Читать книгу An den Feuern von Hastur - Marion Zimmer Bradley - Страница 6
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ОглавлениеDer Bannerträger sah den Turm zuerst, der sich isoliert und einsam erhob, ein Gebilde aus braunem, unbearbeitetem Stein. Er ragte hoch über die Ebene und das kleine Dorf empor, das sich an seinen Fuß schmiegte, als suche es Schutz unter den Röcken des Turms. Es war fast Abend, die große rote Sonne hing niedrig über dem Horizont und sank sichtbar. Schon standen drei der vier Monde am Himmel, beinahe unsichtbar hinter den Wolken. Ein Spätfrühlingsregen hatte gerade begonnen, sich wie feiner, blasser Nebel auf die Reiter niederzusenken, nicht mehr als etwas hellere Schwaden inmitten der Düsternis. Die Wolken waren schwer, aber zu dieser Jahreszeit gab es wenigstens keinen Schnee mehr.
Es waren acht Gardisten einschließlich des Bannerträgers, und alle ritten erstklassige Tiere. Das Hastur-Banner zog ihnen voran, nobel blau und silbern mit dem Emblem des silbernen Baums und dem Motto Permanedal – »Ich werde bestehen bleiben.« Hinter ihnen ritten Lorill Hastur, seine Schwester Lady Leonie Hastur und Melissa di Asturien, die Gesellschafterin und Anstandsdame der Lady – obwohl Melissa in dem fortgeschrittenen Alter von sechzehn Jahren kaum eine Anstandsdame abgab und, da sie Leonie unendlich langweilte, auch kaum eine Gesellschafterin war. Beide Frauen waren in lange Reitschleier gehüllt. So edel die Reittiere waren, sie bewegten sich langsam, müde, denn die Karawane war seit Sonnenaufgang unterwegs.
Lorill gab das Zeichen zum Halten. Mit dem Turm bereits in Sichtweite war das hart, auch wenn sie alle wussten, dass ihr Ziel noch mehrere Reitstunden entfernt lag. Hier auf der Ebene täuschte man sich oft über die Entfernung.
Aus langer Gewohnheit überließ Lorill Hastur die Entscheidung, ob man das Lager aufschlagen oder weiterziehen sollte, seiner Schwester.
»Wir könnten hier lagern.« Er wies auf eine Lichtung neben der Straße, die von knospenden Bäumen geschützt war, und ignorierte den Nebel, der Perlen auf seinen Wimpern bildete. »Wenn es beginnt, heftig zu regnen, müssten wir sowieso Halt machen. Ich sehe keinen Grund, warum wir versuchen sollten, in einem Unwetter voranzukommen, wobei wir riskieren würden, dass unsere Tiere lahm werden.«
»Ich könnte die ganze Nacht reiten«, protestierte Leonie, »und ich hasse es, die Reise in Sicht des Turms zu unterbrechen. Aber ...«
Sie hielt einen Augenblick inne und dachte nach. Wenn sie im Regen weiterritten, kamen sie durchnässt, ausgekühlt und erschöpft im Turm an. Es war eine Nacht der vier Monde – und ihre letzte Nacht der Freiheit. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, sie im Freien zu verbringen ...
»Und wo werden wir bleiben?«, fragte Melissa. Ihr Stirnrunzeln verriet, dass sie Leonies Idee sofort ablehnte. »Etwa in Zelten?«
»Derik erzählte mir, dass im nächsten Dorf ein guter Gasthof ist«, sagte Lorill. »Vermutlich denkt er dabei aber ans Bier und nicht an die Unterbringung.«
Leonie kicherte, denn Deriks Fassungsvermögen war auf der ganzen Reise ein stehender Witz bei ihnen geworden.
»Er trinkt wie ein Mönch zu Mittwinter«, lachte sie. »Aber auf der Straße bleibt er nüchtern. Ich finde, wir sollten ihm sein Bier nicht missgönnen ...«
»Ich möchte nicht die ganze Nacht durchreiten«, quengelte Melissa in einer seltsamen Kombination aus Jammern und ihrem üblichen affektierten Lächeln.
