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Graal-Müritz, Muschelweg

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Lisa fuhr direkt nach Hause und eine gute halbe Stunde später stand sie auf dem Parkplatz vor dem Wohnhaus. Am heutigen Abend waren viele Autos im Ort unterwegs, ganz anders als in der Nachsaison vergangener Jahre. Sie hatte längst das Gefühl, dass die Saison im schönen Ostseeheilbad fast das ganze Jahr über anhielt, zumindest bis Anfang November. Zwar zählte man nicht mehr die große Zahl von Touristen wie im Sommer, aber von der beschaulichen Ruhe wie ansonsten konnte selbst bis in den späten Herbst hinein nur selten die Rede sein.

Als Lisa aus dem Auto stieg, wusste sie, dass nach diesem ereignisreichen Tag ein Spaziergang an der frischen Luft das Beste war. Der späte Nachmittag zelebrierte bereits eine beeindruckende Dämmerung. Dieses spektakuläre Wechselspiel zwischen Licht und Wolken faszinierte sie besonders. Bereits als Kind war sie, beeindruckt im Dämmerschein des Abends, am Meer entlang spaziert.

Lisa ging gar nicht erst ins Haus, sondern lief auf direktem Weg zum Strand. Heute würde es sich bestimmt lohnen, nach Bernsteinen zu suchen. Erst gestern gab es das besondere Intermezzo eines kräftigen Herbststurms, der garantiert den Meeresboden ordentlich aufgewirbelt und eingelagerte Bernsteine freigelegt hatte. Doch zum Suchen war es jetzt zu spät. Sie kannte einige Stellen, an denen es sich auch später lohnen würde hinzuschauen. Bei der Wassertemperatur von 4°C hat das Salzwasser jetzt eine ausreichende Dichte, um Bernsteine an die Wasseroberfläche zu spülen.

Ob sie bald wieder fündig wurde? Ein richtig großer Bernstein für einen Kettenanhänger wäre nicht schlecht. Aber Lisa wollte nicht auf hohem Niveau jammern, ihr Sammlerglück hatte sie nie im Stich gelassen. Nicht nur einmal hatten ihre Gäste das große Glas mit den goldbraunen Steinen bestaunt. Berechtigt, denn es waren einige von beachtlicher Größe dabei.

An der Seebrücke angekommen, sah sie deutlich weniger Leute, als sie zuvor vermutet hatte. Eine Mutter mit zwei Kindern, zwei ältere Herren und ein junger Mann, der gedankenverloren aufs Meer schaute. Lisa kam näher und erkannte, dass es sich bei einem der beiden älteren Männer um Erwin handelte. Wie immer war er mit seinem Fahrrad unterwegs, das vor der Seebrücke angelehnt stand. Erwin, ein Graal-Müritzer Einwohner, der im Sommer einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatte, dass ihre Kollegen dem Mörder aus der Rostocker Heide auf die Spur gekommen waren.

Jetzt erkannte der Mann auch Lisa und strahlte über sein ganzes Gesicht. »Sieht man sich mal wieder? Von Ihnen hab ich ja lange nichts gehört. Als der Hauptkommissar bei mir war, um sich offiziell zu bedanken, waren Sie ja nicht dabei.«

Lisa nickte. Erwin hatte wohl keine Ahnung davon, was ihr damals in der Nacht passiert war. Das musste er auch nicht und so überging Lisa seine Frage einfach. »Ihnen ist sicher bekannt, dass es bei der Kripo jede Menge zu tun gibt. Aber Sie haben uns sehr geholfen, passen Sie weiter gut auf. Das Böse ruht nie.«

»Ich halte meine Augen immer auf, aber meine Altherrenrunde löst sich gerade auf. Im letzten Sommer waren wir noch fünf Mann, mittlerweile sind wir nur noch drei. Das Alter. Dabei waren wir eine eingeschworene Runde, aber wenn der Kopf und die Knochen nicht mehr wollen, kann man nichts machen. Vielleicht kommen im Frühjahr ein paar neue Leute dazu.«

Lisa nickte ihm aufmunternd zu und machte Anstalten sich zu verabschieden. »Das wünsche ich Ihnen auf alle Fälle. Gut, dass Sie heute wenigstens zu zweit sind, da haben Sie jemanden zum Schnacken.«

Sie winkten sich zum Abschied zu und Lisa lief weiter bis ans Ende der Seebrücke. Der Wind hatte etwas nachgelassen, blieb aber kräftig genug, um sie ordentlich durchzupusten. Das war es, was Lisa besonders liebte, kein frostiger Wind, aber eine steife Brise, die die Naturgewalten andeutete. Ein Anflug von Melancholie überkam sie beim Anblick des Meeres. Sie ließ ihren Blick bis zum Horizont schweifen, den sie nur erahnen konnte. In der Ferne leuchtete das ständig wiederkehrende Licht vom Darßer Ort.

Was für eine gute Sicht heute, da ist sogar der Leuchtturm von Prerow zu sehen. Ein warmes Gefühl beschlich sie, begleitet vom süßlichen Schmerz der Sehnsucht. Einer Sehnsucht, von der sie nicht genau wusste, was diese zu bedeuten hatte. Oder verwechselte sie das Gefühl mit Melancholie?

