugehen.

»Schau du dich auch um, vielleicht fällt dir etwas auf, was ich übersehen habe.«

Olli übernahm die Beobachterrolle und Lisa betrat die Suite.

Auf den ersten Blick erkannte Lisa nichts, was ihr wichtig erschien. Deshalb wollte sie gerade den Rückweg antreten, als ihr ein winziger Knopf an der Wand auffiel, der zunächst unscheinbar aussah. Nur durch Zufall sah sie dorthin, weil an dieser Stelle ein Buch stand, das ihr Interesse weckte.

Lisa drückte am Knopf hin und her, ihr Spürsinn vermutete sofort einen geheimen Raum dahinter. Doch selbst nach festem Drücken bewegte sich nichts. Es musste einen besonderen Trick geben und ihre Fantasie überschlug sich jetzt erst recht. Zuerst dachte sie an ein Versteck für jene, die nichts Seriöses im Schilde führten. Aber wofür so ein Raum wirklich gut sein sollte, wollte sie besser mit Olli besprechen.

»Beeil dich, ich höre Schritte, die in unsere Richtung kommen«, rief Olli laut in den Flur des Appartements hinein.

Lisa hatte verstanden und kam unmittelbar nach Ollis Ruf heraus.

»Hast du etwas Markantes entdeckt?«, fragte er Lisa ungeduldig.

Lisa schüttelte zuerst den Kopf, dann dachte sie an den womöglich geheimen Raum »Ist dir der winzige Knopf an der Bücherwand aufgefallen?«

»Nee, was soll da sein?«

»Ein geheimes Versteck, was sonst. Wozu manipuliert oder tarnt man denn sonst eine Wand mit einem Bücherregal?«

»Wie kommst du auf ein Versteck? Das passt gar nicht zu diesen first-class Räumen.«

»Vielleicht gerade deshalb. Wenn du jedenfalls genau davorstehst und hinsiehst, erkennst du ganz genau den Rand, der sich präzise abzeichnet. Es könnte aber auch etwas anderes dahinterstecken.«

Ollis Interesse schien geweckt zu sein. Er ging selbst ins Zimmer zurück, um sich das aus der Nähe anzusehen. In dem Moment öffnete sich in unmittelbarer Nähe eine Tür und die Putzfrau kam heraus. Die sah Lisa erstaunt an.

Lisa ging ihr geistesgegenwärtig entgegen, um sie abzulenken. »Haben Sie vielleicht ein kleines Mädchen gesehen? Eben war sie noch da«, sagte Lisa extra laut, damit Olli sie auch hören konnte. Der verstand ihr Ablenkungsmanöver zum Glück sofort und verließ schnell die Räume.

»Liebling. hier ist Susann auch nicht«, meinte er, dann sprach er die Putzfrau an. »Hat meine Frau schon gefragt, ob Sie unsere Tochter Susann gesehen haben?«

Lisa riss ihre Augen weit auf. Sie hoffte, dass er sich nicht in Einzelheiten verstricken würde, und sprach daher dazwischen: »Lass uns unten weitersuchen. Vielleicht ist sie schon draußen. Hoffentlich ist ihr nichts passiert.« Lisa legte all ihr schauspielerisches Talent in ihre Stimme, um ehrlich besorgt zu klingen.

Die dunkelhäutige Frau musterte Olli, dann Lisa und zuckte mit den Schultern, was wohl bedeuten sollte, dass sie nichts verstanden hatte.

Lisa und Olli verabschiedeten sich wie aus einem Mund und gingen hastig zur Treppe.

»Glück gehabt, hätte auch anders ausgehen können. Und? Was meinst du? Bist du meiner Meinung?«

»Ja, könnte sein. Vielleicht ist es nur ein Raum für Eltern, die mit Kindern reisen und mal für ein paar Minuten ungestört sein wollen.« Seine Antwort schien ihm selbst eher vage zu sein, weshalb er mit den Schultern zuckte. »Das werden uns die Leute vom Haus sicher besser erklären können. Auch, ob dieser Bereich häufiger frequentiert wird als andere.«

Lisa wäre dennoch am liebsten sofort der Sache auf den Grund gegangen, doch Olli verstand es sie zu besänftigen. »Das werden wir erfahren, gedulde dich bis zum nächsten Mal. Spätestens, wenn wir im Kommissariat mit der Befragung der Frauen weitergekommen sind, wissen wir mehr.«