Leonie richtete sich gereizt auf und unterdrückte eine scharfe Antwort. Lorill jedoch meinte nur gutmütig: »Nun, ich nehme nicht an, dass ihr an Bier denkt.«
»Durchaus nicht.« Melissa zog eine Schnute. »Nur an ein warmes Feuer. Warum sollen wir in einem Zelt leiden, wenn wir nur noch ein bisschen weiterzureiten brauchen, um dieses warme Feuer zu bekommen?«
In einem Zelt leiden? Bei der Art von Zelten, die eine Hastur-Entourage mit sich führte, dachte Leonie, brauchte man des Nachts im Zelt kaum zu leiden, obwohl es ein bisschen kühler sein mochte, als Melissa es gern hatte – aber Melissa neigte dazu, sich zu beschweren und versteckte Anspielungen auf ihre zarte Gesundheit zu machen. Und zweifellos würde Melissa sich, sobald sie sich aufgewärmt hatte, über das Essen und den verräucherten Raum beklagen und beim Anblick irgendwelchen Ungeziefers vor Angst quietschen. Leonie zog eine Nacht in einem Zelt, mochte es auch ein bisschen kalt und feucht sein, bei weitem einer Nacht in einem von Ungeziefer verseuchten Gasthof vor. Das Zelt war wenigstens eine bekannte Größe. Die Qualität des Gasthofs vor ihnen hingegen war eine Sache der Spekulation.
Und es gab noch eine andere Überlegung ...
Leonies Reittier wurde unruhig. Mit einem sehnsüchtigen Seufzer, darauf berechnet, ihren Bruder zum Nachgeben zu bringen, sagte sie: »Es wird eine Nacht der vier Monde sein ...«
»Nur wirst du sie nicht sehen können«, erwiderte Lorill mit unausweichlicher Logik. »Sie sind hinter Wolken verborgen, da könntest du ebenso die Feuerstelle genießen. Der Gasthof wird wenigstens geheizt und trocken sein.«
»Der Gasthof könnte durchaus so leck sein wie die Versprechungen eines Trockenstädters und eine Legion von Mäusen und Flöhen beherbergen. Aber ich werde für den Rest meines Lebens Gelegenheit haben, am Feuer zu sitzen«, protestierte Leonie. »Ich werde für den ganzen Rest meines Lebens nur die Welt innerhalb von vier Wänden sehen! Und eine Nacht der vier Monde kommt nicht so oft, dass ich sie einfach so verpassen möchte!«
Sie schoss einen verächtlichen Blick zu Melissa hinüber und wünschte die junge Frau irgendwohin, nur nicht als Anstandsdame an ihrer Seite reitend. Übrigens hätte sie sehr gern auch auf die Gardisten und den Bannerträger verzichtet. Um die Wahrheit zu sagen, am liebsten wäre sie mit Lorill allein geritten. Die Hastur-Zwillinge waren sich immer nahe gewesen, und sie sah keine Gefahr in einer so kurzen gemeinsamen Reise – schließlich war er ihr Zwillingsbruder, er würde ihr doch nichts tun!
Doch sowohl ihr hoher Rang als auch die gegenwärtige Mode im Benehmen ließen es nicht zu, dass junge Ladies in Begleitung ihrer Brüder ohne schickliche Eskorte und Anstandsdamen reisten, mit Gardisten und Entourage. Entsprechend dem darkovanischen Brauch, war Lorill an ihrer beider fünfzehntem Geburtstag offiziell zum Mann erklärt worden, und Leonie wurde jetzt als junge Frau betrachtet, nicht mehr als Kind. Sie war immer noch ein ziemlicher Wildfang und sehr eigensinnig, aber ihr Ruf war makellos.
Ein langer Ritt ohne Anstandsdame hätte ihn merklich schädigen können.
Eine blöde Sitte, dachte sie rebellisch. Wenn Lorill als Schutz nicht genügte, war sie schließlich nicht darüber erhaben, sich selbst zu schützen! Gemessen an anderen Männern, war Lorill von mittlerer Größe, wohingegen Leonie, beinahe ebenso groß wie er, als ungewöhnlich groß für eine Frau galt. Diese Größe allein würde nicht wenige Männer erst einmal nachdenken lassen.
