Читать книгу An den Feuern von Hastur - Marion Zimmer Bradley - Страница 10

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Es war kurz vor Mittag, aber der Himmel war so dicht bewölkt, dass es ebenso gut Dämmerung hätte sein können. Die Gartenwege waren schlammig, denn der heftige Regen hatte viel von dem Kies fortgewaschen. Die Bäume bogen sich unter ihrer Last aus regennassen Blättern, und die wenigen Blumen, die die Sintflut überlebt hatten, hingen entmutigt von ihren zerschlagenen Stängeln. Wasser tropfte von den übrig gebliebenen Blütenblättern. Der Garten war voll von Sturmschäden, abgebrochenen Ästen und Blättern.

Leonie ging langsam durch den verwüsteten Garten des Turms und betrachtete ihr Werk. Der Regen hatte so viel angerichtet, dass es vordringlichere Arbeiten gab – zum Beispiel die Fische zu retten, die aus ihrem Zierteich gespült worden waren –, und die Gärtner hatten noch nicht mit dem Aufräumen angefangen. Sogar die Schaukel baumelte schlaff an nur einem ihrer Seile, und niemand hatte sich ihrer bislang angenommen.

Leonie sah sie an und empfand nichts als Verzweiflung. Gibt es für einen Erwachsenen hier draußen gar nichts zu tun?, fragte sie sich.

Offenbar nicht. Hier ging es nicht zu wie in dem Garten, der zum Besitz ihrer eigenen Familie gehörte, oder in dem der Burg zu Thendara. Dort konnte man sich einen Weg durch Irrgärten suchen, Springbrunnen betrachten, sich in lauschige Grotten setzen, allein – oder auch nicht. Hier gab es nichts dergleichen. Nichts als ein ordentliches Stückchen Boden mit Bäumen und Blumen, obendrein nicht einmal besonders seltenen Blumen. Leonie machte kehrt und ging wieder nach drinnen. Sie war ruhelos und wusste nichts mit sich anzufangen.

Dann durchstreifte sie die unteren Stockwerke des Turms und fand sie merkwürdig still und leer. Man hätte fast glauben können, der Turm sei verlassen. Nicht einmal Dienstboten ließen sich blicken.

Sie wusste, wie wenige Personen Dalereuth bewohnten, verglichen mit der Zahl, die der Turm hätte beherbergen können. Hatte es so in den Türmen, die geschlossen worden waren, ausgesehen, so still, so brütend? Wenn sie einen betreten würde, hätte sie dann das gleiche seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, auch wenn sie wusste, es war niemand da?

Nach einer Weile fand sie einen verlassenen Raum voller Musikinstrumente. Endlich – eine Beschäftigung für die Hände einer Erwachsenen! Leonie holte sich eine rryl aus geschnitztem und lackiertem Rosenholz von der Wand und fuhr mit den Händen zärtlich über die metallenen Saiten. Dann begann sie, ein altes Volkslied zu spielen, improvisierte eine Überleitung und ließ ihr einen Strauß seltsamer Harmonien folgen. Dabei verflog ihre Ruhelosigkeit, und sie geriet in eine Art Trance. Als Fiora ein paar Stunden später eintrat, stellte Leonie erstaunt fest, wie weit fortgeschritten der Tag schon war. Die Sonne, riesig und rot, stand tief, und ihre Strahlen durchdrangen die Wolken. Es war, als würde Fiora das Mädchen forschend ansehen.

»Ich wusste gar nicht, dass du so gut spielst.« Die Bewunderung in ihrer Stimme überraschte Leonie. Sie hatte nicht gedacht, dass irgendetwas, das sie tat, die Bewahrerin beeindrucken würde. Zu schade, dass es etwas so Unbedeutendes wie Musik war. »Wo hast du es gelernt?«, fragte Fiora.