»Ja, und der Chef wird zufrieden sein, weil wir für den Anfang vorsichtig vorgegangen sind.«

»Bisher hat jedenfalls niemand Verdacht geschöpft.«

In den oberen Räumen hatten sie vorerst genug gesehen. Auf dem Rückweg liefen sie über die Treppe und nahmen dabei auch die anderen Gänge in Augenschein. Die darunter liegende Etage sah genauso aus wie die darüber, nur ohne die Schrägen des Dachs. Sie stiegen Treppe für Treppe nach unten, entdeckten aber nichts, was ihr Interesse weckte. Später wollten sie sich gegebenenfalls von der Rezeption den Fluchtplan geben lassen. Aber erst, wenn klar war, ob auch die anderen Frauen dieses Haus als Treffpunkt genutzt hatten.

Eine gute halbe Stunde später kamen sie erneut an der Rezeption vorbei. Alles lief genauso ab wie zuvor. Die Frauen waren mit Papieren beschäftigt, an der Bar saßen inzwischen drei Personen mit jeweils einem Kaffee in der Hand, die sich unterhielten.

Niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen, geschweige denn, dass sie gefragt wurden, wohin sie wollten oder ob sie Gäste des Hauses waren. Die Leute von der Rezeption schauten nicht mal hoch, als Lisa und Olli mit einem Gruß an ihnen in Richtung Ausgang gingen.

»Also perfekt für diejenigen, die unentdeckt und anonym bleiben wollen«, sprach Olli aus, was Lisa dachte.

»Damit hat sich meine Vermutung bestätigt. Aber wir sind in diesem Haus bestimmt noch lange nicht fertig«, brachte Lisa gerade noch raus und war bereits mit dem nächsten Ziel beschäftigt. Sie suchte schnell die Rufnummer der ihr vom Sommer her bekannten Partnervermittlungsstelle raus, dann bat sie Olli darum, den Besuch dort schon mal anzukündigen. »Ruf du an. Sie werden dich sicher für einen potenziellen Kunden halten.«

»Weiß zwar nicht, wozu das gut sein soll, aber ich mache es. Gib mal die Nummer ein und mach den Lautsprecher an.«

Ein lautes Klingeln ertönte, prompt hörten sie die dominante Stimme einer Frau. »Hallo? Weber am Apparat, Partnervermittlung ›Meer – Lust‹ in der Altstadt!« Weiter kam die Stimme nicht, weil Olli hastig auf die Aus-Taste drückte. »Also ehrlich, ich habe keinen Bock auf solche Spielchen. Da ist jemand, das wars doch, was wir wissen wollten.«

Lisa schaute ihren Kollegen fragend an, besann sich, bevor sie eine pampige Antwort gab, und meinte kurz: »Beruhige dich, es ist alles gut, Olli. Nix passiert.« Dann machte sich ein Schmunzeln in ihrem Gesicht breit. Olli musste auch lächeln und schien selbst über sein schroffes Verhalten erstaunt zu sein. »Du kennst mich, ich schieße gern mal übers Ziel hinaus.«

Nachdem es ihnen gelang, das Auto in einer Querstraße abzustellen, liefen sie die paar Meter bis in die Altstadt zu Fuß weiter. Lisa war froh, ein paar Schritte gehen zu können, der Nachmittag im Büro würde noch lang genug werden.

An der Fensterfront zur Partnervermittlung entdeckte Lisa sogleich die erste Veränderung: Keine Gesichter von strahlenden Männern und Frauen auf riesigen Fotos wie im Sommer, sondern zeitlose Naturaufnahmen aus der Ostseeregion. Wer nicht wusste, dass sich hier eine Partneragentur versteckte, vermutete auch keine. Genauso hatte sich auch der gesamte Eingangsbereich verändert. Nichts erinnerte Lisa an ihren ersten Besuch, dabei waren seitdem gerade mal drei Monate vergangen.

Der einst geräumige und ungemütlich wirkende Eingangsbereich war jetzt strukturiert und gut aufgeteilt. Olli und Lisa gelangten zunächst in einen Vorraum, in dem sie von einer Empfangsdame begrüßt und nach dem Anliegen gefragt wurden.

