Читать книгу An den Feuern von Hastur - Marion Zimmer Bradley - Страница 8
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ОглавлениеIm Garten des Dalereuth-Turms gingen drei Mädchen spazieren, zwei eng beieinander wie beste Freundinnen, während die Dritte ein bisschen Abstand hielt. Alle drei hatten das rote Haar und in ihren Zügen das starke aristokratische Gepräge der Comyn, der erblichen Autarkie der Domänen. Als Comyn bezeichnete man die Nachkommen der sieben Familien, und man betrachtete sie mit Ehrfurcht und Neid, denn jede Familie hatte eine besondere Gabe, ein laran. Nicht jedes Mitglied der Comyn besaß die Gabe in voller Kraft – oder überhaupt –, denn in dieser Zeit war ihr Blut dünner geworden, und die Kräfte starben aus. Türme, die früher einmal Botschaften und sogar Boten über weite Entfernungen geschickt hatten, standen dunkel und leer. Das machte diese drei Mädchen so kostbar – für ihre Familien als auch für den Turm.
Melora und Rohana Aillard, zehn und zwölf Jahre alt, waren Kusinen, sahen sich jedoch ähnlich wie Schwestern. Das dritte Mädchen war Leonie Hastur, ein bisschen größer, ein bisschen heller im Teint, ein bisschen älter als die anderen – und sich ihres Ranges und der Kraft ihres laran sehr viel stärker bewusst. Ihr Stolz zeigte sich schon in ihrer Haltung. Sie hielt den Kopf hoch erhoben und dachte nicht daran, die Augen mit der jungfräulichen Schüchternheit, die die Gesellschaft gern sah, niederzuschlagen.
Zu dieser Zeit, spät am Tag, durften die jüngeren Mädchen im Turm in den Garten gehen, sofern das Wetter es erlaubte, spielen und sich vergnügen, wie sie wollten. Leonie betrachtete sich als viel zu alt für solchen Unsinn wie Spiele, aber es war eine Chance, den Mauern des Turms wenigstens für eine Weile zu entrinnen.
»Setz dich auf die Schaukel, ich werde dich anstoßen«, sagte Melora, die zart gebaut und die Kleinste von den dreien war. »Noch regnet es nicht, und ich möchte so lange wie möglich draußen bleiben.«
»Lange wird es nicht mehr dauern«, antwortete Rohana mit einem Seufzer. »Zu dieser Jahreszeit regnet es hier abends wohl immer. Hoffen wir nur, dass es erst anfängt, wenn wir hineingegangen sind.«
»Heute Abend wird es nicht regnen«, behauptete Leonie überzeugt und mit einem schlauen Lächeln. »Ich möchte die Monde sehen, auch wenn sie nach der Konjunktion schon wieder dabei sind, sich zu trennen. Es ist sehr wichtig für mich.«
Sie sagte nicht, warum es für sie wichtig war, und die beiden anderen Mädchen machten sich nicht die Mühe zu fragen. Auch wenn sie sich erst kurze Zeit kannten, wussten sie, dass Leonie es ihnen nicht erzählen würde.
»Und ich vermute«, spottete Rohana Aillard, »das Wetter wird mitspielen und gut bleiben, nur weil du es von ihm verlangst. Das hätte ich natürlich wissen müssen. Sogar das Wetter muss gehorchen, wenn eine Hastur spricht.«
»Für gewöhnlich tut es das«, erklärte Leonie, als habe sie nichts von Rohanas verschleiertem Hohn gemerkt. »Wenn du nicht schaukeln willst, Rohana, dann lass mich.«
»Nein, zuerst bin ich an der Reihe.« Rohana kletterte in die Schaukel und setzte sie in Bewegung. Ihren Versuch, Leonie aus der Fassung zu bringen, gab sie auf. »Hier müsste es zwei Schaukeln geben.«
»Oder drei, aber wie oft hat man hier mehr als eine Person, die jung genug ist, um sich dafür zu interessieren?«, fragte Melora. Mit unschuldiger Fröhlichkeit wandte sie sich Leonie zu. »Ich bin froh, dass du bei uns bist, Leonie, alle anderen sind so alt und gesetzt.«
»Fiora ist nicht alt«, widersprach Rohana, erfüllt von einem vagen Loyalitätsgefühl gegenüber der Bewahrerin.