»Ich hatte Musiklehrerinnen, seit ich ein kleines Kind war.« Leonie zuckte die Achseln. »Das gehörte einfach zu meinem Unterricht und war mir lieber als das langweilige Sticken.«

»Weißt du, wie glücklich du bist?« Eine Spur von Neid färbte Fioras Worte. »Mein Vater war arm, deshalb hatte ich keinen derartigen Unterricht, bis ich hierher kam. Und fangt man mit der Musik erst so spät im Leben an, lernt man es nie mehr richtig. Wenn ich alle meine wachen Stunden mit Üben verbrächte, würde ich doch nie mehr so gut werden wie du, und sollte ich die Hundert erreichen.«

»Ihr habt wohl Recht«, murmelte Leonie überrascht. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Es machte mir Freude, neue Lieder zu lernen, aber ich bin meiner Gouvernante immer davongelaufen, weil ich keine Lust zum Üben hatte. Ich sagte dann immer, wenn ich nicht wolle, könne sie mich durch nichts dazu zwingen.«

Fiora lächelte ganz schwach. »Das kann ich mir gut vorstellen.«

Leonie hätte beinahe gelacht und beherrschte sich erst im letzten Augenblick. »Aber bald lernte ich, die Musik um ihrer selbst willen zu lieben, und dann übte ich so viel, dass sie zufrieden war – obwohl ich mit dem ersten Sticktuch, das ich anfertigen sollte, nie fertig geworden bin. Ich glaube, es liegt immer noch in meinem Arbeitskorb, wenn die Motten es nicht gefressen haben.«

»Ja«, sagte Fiora, »ich nehme an, es wäre sehr schwer, dich zu etwas zu bewegen, das du nicht tun willst. Vielleicht sollten wir froh sein, dass du dir diese Ausbildung so sehr gewünscht hast.«

Leonie hob hochmütig das Kinn. »Das ist immer eine ausgemachte Sache gewesen. Schon als ich ein kleines Mädchen war, wusste ich, dass ich früher oder später in einen Turm käme. Ich habe starkes laran. Es muss ausgebildet werden. Die Frage war nur, in welchen Turm ich gehen würde.«

Es klang beinahe so, als habe sie die Wahl treffen müssen, nicht die Bewahrerinnen der noch genutzten Türme. Als sei ihre Anwesenheit eine Ehre für die Türme, nicht, als sei es eine Ehre für sie, aufgenommen worden zu sein. Fiora zögerte. Für sie war es eine neue Erfahrung, sich klein und unbedeutend vorzukommen, aber sie dachte sich, wenn sie schon eine Hastur-Tochter in ihrer Obhut hatte, werde sie sich daran wohl gewöhnen müssen. Schließlich sagte sie sich, als Bewahrerin von Dalereuth brauche sie sich niemandem unterlegen zu fühlen, schon gar nicht dieser stolzen Tochter der Comyn. »Hast du nie – wie es so viele Mädchen tun – an eine Heirat gedacht?«, forschte sie.

»Niemals«, erklärte Leonie entschieden. »Nicht einmal, als ich noch ganz klein war. Mir war immer klar, dass ich jeden heiraten könnte, den ich wählte, aber da war niemand, den ich hätte heiraten wollen. Für mich gab es niemanden, der meinem eigenen Zwillingsbruder auf irgendeine Weise gleichgekommen wäre. Deshalb würde natürlich jeder, den ich wählte, wenn ich überhaupt jemanden wählte, im Rang unter mir gestanden haben. Ich wollte keinen Mann heiraten, den ich nicht als mir ebenbürtig betrachten konnte, und deshalb bin ich hergekommen.« Von dem Heiratsantrag des Königs sprach sie nicht. Zwar hatte der Rang in seinem Fall ihre Entscheidung nicht beeinflusst, aber es hatte andere Gründe gegeben. Persönliche Gründe, die Fiora nicht zu erfahren brauchte.

»Dann«, murmelte Fiora mit nur einem kleinen bisschen Ironie, »können wir uns ja glücklich schätzen.« Auf seltsame Weise war es ihr ernst damit. Wenn Leonie sich anders entschieden hätte, wäre eine sehr starke Telepathin vielleicht ohne Ausbildung geblieben, und eine der ältesten Redewendungen in den Domänen lautete, eine unausgebildete Telepathin stelle eine Bedrohung für sich selbst und jeden Menschen ihrer Umgebung dar. Dorilys die Sturmkönigin war nur eins von hundert Beispielen, wie leicht sich diese Redewendung als wahr erweisen konnte.