»Hier, mein Anliegen!« Olli hielt seinen Ausweis vor das Gesicht der Empfangsdame, sodass sie die Polizeimarke genau erkennen konnte. »Mein Name ist Olaf Wilke.« Er deutete auf Lisa, die sich selbst vorstellte. »Lisa Liebich, wir möchten die Geschäftsführerin, Silke Peters, sprechen.«

»Frau Peters gibt es bei uns nicht mehr. Etwa vor zwei Monaten hat der Inhaber gewechselt. Die frühere Chefin hatte alles urplötzlich verkauft und ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Sie soll ins Ausland gegangen sein, munkeln einige. Hatte wohl einige Leichen im Keller, aber da wissen Sie wahrscheinlich mehr als ich.«

Lisa schaute ihren Kollegen fragend an. »Habe ich etwas überhört? Kannst du dich erinnern, dass Heilmeyer davon gesprochen hat?«

Olli wirkte nicht minder überrascht, ließ sich aber fast nichts anmerken, und reagierte stattdessen forsch. »Na, dann eben jemanden von der Geschäftsführung. Oder gibt es hier auch keine Partnervermittlung mehr? Die müsste sich erst gestern aufgelöst haben, sie steht jedenfalls im Register.«

»Natürlich arbeiten wir hier weiter, nur unter einem neuen Chef. Ich läute mal durch, ob Niels … Pardon, Herr Sauer, frei ist.«

»Sagen Sie ihm bitte gleich, falls er keine Zeit haben sollte, darf er uns auch gern im Kommissariat beehren. Ein zweites Mal kommen wir nämlich nicht vorbei.«

»Ist ja schon gut.«

Sie wählte kurz und nuschelte unverständliche Worte in den Hörer. Anschließend dauerte es nicht lang und Niels Sauer stand in der Tür.

»Womit habe ich Ihren Besuch verdient? Bitte kommen Sie doch mit in mein Büro.« Er hielt die Tür zum angrenzenden Raum auf und zeigte auf eine gemütliche Sitzecke.

»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

Keine Antwort abwartend, gab er der Mitarbeiterin am Empfang ein Zeichen. Niels Sauer war ein smarter, gut aussehender Mittdreißiger, der mit guten Umgangsformen zu glänzen verstand. Doch Lisa ließ sich davon nicht beeindrucken. »Ich konnte im August Ihre Vorgängerin Silke Peters kennenlernen, damals sah es nicht so aus, als wolle sie bald ihren Dienst quittieren.«

»Das ist interessant, davon weiß ich gar nichts. Und Sie sagen, dass Sie schon einmal den Kontakt zu uns suchten? Im August war ich ja auch schon da. Die Partnervermittlung habe ich endgültig erst vor wenigen Monaten übernommen, sozusagen als ihr ehemaliger Stellvertreter. Silke verschwand Hals über Kopf, weil es für sie nach jede Menge Ärger aussah. Eine Angestellte hatte sie verklagt. Aber wieso und weshalb, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen. Außerdem arbeitet diese Angestellte auch nicht mehr bei uns.«

»Moment mal. Das hängt ganz davon ab, ob die Sache auch mit unseren Fragen zu tun hat.«

»Uns ist bekannt, dass seit einiger Zeit über Ihre Partneragentur eine weitere ›Vermittlung‹ angeboten wird. Ein sogenanntes Seitensprung-Dating-Portal, richtig?« Olli blickte Niels Sauer herausfordernd an.

»Wenn Sie schon so gut Bescheid wissen, warum sollte ich das leugnen? Das läuft ganz legal ab und spielt bei uns nur eine untergeordnete Rolle. In diesem Land gibt es leider nicht viele Menschen, die offen zugeben, dass sie fremdgehen wollen. Dennoch sind es immerhin 57 % aller Männer und die Frauen schneiden mit 54 % auch nicht viel schlechter ab.«

»Sie kennen sich ziemlich gut aus.« Lisa missfiel die selbstherrliche Art des Mannes, deshalb unterbrach sie ihn. Doch kaum war der Satz draußen, ärgerte sie sich über ihre Spontanität. Umso heftiger fiel ihre darauffolgende Frage aus. »Ja und? Hat die Flucht der ehemaligen Chefin mit diesem Portal zu tun?«

Niels Sauer verzog die Lippen, was Lisa freute. Sie hatte es geschafft, den smarten Blender aus seiner Komfortzone zu locken. Es dauerte etwas, bis er die Frage bedächtig beantwortete: »In gewisser Weise schon.«

Die Anspannung zwischen Lisa und dem Chef der Agentur war wohl nicht mehr zu übersehen, was Olli veranlasste, einzugreifen. »Na, da haben wir wohl direkt ins Schwarze getroffen. Erzählen Sie uns einfach der Reihe nach, warum Silke Peters so schnell über alle Berge ist.«

Im selben Moment kam die Empfangsdame mit Kaffee und ein paar Plätzchen herein, die sie betont laut direkt vor der Nase der Gäste platzierte. Eisige Stille machte sich breit, bis die Tür wieder geschlossen wurde und sie zu dritt im Raum zurückblieben.