»Sie ist so gut wie alt«, lautete Leonies Urteil. »Sie handelt, als sei sie hundert Jahre alt, und ist verknöcherter als jeder alte Großvater. Als sie mich hier willkommen hieß, hielt sie mir eine fürchterlich lange Predigt. Sie betonte, ich sei jetzt eine leronis und müsse ständig die besten Eigenschaften der Comyn repräsentieren.« Leonie gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Als ob ich das nicht sowieso täte! Ich bin schließlich eine Hastur. Man hat mich in meinen Pflichten unterwiesen, seit ich die Wiege verließ!«
»Und du hast jetzt vermutlich schon mehr von einer leronis und bist eine bessere Telepathin als die meisten von uns nach der Ausbildung.« Rohanas Stimme klang ein bisschen resigniert. Dann leuchtete Neugier in ihren Augen auf, und sie vergaß ihren Versuch von vorhin, Leonie durch Sticheleien zu reizen. »Sag doch, Leonie, hast du die Hastur-Gabe?«
Leonie ließ sich nicht – nicht ganz – anmerken, wie stolz sie darauf war. »Ja, ich denke schon.«
»Das heißt, du bringst ohne Matrix mehr fertig als wir anderen mit«, sagte Rohana ehrfürchtig. »Erzähl mal, warum schickt man dich, wenn das wahr ist, überhaupt in einen Turm?«
Leonies schönes, arrogantes Gesicht wurde sehr ernst. Laran-Kräfte – besonders ihre eigenen – waren etwas, über das sie niemals leichtfertig oder frivol sprach. »Von frühester Kindheit an«, antwortete sie, »hat man mir gesagt, dass eine unausgebildete Telepathin eine Gefahr für sich selbst und jeden in ihrer Umgebung darstellt. Und das trifft zu – auf mich vielleicht noch mehr als auf jeden anderen in den Domänen. Als ich getestet wurde, stellte die leronis fest, dass ich einige von den älteren Gaben besitze, von denen bekannt ist dass sie manchmal ...« Sie zögerte, suchte nach dem richtigen Wort. »... unkontrollierbar werden, jedenfalls ohne entsprechende Ausbildung.«
Rohana erschauerte, Melora ebenfalls. Jedes Kind wusste, was passieren konnte, wenn eine Gabe außer Kontrolle geriet. Zusammen mit Gespenstergeschichten sorgten Erzählungen über wild gewordenes laran für Unterhaltung an so manchem winterlichen Kamin – und bescherten so manchem Kind Alpträume.
Leonie wartete einen Augenblick, damit ihre Worte volle Wirkung erzielten. Macht, woher sie auch stammte, trug sofort Respekt ein. Diesen Respekt – oder zumindest eine vorsichtige Haltung ihr gegenüber – hatte sie bereits gewonnen. Sie sah es in den Gesichtern der Mädchen. Gut. Jetzt würde es keine taktlosen Sticheleien mehr geben.
Sie zuckte die Achseln und stieg ein Stückchen von dem Gipfel des Mysteriums herab, auf den sie sich selbst gestellt hatte. »Außerdem bin ich eine Frau«, fuhr sie fort, »und Frauen haben nur die eine Möglichkeit, eine leronis zu werden, wenn sie dem Schicksal entrinnen wollen, im frühestmöglichen Augenblick an irgendeinen schwachsinnigen jungen Burschen verheiratet zu werden und sechs oder sieben seiner schwachsinnigen Kinder zu gebären.«
»Sie sind doch sicher nicht alle schwachsinnig«, protestierte Rohana, die ehrgeizige Ziele auf dem Heiratsmarkt hatte.
»Nein, nur neun Zehntel von ihnen«, entgegnete Leonie. »Und was meinst du, wie deine Chancen stehen, einen von dem restlichen Zehntel zu bekommen?«
Melora meinte friedlich: »Du hast bestimmt den besten Weg gewählt, um es für ein oder zwei Jahre hinauszuschieben.«
»Für länger.« Leonies Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Ich weiß, was ich will. Das weiß ich, solange ich denken kann. Ich werde überhaupt nicht heiraten, und es ist meine feste Absicht, einen Sitz im Rat zu bekommen.«
»Dafür müsstest du erst einmal Bewahrerin von Arilinn werden«, meinte Rohana lachend. Ungeachtet Leonies Selbstsicherheit fand sie die Idee grotesk.