Leonie tat, als habe sie das falsch verstanden. »Nein, ich kann mich glücklich schätzen, dass sich hier ein Platz für mich gefunden hat.« Sie trug die Ironie sehr viel stärker auf als Fiora. »Erst hatte ich vor, nach Arilinn zu gehen – wie es die meisten Comyn-Töchter tun.«

Es war kein Zweifel daran möglich, was sie meinte: Sie hätte nach Arilinn gehen sollen. Immer noch nahm sie es übel, dass man ihr dort die Aufnahme verweigert hatte. Dalereuth war im Vergleich zu Arilinn offenbar nur eine schlechte zweite Wahl.

»Ja«, sagte Fiora nach einer Weile, »als wir von dir hörten und dass du zur leronis ausgebildet werden solltest, hatten wir erwartet, du würdest Arilinn wählen.« Sie erkannte sofort, dass das missverstanden werden konnte – und dass Leonie bereit war, die Gelegenheit zu nützen. Deshalb fuhr sie schnell fort:

»Es ist nicht etwa ...« Sie legte den Kopf ein bisschen schief. »... dass wir nicht froh wären, dich hier zu haben. Aber – ihr wart zwei, und es ist etwas anderes, wenn Geschwister zur gleichen Zeit ausgebildet werden sollen.«

Sie zögerte. Es war Tradition, die Schüler von ihren Familien zu trennen, aber Fiora glaubte nicht, dass Leonie gegen ihren Willen von jemandem getrennt werden konnte. Bestimmt konnte das Band zwischen ihr und ihrem Zwillingsbruder nur schwer durchschnitten werden, trotz der großen physischen Entfernung zwischen hier und Arilinn und selbst bei Leonies voller Mitarbeit, auf die sie kaum rechnen durften. Leonie auszubilden würde so oder so ein großes Problem werden, und die Arroganz des Mädchens verschlimmerte es noch. Doch die ordnungsgemäße Ausbildung dieses hochmütigen Kindes würde Fiora zur großen Ehre gereichen – oder jeder anderen Bewahrerin, die es fertig brachte. An dem beträchtlichen Talent des Mädchens war nicht zu zweifeln. Aus ihr würde eine leronis werden, mit der man rechnen musste.

Da saß das Kind und spielte mit der Harfe, als sei das Gespräch beendet und es habe keine Bedeutung, dass Fiora weiter anwesend blieb. Obwohl Fiora noch nie eine königliche Verabschiedung erlebt hatte, erkannte sie, dass ihr eine solche zuteil geworden war. Mehrere Minuten lang dachte die Bewahrerin über das Problem Leonie nach, während das Mädchen müßig auf der rryl klimperte. Dann entschloss sie sich, schonungslos ehrlich zu sein. Vielleicht erschütterte das Leonies Selbstbewusstsein so weit, dass sie es fertig brachte, sich einmal die Meinungen und Wünsche einer anderen Person anzuhören.

Fiora beruhigte sich mit einem tiefen Atemzug. »Natürlich, eins steht fest: Wenn du einmal richtig ausgebildet bist, wirst du uns allen große Ehre machen.« Sie hielt inne, um sich zu vergewissern, dass sie Leonies volle Aufmerksamkeit besaß. »Aber ich bin mir durchaus nicht sicher, dass du richtig ausgebildet werden kannst.« Das verschlug Leonie die Sprache, und Fiora fuhr fort: »Und ich denke, dass jede andere Bewahrerin in den Domänen dir das Gleiche sagen wird. Vielleicht war das auch ein Grund, warum du hierher geschickt wurdest, wo wir nur zwei andere junge Mädchen zur Ausbildung haben und mehr Zeit auf dich verwenden können.«

Leonie starrte die Bewahrerin benommen an. Fiora war sich nicht sicher, ob sie ausgebildet werden könne? Noch nie zuvor hatte jemand Zweifel an ihrer Fähigkeit, eine leronis zu werden, ausgesprochen! Doch Fiora meinte es anscheinend ganz ernst, und sie sprach so ruhig, als handele es sich um eine feststehende Tatsache.

Vielleicht ... vielleicht war es das. Der Gedanke erschreckte sie. Vielleicht war sie in das ruhige Dalereuth ins »Exil« geschickt worden, weil Arilinn in ihr ein zu großes Risiko sah! Leonie war fähig, Lügen zu erkennen – und Fiora log nicht, erfand auch nichts, um ihrer Schülerin Angst einzujagen. Sie meinte genau das, was sie sagte.