Niels Sauer stand auf, ging zu seinem Schreibtisch, nahm einen Ordner vom Tisch, mit dem er sich wie ausgewechselt vor ihnen hinsetzte und schwungvoll zu erzählen begann: »Silke hatte die Idee mit dem Seitensprungportal. Ein Kunde hatte mal beiläufig danach gefragt und über einige seiner besonderen Vorlieben beim Sex gesprochen. Silke hatte später recherchiert und tatsächlich mehr dazu im Internet rausgefunden. Dieses Portal schien die ideale Ergänzung zu unserer Partnervermittlung zu sein. Zeitgleich bekamen wir die Bewerbung von Charlotte Schmidt. Ich hielt sie für dieses neue und spezielle Gebiet eigentlich nicht für geeignet. Sie war gerade mal 20 Jahre alt und ich fand sie etwas naiv. Aber Silke meinte, dass sie genau die Richtige sei.«

»Ja und? Kommen Sie zum Punkt.«

»Na ja, wie soll ich Ihnen das beschreiben? Charlotte brachte alles ins Rollen und wie sich etwas später herausstellte, war sie alles andere als naiv.

Silke hatte wohl den Fehler gemacht, sie mit Sexgesuchen zu beauftragen. Ihre Aufgabe war es, Profile von Frauen anzulegen, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Sie beschrieb diese fiktiven Frauen ausschweifend, exotisch und so als besäßen sie besondere Vorlieben für Männer mit extravaganten Wünschen. Charlotte suchte sich ihre Ideen im Internet oder erfand sie. Sie war übereifrig und wollte gleich von Anfang an beweisen, wie gut sie diese Arbeit beherrschte. Und tatsächlich, ihre Fantasie kannte keine Grenzen. Silke war stark beeindruckt von dem, was sich das junge Ding alles ausdachte. Das erzählte sie mir zumindest. Die neue Mitarbeiterin hatte regelrecht Spaß daran, immer exklusivere Wünsche von Frauen aufzuzeigen. Aber dann drängte Silke sie weiter und weiter, immer mehr Profile sollte sie erstellen, denn der Zuspruch ließ ja nicht lange auf sich warten bei den vielen speziellen Angeboten. Es war an der Zeit, auch für ausreichend Frauen zu sorgen. Doch nach einigen Wochen war Charlotte nur noch ein Nervenbündel.

Sie bekam wegen der vielen Arbeit am Computer eine Sehnenscheidenentzündung und Silke hatte sie nach einer verbalen Auseinandersetzung fristlos gekündigt. Daraufhin zog ihre Mutter mit ihr und einem Anwalt vor Gericht. Für Silke sah es nicht gut aus.«

»Und Sie? Haben Sie etwa nichts von diesem ominösen Arbeitsverhältnis gewusst?«, fragte Olli und auch Lisa war skeptisch.

»Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, schließlich waren Sie der Geschäftspartner von Frau Peters und sie hat Ihnen sicher auch alles anvertraut.«

»Über die Neueinstellung der Kollegin war ich selbstverständlich informiert. Personelle Veränderungen besprachen wir gemeinsam, allerdings war ich nie in konkrete Details ihrer Arbeit in Rostock eingeweiht, da ich noch nicht hier wohnte. Silke betrachtete das neue Portal von Anfang an als ihre besondere Chefsache. Erst als der Brief von einem Rechtsanwalt hereinflatterte, konnte sie die Geschichte nicht länger geheim halten und outete sich schließlich auch mir gegenüber. Ehrlich, ich war total entsetzt, erst recht, als ich mit dem gesamten Ausmaß und der fristlosen Kündigung konfrontiert wurde.«