Auch in anderer Beziehung war sie eindrucksvoll. Wie alle Hastur-Frauen und die meisten der Männer hatte sie einen hellen Teint und leuchtend kupferfarbenes Haar. Im Augenblick lag es als Krone aus Zöpfen über ihrer Stirn. Noch deutlicher als Lorill trug sie den Stempel der Hastur-Sippe. Comyn, das war in jeden Zoll von ihr eingebrannt. Comyn und Hastur – die Kombination sollte sogar den kühnsten Gesetzlosen hindern, sich an sie heranzumachen. Geschah ihr ein Leid, würde die Suche nach den Angreifern gnadenlos und die an ihnen geübte Rache schrecklich sein.
Leonie war außerdem auffallend schön – und sich dessen außerordentlich bewusst – und in den letzten drei Jahren am Hof in vielen Trinksprüchen gefeiert worden. Zwischen den Höflingen und den Männern, die gern um sie geworben hätten, war Leonie ganz der verhätschelte und verwöhnte Liebling ihrer Umgebung gewesen. Der Vater der Zwillinge war einer von König Stefans ersten Ratgebern, und man wusste zu erzählen, dass sogar der verwitwete König Stefan Elhalyn selbst einmal Leonies Hand zur Ehe begehrt hatte. Das hatte sie noch populärer gemacht, wenn das überhaupt möglich war. Sogar Höflinge außerhalb ihrer Altersgruppe suchten ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weil sie an den Tag dachten, an dem sie Königin sein mochte.
Aber Leonie hatte keine Lust gezeigt zu heiraten. Sie war ganz von einem anderen Ziel erfüllt, und nicht einmal die Aussicht auf eine Krone konnte sie davon ablenken. Denn die Macht einer Königin war auf das beschränkt, was ihr Herr und König ihr gewährte. Leonie wollte sich nicht beschränken lassen. Lorill brauchte es auch nicht, warum also sie? Waren sie nicht Zwillinge, von Geburt an gleich bis auf das Geschlecht?
Von ihrer frühen Mädchenzeit an hatte Leonie einen Platz in einem der Türme haben wollen, wo sie sich ihr ganzes Leben lang dem Beruf einer leronis widmen konnte. Das würde ihr eine Stellung weit über jeder anderen Aristokratin verschaffen, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, und eine Macht, die der Lorills gleichkam.
Und wenn sie ihr heimliches Ziel erreichte und die Bewahrerin des Arilinn-Turms wurde, wäre ihre Macht größer als die ihres Zwillingsbruders, zumindest solange ihr Vater lebte. Denn die Bewahrerin von Arilinn hatte kraft eigenen Rechts einen Sitz im Rat und nahm von keinem Mann außer dem König selbst Befehle an.
Es machte keine Schwierigkeiten, einen Turm zu finden, der sie aufnehmen würde. Wie allgemein bekannt, war Lady Leonie in reichem Maß mit dem Hastur-laran begabt. Doch jetzt, da dieser Schritt unmittelbar bevorstand, war sich Leonie in aller Deutlichkeit schmerzlich bewusst geworden, dass dieser von ihr selbst gewählte Weg sie von ihrer Familie und allen Lieben trennte, denn sie würde während der Zeit ihrer Ausbildung im Turm isoliert werden. In diesem Augenblick war sie, ganz gleich, was sie einmal werden würde, nichts als ein junges Mädchen, dem der Abschied vom Bruder und allen Verwandten bevorstand. Das war eine beängstigende Aussicht, sogar für Leonie.
»Ich werde für den Rest meines Lebens Gelegenheit haben, am Feuer zu sitzen«, wiederholte sie, den Blick zu dem sich verdunkelnden Himmel empor gewandt. »In einer Nacht der vier Monde ...«
»Die du unglücklicherweise – oder vielleicht glücklicherweise – nicht sehen kannst«, neckte Lorill sie. »Du weißt, was man über das sagt, was unter den vier Monden geschieht.«
Sie ignorierte ihn. »Ich will heute Nacht nicht in einem Gebäude eingesperrt werden!«, erklärte sie hartnäckig. »Glaubst du, ein chieri könne kommen und mich in meinem Zelt vergewaltigen, ohne dass du und die Gardisten etwas davon merkten? Oder es würden plötzlich Trockenstädter auf der Ebene erscheinen und mich wegtragen?«
»Oh! Skandalös, Leonie! Schäm dich!«, tadelte Lady Melissa sie und bedeckte wie schockiert von einer so törichten Idee den Mund mit der Hand.