Aber Leonie war entschlossen, sich nicht ängstigen oder einschüchtern zu lassen. Mit gedämpfter, vorsichtiger Stimme erkundigte sie sich: »Warum sollte das nicht möglich sein?«

Es war, als ob die anderweltlichen Augen sie unbeirrt betrachteten. »Wegen deines Stolzes, Leonie. Weil du dir deiner Bedeutung in der Welt so sicher bist, weil du glaubst, alles, was du begehrst, zu erhalten. Ich kann schon jetzt sagen, dass du ein großes Potenzial hast, und es ist durchaus möglich, dass du die Hastur-Gabe besitzt. Aber die Ausbildung in einem Turm, besonders die zur Bewahrerin, die du anstrebst, dauert lange und ist schwierig. Und mühsam. Du wirst vieles zu opfern haben, und es steht nicht fest, was du dadurch gewinnst.« Sie seufzte, und Leonie rückte voller Unbehagen auf ihrem Stuhl herum. »Ich bin mir nicht sicher, ob du das Zeug dazu hast, es auszuhalten. Du hast nie etwas opfern müssen. Ich weiß nicht, ob du der Selbstaufopferung in dem erforderlichen Ausmaß fähig bist. Wie du selbst erzählst, hast du nie etwas getan, das du nicht tun wolltest, du hast dich nie an etwas Gefahrvollem versucht, und du hast nie bei irgendetwas versagt. Vielleicht ist dieses Fehlen von Misserfolgen weniger deinen Fähigkeiten zuzuschreiben als vielmehr der Tatsache, dass du dich nur an solche Dinge heranwagst, die dir leicht fallen, und allem, was dich langweilt, aus dem Wege gehst.«

Leonie öffnete den Mund, um zu protestieren, und schloss ihn wieder, als sie erkannte, dass diese Worte, so grausam sie waren, nichts als die absolute Wahrheit enthielten. Ihr Unbehagen wuchs. Fiora musste sie auf eine Weise durchschauen können, wie es noch nie jemandem gelungen war – ausgenommen, manchmal, Lorill –, und es sah ganz so aus, als sei das, was Fiora im Innersten ihrer Seele gefunden hatte, ihr wenig sympathisch und ziemlich schäbig.

Fiora sprach ganz ruhig weiter, als würde sie nichts von der Unruhe bemerken, in die sie ihre neueste Schülerin versetzte. »Du hast noch nicht einmal begonnen, die Grenzen irgendeiner deiner Fähigkeiten zu erkunden. Bei der Ausbildung hier magst du zum ersten Mal erleben, was Versagen ist, und ich weiß nicht, wie gut du das verkraften wirst. Gar nicht gut, vermute ich.«

Leonie blinzelte. Sie war erschüttert und zutiefst ernüchtert. Das war eine völlig neue Erfahrung für sie, zudem eine, die ihr überhaupt nicht gefiel. »Dann glaubt Ihr, ich werde versagen, Fiora? Oder aufgeben, sobald das Lernen schwierig wird?«

Fiora zuckte leicht die Achseln, als spiele es für sie keine große Rolle. »Das kann niemand wissen außer dir selbst. Doch ich kann dir sagen, ganz gleich, wie groß deine Gabe ist, der Erfolg ist dir nicht sicher. Du wirst erst dann wissen, dass du es schaffen wirst, wenn du bereit bist, die Grenzen hinauszuschieben, die dir Körper und Geist setzen, und das Versagen zu riskieren. Doch wie sollst du willens sein, das zu tun, wenn du es noch nie zuvor getan hast? Und wenn du, nur indem du durch die Tore des Turms wieder hinausspazierst, alles haben kannst, was du aufgegeben hast – Diener, hübsche Dinge, Rang, Prestige, Bewunderung und eine Menge Schmeichler zu deinen Füßen?«

Das schmerzte schlimmer als ein körperlicher Schlag. »Gibt es einen Weg, auf dem ich sicher zum Erfolg gelange?«, fragte Leonie beinahe verzweifelt.