»Was ist bei der Verhandlung rausgekommen?«

»Silke wurden die überhöhten Anforderungen an Charlotte angekreidet. Es hieß, die neue Mitarbeiterin sei durch die maßlose Überanstrengung der Tastaturarbeit arbeitsunfähig geworden. Die fristlose Kündigung musste sie natürlich auch zurücknehmen. Die unverhältnismäßig hohen Überstunden von Frau Schmidt wurden anerkannt und das fehlende Geld musste Silke überweisen. Die inhaltlichen Formulierungen und der Zweck des Arbeitsinhalts, den Charlotte täglich ins Netz zu stellen hatte, wurden gar nicht besprochen. Konnten sie ja auch nicht, denn die Profile waren ja Charlotte Schmidts eigener Fantasie entstanden.«

»Dann kann diese Sache wohl kaum der Grund für den schnellen Abgang Ihrer Geschäftspartnerin gewesen sein. Was war es also dann?«, fragte Olli.

»Kommen Sie endlich zum Punkt!«, mischte sich nun Lisa ein.

Niels Sauer beeilte sich mit einer Antwort: »Ich bin nie richtig schlau aus der Sache geworden. Silke kam mit einer geringen Summe an Schmerzensgeld relativ günstig davon, aber trotzdem rief sie mich eine Woche später an und fragte, ob ich die Agentur übernehmen will. Ich kannte bereits den Ablauf und war mit allem vertraut, deshalb sagte ich sofort zu. Das war endlich meine Chance, mich selbstständig zu machen. Beim geschäftlichen Teil wurden wir uns zügig einig. Ich hatte ohnehin das Gefühl, dass sie um jeden Preis nur schnell wegwollte. Ich nahm einen Kredit auf, überwies die Hälfte der Summe mit dem Vertragsabschluss und dieselbe Summe läuft weiter auf Abzahlung.«

»Und wie ist Ihr Kontakt heute?«

»Na ja, von Kontakt kann kaum die Rede sein. Seit einem Monat habe ich überhaupt nichts mehr von ihr gehört. Selbst auf meine Einladung zur Eröffnung der neu gestalteten Agentur, vor etwa sechs Wochen, reagierte sie nicht. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie enttäuscht ich bin. So ein Verhalten hätte ich ihr niemals zugetraut. Aber soweit ich weiß, wollte sie mit dem Metier nichts mehr zu tun haben.«

Lisa hörte dem Mann die ganze Zeit aufmerksam zu und stellte fest, dass sie im Unrecht lag. Er wusste nichts, sie hakte trotzdem weiter nach: »Und Sie machen jetzt allein mit der Seitensprungagentur weiter?«

»Ich werde mich demnächst wohl von der Seitensprungagentur verabschieden. Sie ist sowieso schon stillgelegt. Die Partnervermittlung reicht mir, vorerst jedenfalls. Das andere Portal passt nicht zu mir und seit der Sache mit Charlotte bin ich ohnehin sensibilisiert und halte mich besser an die Vorschriften.«

»Womit Frau Peters derzeit beschäftigt ist, wissen Sie aber schon? Wenn Sie nicht mit diesem Portal beschäftigt sind und Frau Peters nicht, wer könnte es sonst sein? Kennen Sie womöglich jemand in der Szene, dem Sie das Engagement in dieser Richtung zutrauen würden? Wir wissen jedenfalls, dass da immer noch was laufen muss. Es gibt einige Aussagen«, meinte Olli übertrieben.

»Nein, aber falls mir was zu Ohren kommt, werde ich mich bei Ihnen melden.«

»Bitte auch, wenn sich Frau Peters melden sollte«, ergänzte Lisa.

»Seit der Übergabe des Geldes habe ich zwar von Silke nichts mehr gehört. Weder weiß ich, wo sie hingegangen ist, noch was sie jetzt macht. Wenn sich daran etwas ändert, erfahren Sie das als Erste.«

»Gab es seitdem Frau Peters die Agentur verließ im Nachhinein Beschwerden?«

Lisa setzte gleich eine Frage drauf: »Wir meinen beispielsweise Übergriffe auf Frauen oder etwas in dieser Richtung?«

»Nein, davon habe ich nichts gehört.«

Olli stand auf und Lisa folgte ihm mit einer letzten Bemerkung an Sauer. »Dann wäre das vorläufig alles. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung, falls wir weitere Angaben benötigen.«

»Selbstverständlich, ich will schließlich nicht bei der Polizei in Ungnade fallen.«

Lisa lächelte kurz. »Dazu gibt es aus unserer Sicht bisher auch gar keinen Grund.«

»Dann hoffe ich, dass Sie uns wenigstens dienstlich nicht mehr aufsuchen müssen«, meinte Niels Sauer und deutete lächelnd zur Tür.