Vielleicht entsetzte es sie auch nur, dass Leonie es wagte, über Dinge wie Entführung und Vergewaltigung Witze zu machen.
Leonie hatte Melissas Marotten und Hirngespinste reichlich genossen, und sie hatte sie von Herzen satt. »Sei doch still, Melissa!«, fuhr sie sie an. »Mit sechzehn bist du schon eine alte Jungfer! Und eine kleinliche noch dazu!«
Lorill grinste nur. »Das heißt also, du willst nicht in den Gasthof? Nun, Derik wird einmal ohne sein Bier auskommen!« Er schüttelte den Kopf. »Wenigstens können wir die Zelte aufstellen, bevor es richtig zu regnen beginnt. Aber du bist das unnatürlichste Mädchen, das ich je gesehen habe«, hänselte er sie. »Du willst im Freien kampieren, statt in einen guten Gasthof zu gehen!«
»Ich will unter den Sternen sein«, wiederholte Leonie. »Dies ist meine letzte Nacht außerhalb des Turms, und ich möchte sie unter den Sternen verbringen.«
»Was, in diesem Regen?«, fragte er lachend. »Sterne? Nach dem, was du von ihnen sehen wirst, könntest du ebenso gut ein hölzernes Dach über dir haben.«
»Es wird nicht die ganze Nacht regnen«, behauptete Leonie überzeugt.
»Mir sieht es ganz danach aus, dass es vor morgen früh nicht aufhört.« Achselzuckend gab Lorill nach. »Aber wir werden tun, wie du es wünschst, Leonie. Schließlich ist es deine letzte Nacht, bevor du den Turm betrittst.«
Leonie saß bequem im Sattel, die Zügel locker in der Hand. Ihr Tier stand ruhig. So wartete sie, während Lorill das Lager aufschlagen ließ. Sie war eine gute Reiterin – und ihr chervine war sowieso zu müde, um durchzugehen.
Lorill gab Befehl, die Zelte aufzustellen, und Leonie ignorierte das leise Murren und die gelegentlichen grollenden Blicke, die sie außerdem trafen. Die Gardisten sollten froh sein, dass Halt gemacht wurde, und in einem Stall – das war alles an Unterkunft, was ein Gefolgsmann in einem kleinen Gasthof bekommen konnte – schlief es sich auch nicht besser als in einem Zelt. Tatsächlich mochte es im Stall kälter sein, denn ein Feuer durfte dort nicht angezündet werden. Sobald die Männer es sich in ihren eigenen Zelten bequem gemacht hatten, würden sie vielleicht daran denken.
Während die Gardisten die Zeltplanen aufrollten, stieg Lorill ab. Er half Leonie von ihrem Reittier und in das zweifelhafte Obdach unter einem Baum. Melissa folgte ihnen laut schnüffelnd, damit auf einen Schnupfen hindeutend, den sie, wie Leonie argwöhnte, nicht wirklich hatte. Melissa wollte nur, dass sie anderen Leid tat – wie immer. Leonie hatte keine Ahnung, warum ihr Vater Melissa als ihre Gesellschafterin ausgewählt hatte. Vielleicht, weil Melissa so tugendhaft war und deshalb keine Gefahr bestand, dass sie Leonie zu irgendeinem Streich verführte, wie es eine temperamentvollere Freundin möglicherweise getan hätte.
Der Regen wurde heftiger. Die Gardisten kämpften mit den sperrigen Zeltbahnen, und Leonies Reitmantel gab ihr von Minute zu Minute weniger Schutz. Schon spürte sie Feuchtigkeit entlang den Schultern und mehr als Feuchtigkeit am Saum – und Melissas Schnüffeln hatte sich von einem gespielten zu einem echten verwandelt. Für einen Augenblick bereute sie ihren eigensinnigen Entschluss – aber nur für einen Augenblick. Dies war ihre letzte Nacht in relativer Freiheit. Erst wenn sie die karmesinrote Robe einer Bewahrerin trug, würde sie wieder so viel Freiheit haben. Sie war entschlossen, sie zu genießen.