»Einen sicheren Weg gibt es nicht.« Fiora lachte vor sich hin, als finde sie die Frage lustig. »Niemand kann einen solchen Weg finden. Suchst du denn nach einer Möglichkeit zu betrügen oder nach einer leichten Antwort? Nach den zehn einfachen Schritten, um eine Bewahrerin zu werden? Nach den schnellen, richtigen Antworten, nach allen auf einmal?«

Leonie ließ den Kopf hängen. Das war natürlich genau das, was sie sich erhofft hatte, als sie mit dieser fürchterlich dummen Frage herausgeplatzt war. Jetzt wünschte sie, den Mund gehalten zu haben.

Fiora spürte, dass Leonie schwach wurde, und nahm ihren Vorteil wahr. »Ich glaube schon, wenn du bereit bist, hart dafür zu arbeiten, ist es dir auch möglich, so gut wie alles zu erreichen. Aber du musst es stark genug wollen, stark genug, um hart und fleißig zu arbeiten«, setzte sie Leonie auseinander. »Ich weiß nur nicht, ob du die Fähigkeit hast, das zu tun, besonders wenn das Lernen langweilig ist und du vieles dafür opfern musst. Weißt du, warum Bewahrerinnen rote Gewänder tragen?«

Leonie schüttelte benommen den Kopf. Die Frage hatte sie überrascht, und sie vergaß für den Augenblick, dass Fiora sie nicht sehen konnte.

»Sie sollen damit nicht als etwas Besonderes hervorgehoben werden.« Es war, als habe Fiora die Geste doch gesehen. »Sie sollen nicht als Personen gekennzeichnet werden, denen große Achtung gebührt. Sie werden damit als gefährlich ausgewiesen, Leonie. Es ist gefährlich, lebensgefährlich, eine Bewahrerin im Kreis zu berühren. Sieh her ...«

Sie streckte ihre blassen Hände aus, und jetzt sah Leonie, dass sie mit winzigen Narben wie von Brandwunden bedeckt waren, als sei ein Schauer von Feuerfunken auf sie niedergefallen und habe das Fleisch verbrannt.

»Es ist so gefährlich für andere, dass eine Bewahrerin lernt, niemals eine Berührung zu erlauben, ob im Kreis oder außerhalb des Kreises. Und so lernen wir – durch Schmerz, Leonie. Du wirst in deinem Leben noch nicht viel Schmerz erlitten haben. Ich bin mir nicht sicher, ob du auch nur ein wenig Schmerz ertragen kannst. Und das hier ist erst der geringste Teil der Ausbildung, das kleinste Opfer.«

Leonie saß da und dachte darüber nach. In all ihren Tagträumen hatte sie nur an die Macht einer Bewahrerin gedacht und nicht daran, was es kostete, diese Macht zu erlangen. Ihr Vater hatte mehr als einmal gesagt: »Große Macht verlangt ein ebenso großes Opfer«, und sie hatte nie ganz verstanden, was das heißen sollte. Jetzt hatte sie ein bisschen gesehen – nur ein bisschen –, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob ihre Tagträume falsch gewesen seien. Darin hatte sie nie auf irgendetwas verzichten müssen.

Wie viel hatten die anderen Bewahrerinnen für ihre Macht geopfert? Und warum hatten sie es getan? Endlich bat sie: »Erzählt mir, wie Ihr hergekommen seid, Fiora.«

Fiora hatte nicht direkt in den Gedanken des Mädchens herumgestöbert – das gehörte sich nicht, solange man nicht dazu eingeladen war –, aber bestimmte Dinge und bestimmte Gefühle waren übergeflossen, und es ließ sich so manches daraus schließen. Leonie dachte nach statt vorauszusetzen. Das war ein Anfang, und so antwortete Fiora ruhig: »Ich wurde bei einem Fest gezeugt. Man verheiratete meine Mutter, die noch sehr jung war, an einen kleinen Bauern im Tal. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, bekam ich eine Krankheit, die meine Augen angriff, und es stand fest, dass ich früher oder später erblinden würde. Mein Vater wollte mich schnell verheiraten, damit mein zukünftiger Gatte nicht merkte, einen wie schlechten Handel er machte. Aber die Schwester meiner Mutter berichtete einer leronis von der Krankheit und von meiner Ähnlichkeit mit den Comyn. So wurde ich auf laran getestet. Ich war begabt und kam her. Ich war begabt genug, geduldig genug und willens, genug zu leiden, so dass ich schließlich zur Bewahrerin gemacht wurde.«