Draußen auf der Straße holten Lisa und Olli erst mal tief Luft. Obwohl der jetzige Chef um einiges angenehmer rüberkam als seine Vorgängerin, beschlich Lisa dasselbe ungute Gefühl wie im August.

»Wer weiß, wo Silke Peters inzwischen steckt? Wir sollten sie nicht aus den Augen verlieren, um sicherzugehen, dass sie mit den geschädigten Frauen nichts zu tun hat. Ich werde jedenfalls ein mulmiges Gefühl nicht los.«

»Zerbrich dir bloß nicht deinen schönen Kopf. Wie es weitergeht, besprechen wir nachher im Büro.«

»Du hast recht, muss mich wohl erst wieder an die Gepflogenheiten im Job gewöhnen. Der Austausch mit Kollegen ist ja schon ein paar Tage her.«

Beide hatten einen strammen Schritt drauf, vor einer langen Menschenschlange blieb Lisa aber plötzlich stehen. So wie meist, wenn sie in der Altstadt unterwegs war, packte sie der Appetit auf eine echte Rostocker Currywurst ohne Darm. Sie brauchte Olli nicht lange überreden, die lange Schlange schreckte ihn auch nicht ab. Er meinte lediglich: »Eine Rostocker ohne Darm geht immer …«

Bis zur Sitzung um 14 Uhr blieb ihnen etwas Zeit, um sich nebenan einen Kaffee zu genehmigen. Olli setzte sich mit seinem Kaffee und der Currywurst Lisa gegenüber und sah ihr dabei zu, wie sie in einem Büchlein blätterte. Das Buch trug sie neuerdings stets bei sich. Das war ein Tipp ihres Psychologen nach dem Übergriff im Sommer.

Lisa legte das Buch kurz zur Seite, um in ihrer Tasche nach einem Stift zu suchen, den sie aber nicht sofort fand. Olli war schneller, griff in seine Jackentasche und gab ihr seinen Kugelschreiber.

»Danke.« Sie nahm den Stift und griff sogleich nach dem Notizbuch. »Viel Brauchbares ist heute ja nicht rausgekommen. Trotzdem mache ich ein paar Stichpunkte, mit diesen können wir nachher in der Dienstbesprechung konzentrierter berichten.«

»Immerhin haben wir jetzt eine Vorstellung vom Prozedere der Rezeption im Hotel und meine Vermutung der Unachtsamkeit des Hotelpersonals hat sich bestätigt.«

»Stimmt. Allerdings bleiben ein paar Fragezeichen zu viel offen. Jetzt interessiert mich erst recht, ob alle betroffenen Frauen über diese Agentur vermittelt wurden. Und diese Silke Peters, ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Frau. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber sie könnte noch eine Rolle spielen.«

»Sehe ich genauso«, bestätigte Olli. »Wenn selbst eine Mitarbeiterin von Leichen im Keller spricht?«

Lisa schrieb weiter, bevor sie eine Antwort gab. »Dieser Sauer hat ja nicht gerade viel preisgegeben.«

»Ich denke, er hat nur das erzählt, was ihn selbst nicht verdächtig macht.«

»Bestimmt. Ich nehme ihm auch nicht ab, dass er mit dem Schmutz überhaupt nichts zu tun hatte.«

Olli nickte kurz und schaute auf seine Uhr. »Wir sollten los, wenn wir nicht zu spät kommen wollen. Wäre wirklich schade, wenn das vorerst unser letzter gemeinsamer Außendiensteinsatz gewesen sein sollte, wo mir unsere gemeinsame Arbeit gerade anfängt wieder Freude zu bereiten.«

»Freu dich bloß nicht zu früh. Ich kann auch anders«, betonte Lisa locker, aber dankbar für Ollis Worte. Sie hatte längst festgestellt, dass es genau diese Zusammenarbeit war, die ihr in den Monaten zu Hause gefehlt hatte. »Wir werden auf keinen Fall zu spät kommen. Ich bin zurück und jetzt bleibe ich auch. Und zwar zuverlässig.«

Olli griente, ohne ein Wort zu verlieren.

Die Last der Lust

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