Sobald die Zelte aufgestellt waren, gab der junge Hastur-Lord Befehl, ein Feuer anzuzünden und Kohlenpfannen in die Zelte zu tragen, um sie zu erwärmen. Er führte Leonie durch die dichter werdende Dunkelheit zu ihrem Zelt und hielt dabei ihre Hand, damit sie nicht fiel, wenn der durchnässte Saum ihres Mantels sich um ihre Knöchel wickelte.
»Da wären wir. Ich glaube immer noch, du hättest es im Gasthof des Dorfes bequemer gehabt, und ich weiß ganz genau, dass Melissa es bequemer gehabt hätte«, seufzte er geduldig. »Na, hier hast du dein Bett unter den Sternen – nicht etwa, dass du diese Nacht viel von Sternen oder Monden sehen wirst. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du auf solche Ideen kommst, Leonie. Entspringen sie irgendeiner Logik, die nur du begreifst, oder einfach dem Wunsch, uns alle deinem Willen zu unterwerfen?«
Leonie legte ihren nassen Mantel ab, warf sich in das Nest aus Kissen und sah zu ihrem Bruder hoch. Kerzenlicht von der Laterne, die an der mittleren Zeltstange hing, ließ sie sein hübsches Gesicht deutlich erkennen. Es gab Leonie das beunruhigende Gefühl, auf sich selbst zurückzublicken. »Ich denke oft über die Monde nach«, erklärte sie unvermittelt. »Was meinst du, was sie wohl sein mögen?«
Wenn der abrupte Themenwechsel ihn verblüffte, ließ er es sich nicht anmerken. »Mein Lehrer sagt, ungeachtet der alten Legenden über chieri, die in die Domänen eingeheiratet haben, seien die Monde nichts weiter als gewaltige Felsbrocken, die unsere Welt umkreisen. Tot, wüst, luftlos, kalt und ohne Leben.«
Leonie schwieg eine Weile versonnen. Das passte nicht zu dem Unbehagen, das sie in letzter Zeit verspürte. »Und glaubst du das, Lorill?«
»Ich weiß es nicht.« Lorill zuckte die Achseln, als sei es bedeutungslos. Vielleicht war es das für ihn auch. »Ich bin nicht so romantisch eingestellt wie du, chiya. Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, und im Grunde interessiert es mich nicht sehr, was sie sind. Schließlich haben sie keine Wirkung auf uns, und wir haben keine auf sie.«
»Mich interessieren sie aber.« Leonie runzelte plötzlich die Stirn. Dies war vielleicht die einzige Gelegenheit, um mit ihrem Bruder in Person über ihre Vorahnungen zu sprechen. Es mochte nicht die beste Zeit dafür sein – aber sobald sie innerhalb von Dalereuth war, gab es keine Chance mehr. »Ich spüre, dass etwas von den Monden auf uns zukommt – dass unser Leben vielleicht nie mehr so wie früher sein wird.« Sie drehte sich auf den Rücken und starrte zu der Zeltdecke hoch, als könne sie die Plane und die Wolken darüber mit ihren Blicken durchdringen und die Monde sehen. »Im Ernst, Lorill, fühlst du nicht, dass bald etwas sehr Wichtiges geschehen wird?«
»Eigentlich nicht.« Er gähnte. »Ich fühle mich nur schläfrig. Du bist eine Frau, Leonie. Du spürst den Einfluss der Monde, vielleicht ist es nicht mehr als das. Obwohl es regnet und du sie nicht sehen kannst, zieht Liriel an dir. Jeder weiß, wie sensibel Frauen auf die Monde reagieren – und wie dramatisch ihr Einfluss sein kann.«
Leonie wusste, dass Lorill die Wahrheit sprach. »Bei der gegenwärtigen Konjunktion ziehen sie alle an mir«, stellte sie fest. »Ich wünschte, der Himmel wäre heute Nacht klar. Aber ganz abgesehen davon fühle ich ...«