»Es war für Euch nur die zweite Wahl?«, wunderte Leonie sich. »Ich hätte gedacht, jemand, der sich entschließt, eine leronis zu werden, müsste sich dies mehr als alles andere wünschen.«

»Sicher, zuerst war es nur die zweite Wahl«, gestand Fiora. »Aber nachdem ich eine Zeit lang hier war, erkannte ich, wie klein und bedeutungslos mein Leben andernfalls geworden wäre. Ich wäre nichts anderes gewesen als eine Frau wie meine Mutter, hätte ein Kind nach dem anderen geboren, im Haus und auf dem Feld geschuftet, und mit sehr, sehr viel Glück hätte ich einen Mann bekommen, der freundlich zu mir gewesen wäre. Dagegen hat eine leronis die Macht, viel Gutes zu tun – zu heilen, das richtige Wetter herbeizurufen, vor Feuer und Sturm zu schützen. Mir wurde bewusst, dass ich, wäre mir die Wahl geblieben, das Leben einer leronis gewählt hätte. Vor allem anderen.« Sie nickte, dann fuhr sie fort: »Aber nur wenige genießen den Luxus, wählen zu können. Heute würde ich mein Leben nicht einmal verändern, um Königin der Domänen zu werden, aber unter den Comyn gibt es viele Frauen, die durch den Willen ihrer Familien ebenso gebunden sind, wie ich es durch den Willen meines Vaters war.«

Leonie biss sich bei Fioras Wortwahl auf die Lippe. Sie hätte ihr Leben nicht einmal verändert, um Königin zu werden? Mit leiser Stimme sagte sie: »Ich denke ...« Nein, ich weiß, berichtigte sie sich in Gedanken, denn sie hatte diese Wahl ja gehabt und das Leben einer Königin nicht haben wollen. »... dass auch ich ein solches Leben nicht verändern würde, um Königin zu werden.«

»Dann bist du glücklich«, erwiderte Fiora. »Du bist eine von denen, die den Luxus der Wahl hatten und sich entschieden haben, nach dem eigenen Traum zu greifen. Die Frage ist, wenn sich der Traum als die scharfe Schneide einer Klinge erweist, wirst du dann immer noch den Mut und den Willen haben, ihn nicht nur zu ergreifen, sondern auch festzuhalten? Wenn ja, versichere ich dir, solange du es dir mehr als alles andere wünschst, wird es sehr wenig geben, was du nicht vollbringen kannst.«

»Das glaubt Ihr wirklich?« Leonie suchte in Fioras Gesicht nach Bestätigung und Zuneigung, und plötzlich sehnte sie sich danach wie nie zuvor.

Fiora nickte entschieden. »Ja.«

»Ich will«, erklärte Leonie ganz leise, »und ich werde alles dafür riskieren. Sogar – wie Ihr gesagt habt – das Versagen.« Sie lächelte zitterig, und wieder vergaß sie, dass Fiora das nicht sehen konnte. »Ich will versuchen, nicht an das Versagen zu denken, aber ich bin bereit, es zu riskieren. Mehr als das – wenn ich versage, bin ich bereit, es von neuem zu versuchen, immer wieder und wieder, bis ich Erfolg habe.«

»Wenn du in diesem Geist an die Sache herangehst ...« Jetzt lächelte auch Fiora, »... brauchst du ein Versagen nicht zu fürchten. Erleben wirst du es bestimmt – wie jede Bewahrerin es beim Lernen erlebt hat –, aber du brauchst es nicht zu fürchten.«

»Ich danke Euch, vai leronis«, sagte Leonie mit schmerzlicher Demut.