»Genau.« Leonie legte den Kopf zurück, sah das jüngere Mädchen von oben herab an und zeigte das Lächeln, das Geheimnisse verbirgt.
Rohana seufzte verzweifelt. »Und du bist so überzeugt, dass du das schaffst? Hast du auch die Gabe des Vorherwissens? Läuft alles immer so, wie du es erwartest?«
»Fast alles«, erwiderte Leonie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Arroganz. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mich selten irre. Und Fiora hat mir gesagt, ich hätte die Begabung für die Ausbildung zur Bewahrerin. Deshalb halte ich die Entwicklung für so wahrscheinlich, dass sogar mein Bruder darauf wetten und seinen Gewinn einstreichen könnte.«
Ihre Selbstsicherheit brachte die für gewöhnlich sanftmütige Melora nun doch auf. »Oh, wahrscheinlich wirst du damit enden, dass du heiratest, ganz wie wir anderen«, sagte sie ärgerlich.
»Nein, ich werde nicht heiraten.« Unter dem seltsamen Blick, mit dem Leonie sie maß, wurde Melora unbehaglich zu Mute. Es war, als sehe Leonie sie nicht an, sondern durch sie hindurch. »Und du auch nicht«, setzte Leonie mit merkwürdig ausdrucksloser Stimme hinzu.
»Und ich?«, fragte Rohana schnippisch.
»Ja, du wirst heiraten.« Leonie sprach immer noch mit dieser flachen, dünnen Stimme. »Aber trotzdem wirst du einen Sitz im Rat bekommen.« Stirnrunzelnd richtete sie den Blick nicht auf Rohana, sondern auf etwas, das sie allein sehen konnte. »Ich verstehe nicht, wie, aber ich weiß, dass es geschehen wird ...«
Sie verstummte und starrte weiter ins Leere.
Rohana versuchte, die Kälte, die sich plötzlich auf die Mädchen niederzusenken schien, mit einem Achselzucken abzutun. Erbost fuhr sie Leonie an: »Also, bist du jetzt eine Wahrsagerin auf dem Marktplatz? Oder vielleicht möchtest du die graue Robe der Priesterinnen Avarras anlegen und herumlaufen und Unheil verkünden! Die alte Martina, die Zofe meiner Mutter, pflegte hin und wieder ins Prophezeien zu geraten, und sie konnte Schnee zu Mittwinter ebenso gut vorhersagen wie sonst einer.«
Vielleicht hätte Rohana noch mehr gesagt, aber das leise Geräusch von Schritten unterbrach sie. Die Mädchen verstummten und ließen die vergessene Schaukel auspendeln. Jemand hatte den Garten betreten.
Mehr als nur »jemand«. Die sich ihnen nähernde Gestalt war so eindrucksvoll, dass sie die Aufmerksamkeit auch solcher Leute auf sich gezogen hätte, die sie oder die Bedeutung ihrer karminroten Gewänder nicht kannten. Fiora, die Bewahrerin von Dalereuth, war ein Albino, hoch gewachsen und merkwürdig aussehend mit ihrem weißen Haar und den hellen, vollständig blinden Augen. Trotzdem schritt sie sicher den Pfad entlang. In ihrer Robe wirkte sie substanzlos, und doch hatte sie eine Präsenz und eine Würde, die nicht von einer hohen Geburt herrührten.
Sie fragte nicht, wer da sei, sondern sagte nur: »Leonie.«
»Ich bin hier, Lady.« Leonie hob den Kopf, während die beiden anderen Mädchen die Köpfe leicht gesenkt hielten. Sie sah Fiora gerade in die hellrosa Augen, obwohl ihr das ein irgendwie merkwürdiges Gefühl vermittelte. Die Augen niederzuschlagen wäre mit dem Geständnis gleichzusetzen gewesen, dass die Bewahrerin sie einschüchterte, und das hätte sie niemals zugegeben.