»Nicht doch, Leonie, komm mir nicht mit irgendwelcher Mystik«, unterbrach Lorill sie. Er wirkte ein bisschen besorgt. »Demnächst muss ich noch glauben, du habest dich in Melissa verwandelt, nichts als Hirngespinste und Unsinn, und du wirst Visionen von Evanda und Avarra haben!«
»Nein«, widersprach sie. »Mach dich nur über mich lustig, Lorill, und zweifele daran, so viel du willst. Ich sage, etwas kommt auf uns zu – eine große Veränderung in unserem Leben –, und nichts wird jemals wieder sein wie früher. Das gilt für uns alle, nicht nur für dich und mich.«
Sie sprach mit solcher Überzeugung, dass Lorill sie scharf musterte und mit seinen Witzeleien aufhörte. Er nickte ganz ernst. »Du bist eine leronis, Schwester, ob im Turm ausgebildet oder nicht. Wenn du sagst, es wird etwas geschehen – nun, es mag sein, dass du mit Vorherwissen begabt bist. Hast du eine Ahnung, was dieses große Ereignis sein wird?«
Die Unbestimmtheit der Gefühle verursachte bei ihr Kopfschmerzen. »Ich wünschte, ich hätte eine Ahnung, Lorill«, antwortete sie unsicher und unglücklich. »Ich weiß nur, dass es etwas mit den Monden zu tun hat, mehr nicht. Ich spüre es, ich könnte darauf schwören. Manchmal weiß ich nicht einmal mehr, ob ich angesichts der Zeiten, die anbrechen werden, überhaupt noch nach Dalereuth gehen möchte.«
»Was meinst du?« Lorill erschrak, und das zu Recht. Leonie hatte bisher nie zugelassen, dass sich irgendwelche Bedenken ihrem Wunsch, in einen Turm zu gehen, in den Weg stellten. Sie hatte rücksichtslos jeden Vorschlag abgewiesen, vielleicht einen anderen Weg für ihre Zukunft zu wählen. Sie hatte sogar die Hand des Königs abgelehnt, alles in dem Bestreben, eine leronis zu werden.
»Ich wünschte, das könnte ich dir sagen.« Sie zog die Brauen zusammen, versuchte, sich zu konzentrieren. »Wenn ich eine voll ausgebildete leronis wäre, nicht nur eine Novizin ...« Sie verstummte, als entschlüpften ihr die Worte, mit denen sie hätte formulieren können, was sie wusste. Aber es mangelte ihr nicht an Worten, sondern an der Fähigkeit, ihre Vorahnungen auf etwas mehr als bloße Gefühle zu verdichten, die sich verflüchtigten wie der Morgennebel und ebenso schwer zu fangen waren.
Lorill wirkte nachdenklich. »Was es auch sein mag, ich wünschte, ich könnte deine Vorahnungen teilen. Du weißt jedoch, was mir gesagt wurde, als ich meine Matrix erhielt.« Gedankenverloren befühlte seine Linke den seidenen Beutel an seinem Hals. »Bei Zwillingen hat der eine mehr, der andere weniger als den normalen Anteil an laran. Ich brauche dir nicht zu erzählen, wie sich die Gabe zwischen uns beiden aufteilt. Zweifellos wirst du dein laran besser nutzen als ich meines.«
Leonie wusste, was er meinte. Es war ganz gut, dass Lorill das schwächere laran besaß, denn heutzutage würde es, auch wenn Frieden im Land herrschte, einem männlichen Hastur nicht erlaubt werden, einen so vom Leben zurückgezogenen Beruf wie den eines Matrix-Arbeiters zu ergreifen, es sei denn, er stellte etwas so Überflüssiges dar wie einen siebten Sohn. Es war unvermeidlich, dass Lorill seinen Platz am Hof neben seinem Vater einnahm, und ob ihm das passte oder nicht, spielte kaum eine Rolle. Leonie würde auf ihre Weise weit mehr Freiheit erfahren als er, wenn sie erst einmal voll ausgebildet war. Sie würde wählen können, wohin sie ging, und allein das Ausmaß ihres laran zog die Grenzen für ihr Streben nach dem höchsten Ziel – Bewahrerin zu werden.
»Was ist es, das du siehst, Schwester?« Lorills Stimme war leise, dunkel von Befürchtungen.