»Sie hatten wohl den gleichen Gedanken wie ich«, wurde sie im selben Moment von einer kräftigen Männerstimme und doch zaghaft angesprochen. Lisa drehte sich um und blickte in die blauen Augen des Mannes, der vorhin aufs Meer hinausgesehen hatte. Jetzt, wo er vor ihr stand, merkte sie, dass er gar nicht so jung war, wie der erste Blick es vermuten ließ. Er musste etwa in ihrem Alter sein. Sie schätzte ihn auf Anfang 40.

»Ich liebe den Herbst am Meer«, hörte sie sich plötzlich automatisch sagen.

»Stimmt, ich hätte nicht gedacht, dass ich mich in dieser Jahreszeit an der Küste so wohlfühlen würde. Obwohl ich eigentlich nicht ganz freiwillig hier bin.«

»Ah ja«, antwortete Lisa kurz und dachte daran, dass der Mann sie blöd anmachen wollte. Er sprach weiter, während er seinen Blick auch übers Wasser schweifen ließ. »Hier bekomme ich meinen Kopf frei und es tut richtig gut, mal dem Großstadtlärm zu entfliehen.«

Lisa blieb seit dem Erlebnis mit dem Mörder vorsichtig, dennoch ging sie auf sein Gespräch ein. »Jetzt kommen meist diejenigen zu uns an die Küste, die nicht nur träge in der Sonne liegen wollen, um braun zu werden, eher die Urlauber, die die Natur lieben und die Ruhe suchen, die jetzt mehr und mehr wieder einkehrt.«

»In dem Punkt bin ich ganz bei Ihnen, jedenfalls was die Natur angeht. Ich bin zwar dienstlich hier, genieße aber diese eine Woche am Meer in vollen Zügen. Außerdem bin ich Hobbyfotograf und meine Kamera hat mir schon zu einigen besonderen Fotos verholfen.«

Lisa fiel die Souveränität des Mannes auf. Sie hatte sich geirrt. Dies war kein plumper Versuch, sie anzubaggern, viel eher suchte er ein kurzweiliges Gespräch. Er war dabei unaufdringlich und freundlich, deshalb kam ihre Frage fast von selbst. »Sie arbeiten in der Nachsaison in Graal-Müritz? Das ist eher selten. Die meisten Leute kommen in der Hauptsaison zu uns.«

Der Unbekannte überging ihre Frage. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Maximilian Schäfer, aber man sagt schlicht Max zu mir. Das gilt natürlich auch für Sie. Falls Sie mögen, versteht sich?«

»Also gut, ich bin Lisa Liebich.« Ein Schmunzeln entwich ihr. »Kürzer als Lisa geht es nicht.«

»Lisa! Ich finde, das passt gut zu Ihnen. Sind Sie aus dieser Gegend oder kommen Sie aus Graal-Müritz?«

»Richtig geraten. Zwar noch nicht so lange, aber ich bin bewusst wegen der Nähe zum Meer hierhergezogen. Obwohl ich jetzt zu meiner Dienststelle in Rostock eine Fahrt mit dem Auto in Kauf nehmen muss. Letztlich kann ich aber meine freie Zeit besser genießen und ›Im Haus des Gastes‹ wird für Kultur und Sport mit unterschiedlichen Angeboten gesorgt. Außerdem sind Rostock und Stralsund ja nicht weit entfernt.«

»Und Berlin auch nicht, da komme ich nämlich her.«

»Stimmt!« Lisa wurde skeptisch. War es vielleicht doch eine Masche von ihm?

Max Schäfer schien Lisas Irritation zu spüren. »Na ja, eigentlich ist es egal, wo man wohnt. Das Wichtigste ist vor allem, dass es einem dabei gut geht.«

Plötzlich schaute er auf seine Uhr. »Oh, jetzt habe ich mich etwas verplaudert, habe nachher einen wichtigen Termin in Rostock. Ein dienstliches Arbeitsessen sozusagen. Schade, ich hätte gern länger mit Ihnen geplaudert. Vielleicht treffen wir uns ja wieder, dann machen wir da weiter, wo wir heute aufgehört haben. Ich bleibe ja noch ein paar Tage hier.«

»Ja, vielleicht sehen wir uns, das würde mich freuen.«

Max Schäfer war so schnell weg, wie er aufgetaucht war, und Lisa bedauerte irritiert die schnelle Verabschiedung. Irgendwie ärgerte es sie, dass sie weder die Telefonnummern noch die Mail-Adressen ausgetauscht hatten. Mit etwas Abstand betrachtet, fand sie die Begegnung mit dem Mann interessant. Sie hätte gern gewusst, was ihn tatsächlich nach Graal-Müritz gebracht hatte. Und auch, was er beruflich machte und wo genau er wohnte.

Ob er allein war und, und, und? Es waren viel zu viele Fragen offengeblieben. Deshalb wollte sie den Mann unbedingt noch einmal treffen.