Fiora wusste, was hinter diesem leicht unverschämten Blick steckte, und wünschte, das Mädchen hätte ebenso viel Verstand wie Stolz. »Ich muss mit dir reden. Soll ich die anderen wegschicken?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr mir etwas zu sagen haben könntet, was sie nicht hören dürften«, antwortete Leonie. Die leichte Betonung des »Ihr« ärgerte Fiora. Sie wusste, dass das Mädchen hatte beleidigend sein wollen.
Aber wenn sie darauf reagierte, spielte sie Leonie in die Hände, und diese Absicht hatte sie nicht.
»Dann können sie bleiben, wenn du es so wünschst«, sagte Fiora ruhig, »obwohl ich dir ohne deine Zustimmung niemals vor anderen einen Vorwurf gemacht hätte. Wie ich hörte, glaubst du, für das ungewöhnliche Wetter der letzten paar Tage verantwortlich zu sein.« Sie legte ihrerseits ein wenig Nachdruck auf das »glaubst du«, als wolle sie andeuten, das Mädchen lüge oder phantasiere.
»Nun, das bin ich ja auch«, sagte Leonie gelassen. »Na und? Ich wollte die Monde sehen. Irgendetwas kommt auf uns zu, und ich spüre, dass es von den Monden kommt.«
»Das ist interessant, Kind«, gab Fiora mit einer Spur von Herablassung zurück, »und besonders interessant ist, dass von allen ausgebildeten leroni und allen Matrix-Arbeitern mit all ihren Gaben und Kräften dir allein, die du unausgebildet und ohne Praxis bist, ein solches Vorherwissen gegeben wurde.«
Leonie schob das Kinn vor und presste die Lippen zusammen, aber Fiora gab ihr keine Chance zu einer Erwiderung. »Das mag nun so sein oder auch nicht«, fuhr die Albino-Frau fort, »und es mag sein, dass das Wetter sich nach dir richtet oder auch nicht. Aber weil die Möglichkeit besteht, dass zumindest die Sache mit dem Wetter wahr ist, bin ich gekommen, dir zu sagen, dass du so etwas nicht tun darfst. Weißt du nicht, was uns passieren kann, wenn du mit dem Wetter herumpfuschst, als sei es ein Spielzeug, Kind?« Diesmal lag die Betonung auf »Kind« und wies darauf hin, dass Leonie über ihr Tun nicht mehr nachgedacht hatte als ein Säugling, der nach dem hübschen bunten Ball oder einer Feder langt.
»Wenn Ihr einen Geisterwind meint«, fuhr Leonie auf, »versichere ich Euch: So unbedacht bin ich nicht!«
Doch Fiora sah sie weiter vorwurfsvoll an, und da erkannte Leonie, was der Bewahrerin wirklich Sorge machte. »Oh, die Bauern!« Es klang wegwerfend. »Die interessieren mich nicht.«
»Ein Jammer, dass du den Unterricht in den Pflichten einer Hastur und einer Comyn nicht ebenso ernst genommen hast wie die Lektionen über deine eigene Bedeutung. Die Bauern brauchen den Regen«, erklärte Fiora eindringlich, »und wir hängen mit unserem Essen von den Bauern ab. Wenn die Ernte aus Mangel an Wasser verdorrt und tot auf den Feldern liegt, ist es auch für die mächtigste Gabe in den Domänen zu spät, das wieder gutzumachen.«
Leonie starrte die Bewahrerin an, als traue sie ihren Ohren nicht, aber Fiora war noch nicht fertig.