Als sie sich zum Gehen wandte, fragte Fiora: »Hast du uns nun diesen Regen gegeben?«

Noch vor einer Stunde hätte Leonie auf diese Frage mit einem Zornausbruch reagiert. »Hätte ich das nach Euren Regeln nicht tun dürfen?«

»Ich hoffe, der Tag wird kommen, an dem du dir diese Frage selbst beantworten kannst«, antwortete Fiora, und sie lachte beinahe. »Aber wenn dieser Tag kommt, wirst du der einzige Mensch sein, dem du für dein Handeln verantwortlich bist. Und ich glaube, du wirst feststellen, dass du dir eine strengere Zuchtmeisterin sein wirst, als ich es bin.« Nun lachte sie wirklich. »Wahrscheinlich würde niemand – niemand außer mir, heißt das – dir glauben, wenn du behauptetest, es getan zu haben. Vielleicht nicht einmal eine andere Bewahrerin. Im Grunde fangen wir also in diesem Augenblick an, Leonie.«

Fiora verließ das Zimmer, und Leonie holte tief Atem. Wieder überfielen sie Ruhelosigkeit und böse Ahnungen, und nach einer Weile gab sie den Gedanken ganz auf, sich wieder der weggelegten rryl zu widmen.

Es war jetzt später Abend. Die letzten Spuren Rot am Himmel waren verblasst, und langsam und stetig fiel der nächtliche Regen hernieder, so ganz unähnlich dem heftigen Gewitter, das Leonie herbeigerufen hatte. Trotz des trostlosen Geräuschs, mit dem der Regen auf die Blätter, das Dach und die Pfützen trommelte, spürte Leonie keinen Drang, daran herumzupfuschen. Es war nicht der Regen, der sie störte.

Nein, mit dem Regen hatte ihre Unruhe nichts zu tun, auch nicht mit dem Wetter im Allgemeinen. Was sie spürte, kam von anderswoher.

Nach einiger Zeit stieg sie zu dem Zimmer hinauf, das ihr zugewiesen worden war, einer geräumigen und luftigen Kammer im dritten Stock. Verglichen mit ihren Räumen in Burg Hastur oder ihrem Teil der Hastur-Suite in Thendara war sie kahl und armselig, aber die Neuheit, an einem ihr völlig fremden Ort zu sein, hatte sich noch nicht abgenutzt. Außerdem wusste sie, wenn sie das Zimmer so, wie es war, einmal satt hatte, konnte sie es möblieren lassen, ganz wie sie wollte. Darüber sann sie eine Weile nach und versuchte, sich von dem ernüchternden Gespräch mit Fiora und dem Unbehagen, das sie immer noch erfüllte, abzulenken.

Vielleicht sollte sie ihren Raum mit Wandbehängen aus karmesinroter Seide dekorieren? Nein, sie würde noch genug Rot in ihrem Leben um sich haben, wenn sie Bewahrerin geworden war, und im Augenblick war sie entschlossen, sich mit nichts Geringerem zufrieden zu geben. Vielleicht eine blaue, mit Grün durchschossene Seide, die sie auf dem Markt gesehen hatte, als sie durch Temora kam. Das war eine Farbe, die sie nie zuvor gesehen hatte, ein echter Triumph der Kunst des Webers, und sie würde Helligkeit in diese Kammer bringen, das Gefühl, im Himmel zu leben.

Der Turm rings um sie schlief. Leonie war sich der schlafenden kleinen Mädchen bewusst, einer einsamen Beobachterin an den Relais, die Botschaften von der Dauer eines Lidschlags über das Angesicht der Welt schickte, von Domäne zu Domäne. Zu dieser Stunde war es ziemlich unwahrscheinlich, dass irgendwelche Botschaften durchkommen würden, und doch musste jederzeit eine Arbeiterin dort Wache halten, denn es konnte ja ein Notfall eintreten. Leonie war sich Fioras bewusst, die sich in ihrer ewigen Dunkelheit bewegte und sich zum Schlafengehen vorbereitete. Wie seltsam das sein musste – niemals den Tag von der Nacht unterscheiden zu können, außer durch die Handlungen anderer ...

Während sie über die Bewahrerin nachdachte, erkannte sie, dass sie eine Freundin gefunden hatte. Es war kein unangenehmer Gedanke, dass ihr Freundschaft jetzt dort entgegengebracht wurde, wo anfangs nur Feindseligkeit gewesen war. Fiora stand von nun an auf ihrer Seite – und obwohl ein schwerer Weg vor ihr lag, bis sie ihr Ziel erreicht hatte, würde Fiora ihn nicht noch schwerer machen.