»Nicht mehr, als ich dir gesagt habe.« Leonie seufzte und drehte ihm wieder das Gesicht zu. »Gefahr und Veränderung und Möglichkeit kommen auf uns zu – von den Monden. Ist das nicht genug?«
»Das kann ich unmöglich unserem Vater oder dem Rat vortragen«, protestierte Lorill. »Wenn ich nicht mehr zu bieten habe als ein vages Vorgefühl und von den Monden rede, wird man denken, ich hätte getrunken wie – was hast du vorhin über Derik gesagt? – wie ein Mönch zu Mittwinter.«
»So ist es«, stimmte Leonie betrübt zu. »Aber was kann ich tun?«
»Wenn du mehr Informationen für mich hättest ...«, regte er vorsichtig an. Es war eigentlich nicht richtig, dass er ein unausgebildetes Mädchen aufforderte, ohne Anleitung nach Erleuchtung zu suchen. Besonders gefährlich war das bei einer Hastur, denn die Hastur-Gabe war – die Kraft der lebenden Matrix. Wenn Leonie sie in vollem Ausmaß besaß, würde sie keinen Matrix-Kristall brauchen, um sich in Schwierigkeiten zu bringen, aus denen nur eine Bewahrerin sie wieder herausholen konnte. Aber Leonie war daran gewöhnt, auf ihre eigene Weise vorzugehen – und Lorill war an ihre bemerkenswerte Fähigkeit gewöhnt, so gut wie alles zu schaffen, was sie sich in den Kopf setzte.
Leonie runzelte die Stirn, aber mehr aus Verzweiflung als aus Missbilligung. »Ich will es versuchen«, versprach sie dann. »Ich werde mein Bestes tun. Vielleicht gelingt es mir, etwas Bestimmteres zu sehen – etwas, das wir benutzen können, um Vater zu überzeugen.«
Lorill überließ sie ihrer einsamen Meditation. Leonie löschte die Laterne, zog sich dann aber nicht aus, sondern lauschte stattdessen auf die sie umgebenden Geräusche des Lagers. Geduldig wartete sie darauf, dass der letzte Gardist in seinen Schlafsack kroch.
Sie brauchte nicht lange zu warten. Alle waren die Kälte und den Regen so leid, dass sie nur zu gern die Wärme der Decken suchten. Sobald Leonie den Eindruck hatte, dass sie sich für die Nacht zurückgezogen hatten, abgesehen von dem Posten, der in seinem durchnässten Umhang die Runde um das Lager machte, stand sie auf und trat an den Eingang ihres Zeltes.
Vorsichtig spähte sie hinaus, wandte ihre Aufmerksamkeit dem Himmel zu. Die Wolken hingen schwer und tropfend über ihr und zeigten wenig Neigung, sich zu bewegen, bevor sie allen Regen ausgeschüttet hatten, den sie trugen. Aber Leonie wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass Wolken sich immer bewegen. Es ging nur darum, in welche Richtung und wie schnell. Erst innerhalb des letzten Jahres war es ihr gelungen, daraus praktischen Nutzen zu ziehen.
Sie passte genau auf, bis sie die Richtung der Bewegung kannte, die Richtung, die ihr verriet, wohin der Wind in der Höhe der Wolken blies. Wie sie wusste, stimmte sie nicht immer mit der auf dem Boden überein. Sie griff mit ihren Gedanken hinaus und schubste die schweren Wolken in diese Richtung, sie schob sie weiter, wie ein Schäfer es mit einer Herde fetter, fauler Schafe tut. Schließlich hatte sie sie aus dem Weg, und sie konnte den Himmel sehen. Die vier Monde schwammen hoch über den Zelten dahin, alle voll, jeder in einer anderen Farbe. Sie waren wunderschön – aber sie waren so stumm und rätselhaft wie immer.
Leonie zog die Eingangsklappe auf und setzte sich auf eins ihrer Kissen. Sie versuchte, irgendetwas in sich zu berühren, das ihren vagen Vorahnungen Form oder Substanz geben würde.
Alles, was sie erreichte, war wachsende Schlaflosigkeit.
Mehrere Stunden lang saß sie im Eingang ihres Zeltes, blickte zum Himmel hoch, versuchte, ihr laran auf das zu konzentrieren, was sie mit ihren körperlichen Augen sehen konnte, die Kreise der vier Monde – versuchte, ihre Gedanken auf das zu richten, was unvermeidlich kommen würde, versuchte, die Wurzeln ihrer schrecklichen Vorahnung aufzuspüren.
Sie versuchte, die Antworten zu finden, von denen sie spürte, dass sie sie brauchen würde – und zwar bald.