»Und ganz abgesehen davon, eins von den ersten Dingen, die du – wie alle anderen – hier lernen musst, ist, dass eine leronis niemals aus Eigennutz etwas tun darf, womit sie das Gleichgewicht der Natur stört. Wenn wir gelegentlich tatsächlich eingreifen, um eine gefährliche Situation zu verändern, beraten wir uns erst mit anderen und wägen die guten gegen die möglichen schlechten Folgen ab. Zum Beispiel lassen wir es regnen, wenn ein Waldbrand ausgebrochen ist.«
»Das habe ich auch schon gemacht«, unterbrach Leonie sie. »Ich bin mit Geschichten über Dorilys von Rockraven aufgewachsen, und ich glaube, ich besitze ein bisschen von ihrer Gabe der Wetterkontrolle. Es liegt mir jedoch fern, damit zu spielen.« Wieder zeigte sie das überlegene Lächeln, das in Fiora den Wunsch erweckte, ein bisschen Bescheidenheit in sie hineinzuschütteln. Wäre die Bewahrerin etwas anderes gewesen als sie war, hätte sie es möglicherweise getan. »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen«, setzte Leonie hochmütig hinzu, als handele es sich um nichts Wichtiges. »Ich werde den Regen wiederherstellen, wenn Ihr es wünscht.«
»Es geht nicht einfach darum, was ich wünsche.« Fioras Stimme klang ziemlich scharf. »Du musst lernen, dich dem zu fügen, was bestimmt ist, und den Wegen zu folgen, die die Natur uns vorgezeichnet hat. Kam in deinen Geschichten vor, was letzten Endes aus Dorilys von Rockraven geworden ist?«
»Sie verlor die Kontrolle über ihre Gabe und tötete damit, und da sie selbst nicht getötet werden konnte, versetzten ihre Verwandten sie hinter einem Schirm zu Hali in Schlaf.« Überzeugt, dass ihr so etwas nicht passieren könne, zuckte Leonie die Achseln. »So viel ich weiß, ist sie immer noch da. Darum möchte meine Familie ja, dass ich richtig ausgebildet werde.«
»Genau«, antwortete Fiora. »Vergiss das nie, Leonie. Ein solches Schicksal könnte auch dich ereilen, wenn du fortfährst, deine Kräfte zu missbrauchen und mit ihnen umzugehen, als seien sie bessere Spielzeuge. Und dein Schicksal könnte noch viel trauriger sein, wenn du mit Kräften prahlst, die du gar nicht besitzt, und das bekannt wird. Niemand macht sich so lächerlich wie eine leronis, die einen Dämon heraufbeschwören will, und es erscheint eine Maus.«
Damit drehte sie sich um und ging durch den Garten davon. Ihre nachschleppende Robe raschelte durch das Gras. Die beiden jüngeren Mädchen sahen sich entsetzt an. Ein Vorwurf von Fiora war selten, und zu keiner von ihnen beiden hatte sie je mit solcher Härte gesprochen.
Leonie jedoch war nichts als wütend. Sicher, sie hatte gesagt, die beiden anderen Mädchen bräuchten nicht weggeschickt zu werden, aber noch nie in ihrem Leben hatte es jemand gewagt, so zu ihr zu sprechen.
Schlimmer noch, viel schlimmer waren die Beleidigungen, die Fiora nicht ausgesprochen, doch nur zu deutlich gedacht hatte.
»Sie glaubt also nicht an meine Gaben!« Leonie kochte vor kaum beherrschtem Zorn. »Sie denkt, ich prahle mit Fähigkeiten, die ich nicht besitze!«
»Leonie, das hat sie nicht gesagt«, protestierte Rohana ängstlich.
»Sie brauchte es nicht laut zu sagen«, gab Leonie zurück. »Meinst du, ich höre nur, was sie zu mir sagt? Wirklich? Was tun wir dann im Turm, wir alle?« Böse sah sie auf die Tür, durch die Fiora den Turm betreten hatte. »Sie wird es schon sehen!«
»Was hast du vor, Leonie?«, flüsterte Melora mit aufgerissenen Augen und schwankender Stimme. Das beruhigte Leonie ein bisschen. Wenn die Bewahrerin ihr nicht glaubte, hatte sie wenigstens ihre Mitschülerinnen überzeugt, dass sie Kräfte besaß, mit denen man rechnen musste.
»Oh, sie soll einen Sturm haben, wenn sie einen will, und wenn er vorbei ist ...« Leonie war sich ihrer Würde zu sehr bewusst, um zu fauchen, aber sie ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Ich kann es schon richtig hören. ›Oh, Leonie, das darfst du nicht!‹ Als stünde es ihr zu, mir zu sagen, was ich darf und was nicht!«
»Sie ist die Bewahrerin ...«, wandte Rohana schwach ein.
Leonie warf das Haar mit einer verächtlichen Geste zurück, als habe der Titel Bewahrerin für sie keine Bedeutung. »Dann lernt sie es am besten gleich: Ich tue, was ich will, hier oder anderswo. Und sie wird es lernen. Diesen Kampf habe ich nicht gewollt, aber ich werde ihm nicht ausweichen.«