Leonie legte sich hin und versetzte sich in eine leichte Trance statt einzuschlafen. Sie musste unbedingt dem Grund für ihre bösen Ahnungen auf die Spur kommen und versuchte mit der Fähigkeit, die sie Wetterveränderungen spüren ließ, die Richtung festzustellen, aus der sie kamen. Ja, sie sah die Wettermuster, die sie ebenso gut kannte wie die Saiten der rryl, während sie in der Überwelt dahintrieb. Sie studierte sie aus Gewohnheit, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte. Aber die Quelle ihres Unbehagens hatte nichts mit dem Wetter zu tun.

Sie spürte einen Sturm, normal für diese Jahreszeit. Irgendwer würde davon überrascht werden, aber das war nichts Neues. Immerfort wurden Leute von Stürmen überrascht, und sie wussten sich dann zu helfen. Sogar hier in Dalereuth verschwendete man keine Gedanken an das Schicksal eines Hirten oder seinesgleichen, der das Wetter nicht vorhersagen konnte. Kein Hirte würde lange am Leben bleiben, wenn er keine Vorkehrungen traf, die ihm Schutz vor plötzlich auftretenden Stürmen boten.

Mit Gedankenschnelle reiste sie weiter, ohne darauf zu achten, wo sie war, und verlor die Orientierung. Als dieser Zustand eine Weile angedauert hatte, überlegte sie, ob sie in ihren Körper zurückkehren solle. Allmählich wurde sie müde. Dann nahm sie plötzlich eine Frau wahr.

Oder vielmehr das Gefühl, dass da eine Frau war. Leonie konnte sie nicht sehen. Auf dieser Ebene bedeutete Sehen nichts. Die Musik um sie herum hatte den Kontakt zu Stande gebracht. Leonie war es gewöhnt, in musikalischen Begriffen zu denken, und als Erstes erkannte sie das Instrument, das die Frau in den Händen hielt. Es war eine Flöte – zumindest fühlte es sich so an –, aber sie klang nicht wie irgendeine Flöte, die Leonie je gehört hatte, denn der Ton war ein tiefer, voller Bass, aber trotz der Basslage klang das Instrument unmissverständlich wie eine Flöte und fühlte sich auch so an.

Die Musik nahm Leonie gefangen und hielt sie fest – obwohl sie auf einer tieferen Ebene wusste, dass sie nicht eigentlich gefangen war, eher fasziniert, und dass sie sich jederzeit zurückziehen konnte, wenn sie es wünschte. Doch im Augenblick wünschte sie es nicht.

Sie folgte dem Faden der Musik, der Melodien durch die Dunkelheit webte. Der ungewöhnliche Klang verzauberte sie, und sie nahm die merkwürdigen Vibrationen durch einen bisher unerforschten Sinn wahr. Sie war eins mit der unbekannten Musikerin.

Es war eine Frau, sagte sie zu sich selbst. Das stand für sie zweifelsfrei fest. Die Empathie zwischen ihnen war stark, aber ein so faszinierendes Instrument hatte sie noch nie gespielt oder auch nur gesehen.

Leonie verlor sich in dem Klang. Es war so schön, nur zu lauschen und dahinzutreiben ...

Sie musste aus der Trance in richtigen Schlaf geglitten sein, denn als sie die Augen öffnete, hatte es aufgehört zu regnen, und die Muster, die das Mondlicht auf die Wände warf, gaben ihrem Zimmer ein seltsames und anderweltliches Aussehen. Mitternacht – das erkannte sie an dem Winkel der drei Monde, die sie durch das Fenster sah – war längst vorbei. Der Klang der Flöte war verschwunden, sogar aus ihrem Kopf. Vielleicht hatte die Abwesenheit dieses Klanges sie geweckt. Hatte sie geträumt? Nein, denn die Erinnerung an die geheimnisvoll veränderte Flötenmelodie war kein Traum, sondern so wirklich wie jede Musik, die sie je gehört hatte. Sie hätte auf dem Instrument spielen, die unvertrauten Melodien zurückrufen können – wenn das Instrument dagewesen wäre. Doch sie bekam es nicht wieder zu fassen.

An den Feuern von Hastur

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