Nachdem Max Schäfer gegangen war, blieb Lisa eine Weile allein auf der Seebrücke zurück. Niemand war mehr zu sehen und auch Lisa machte sich mit zügigen Schritten auf den Weg nach Hause. Sie lief den Weg an der Straße entlang, nicht wie am Tag gleich hinter den Dünen.

Von dort konnte man längst den dunkel gewordenen Strand nicht mehr erkennen. Zwar war es erst kurz nach 18 Uhr, aber bereits so dunkel als wäre es Mitternacht. Weit und breit keine einzige Menschenseele in Sicht. Automatisch ging sie zügiger, sie mochte es immer noch nicht, allein am Waldrand zu spazieren.

Zu Hause zündete sie den Kamin an, stellte den am Morgen zubereiteten Salat auf den Tisch und öffnete eine Flasche ihres Lieblingsrotweins, einen Spätburgunder »Pinot Noir«.

Der Spaziergang hatte ihr gutgetan und sie fühlte sich nun ruhig und gelassen. Sie atmete tief durch und aß genussvoll den Salat mit etwas Brot. Die Flasche Wein stand geöffnet bereit, bevor das Aroma sich vollständig im Glas entfalten konnte. Sie trank nicht oft, nur wenn ihr Gaumen besondere Lust auf einen guten Tropfen hatte, dann genehmigte sie sich ein, zwei Gläser. Im Kamin knisterte das Holz fröhlich vor sich her und strahlte bereits eine behagliche Wärme aus. Moderne Klavierstücke von Andreas Wolter erfüllten gelassen den Raum. Genau das war der eine Moment, der sie zufrieden stimmte und den sie im Herbst an der Küste so sehr liebte.

Das erste Mal seit längerer Zeit war sie im Reinen mit sich und so blickte sie dankbar auf die letzten Wochen zurück, alles hatte sich letztlich zum Guten gefügt. Sie fühlte sich wohl in ihrer Haut.

Etwas später nahm sie in gewohnter Weise ein Buch mit ins Bett, doch es gelang ihr einfach nicht, sich auf die Worte darin zu konzentrieren. Einige Gedanken, die ihr gerade noch vor dem Kamin übersichtlich erschienen waren, kreisten jetzt wild und quer in ihrem Kopf herum. Die ersten Tage im Dienst, die Recherchen, die sie wieder an ihre eigene Situation erinnerten. Ja, und schließlich die Begegnung mit Maximilian Schäfer, alias Max.

Mit dem Bild im Kopf vom Prerower Leuchtturm schlief sie nach einer Weile friedlich ein. Aber die tiefe Ruhe hielt nicht lange an, ein Traum bemächtigte sich ihres Schlafes. Wild und ungestüm breiteten sich Bilder aus:

Sie sah sich im Krankenhaus vor dem Bett einer unbekannten Frau stehen. Sie beugte sich über ihr Gesicht, um sie genauer zu betrachten. Als sie direkt über der Frau war, erkannte Lisa weit aufgerissene Augen, die ins Leere starrten. Sie war tot, das war nicht zu übersehen.

Lisa wollte laut schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie wollte nur noch wegrennen, kam aber nur bis zur Tür. Dort blieb sie stehen, drehte sich noch einmal um, aber dann lief und lief sie, bis sie von starken Armen festgehalten wurde. Sie war direkt in die Arme eines Mannes, eines fremden Mannes, gelaufen.

Nein! Er war gar nicht fremd. Sie kannte ihn.

Es war Maximilian Schäfer.

Lisa wachte verschwitzt auf, doch den Traum wurde sie nicht los. Sie musste an die Frau im Krankenhaus denken, die heute von ihren Kollegen aufgesucht werden würde. Hatte der Traum etwa mit ihr zu tun? Wollte er ihr etwas sagen?

Aber was konnte ein Traum mit der Wirklichkeit zu tun haben? An Prophezeiungen glaubte sie nicht. Es war nur ein Traum, nichts weiter. Im Kommissariat wurde sie mental stark gefordert. Am nächsten Tag würde sich ihre Gefühlswelt normalisiert haben, da war sie sich sicher. Und der Mann von gestern … »Maximilian Schäfer«, sprach sie laut seinen Namen aus. Ob sie ihn wiedersehen würde? Irgendwie gefiel er ihr, obwohl sie es sich nur ungern eingestand.

Er schien nicht nur sympathisch, sondern auch klug zu sein. Ein Mann wie sie eher selten anzutreffen sind. Er sprach von einem Dienstessen in Rostock. Sie hatte keine Vorstellung davon, was sein Beruf war, aber das spielte auch keine Rolle. Er hatte schöne Augen, die sie tief und einprägsam angeblickt hatten, aber nicht zu tief, um aufdringlich zu sein. Sein Gesicht war fein gezeichnet und er sprach einwandfreies Hochdeutsch. Er könnte Lehrer sein, kam ihr in den Sinn. Aber verband ihn außer dem Job noch etwas mit Rostock? Ob er verheiratet war?

Ihre abenteuerlichen Gedanken an diesen Mann hatten den Vorteil, dass sie nicht nur vom Job abgelenkt wurde, sondern auch bald darauf erneut in einen tiefen Schlaf fiel.

Die Last der Lust

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