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Hinter dem Tor stellte Margaret die Taschen wieder ab und zog ihren Mantel an. Ivors Mantel schlang sie so gut wie möglich um die Gitarre. Sie wußte, nach Sonnenuntergang würde es noch viel kälter werden, und nach der tropischen Wärme von Relegan tat die Kälte beinahe weh. Ivor sah sie an, und aus jeder Furche seines Gesichts sprach das pure Elend. Noch nie hatte er so alt und müde und krank ausgesehen. Sie wandte ihren Blick rasch ab.

Margaret hielt nach irgendeinem Transportmittel Ausschau, einem Karren oder einer Rikscha vielleicht. Bei den meisten Raumhäfen war hier der Taxistand, aber sie entdeckte nur ein paar Jünglinge mit lebhaften Augen, die mit Pullovern, Hosen und halblangen Mänteln bekleidet waren. Sie ertappte sich dabei, wie sie sowohl interessiert als auch argwöhnisch auf die Gruppe starrte. Die Jungen erwiderten ihren Blick mit offener Neugier.

»Heh, gnädige Dame, brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Zeug?« rief einer im Kauderwelsch der Handelsstädte. Offenbar ging er davon aus, daß sie seine Sprache nicht kannte, und glaubte, die Lücke mit lauterem Sprechen schließen zu können. Sie verstand gerade noch, was er meinte, obwohl sein Akzent breiter war als auf ihren Tonbändern. Sein Begleiter packte ihn rauh und flüsterte eindringlich etwas, dann trat er mit einer linkischen Verbeugung vor.

»Darf ich Ihnen zu Diensten sein, Domna?« Das hörte sich eher nach dem an, was sie gehört hatte, und Margaret fühlte sich etwas weniger hilflos. Die Verbeugung irritierte sie, ebenso wie die plötzliche Verhaltensänderung, aber sie war zu müde, um jetzt darüber nachzudenken.

»Ich hatte gehofft, eine Art Transportmittel zu finden«, stotterte sie. Der erste Junge, der größere, schien das sehr lustig zu finden. »Einen Wagen oder ein Pferd vielleicht.«

»Hier kriegen Sie keins«, stellte er mit der Endgültigkeit von sehr jungen Leuten fest.

Margaret kam sich lächerlich vor und war ein bißchen wütend. »Nein, natürlich nicht.«

Der zweite Junge warf dem ersten einen finsteren Blick zu. »Ich könnte einen Pferdewagen holen, aber es ist einfacher zu Fuß. Das Rasthaus ist gleich da drüben.« Er zeigte zur Ecke des Platzes. Vielleicht hundert Meter entfernt gab es eine häßliche Ansammlung von Gebäuden, deren Architektur typisch terranisch war – festungsartig und abweisend.

»Wir wohnen nicht im Rasthaus«, sagte sie langsam, wobei sie ihren Mund zu Mustern formte, die ihr auf der Zunge zu hegen schienen, aber schwer herauszubringen waren. Früher einmal mußte sie die Sprache fließend beherrscht haben, soweit jedenfalls bei einer Fünfjährigen davon die Rede sein konnte, aber da weder der Alte noch Dio auf Thetis etwas anderes als Standard-Terranisch sprachen, hatte sie beinahe alles vergessen. Schlimmer noch: Als sie sich die Sprachkassetten anhörte, schien sich ihr Verstand dagegen zu sträuben, die Worte zu begreifen, und sie mußte sich anstrengen wie noch nie.

»Kennst du den Weg zur Musikstraße?« Sie war sich sicher, daß mit ihrer Formulierung etwas nicht stimmte, aber der Junge verstand offenbar, was sie meinte. Seine Augen weiteten sich ein wenig. Beinahe hörte sie ihn denken: Wieso wollen die dahin? Zum Teufel mit ihrer regen Phantasie.

»Ja, Domna.« Die Antwort war höflich, aber sie sah dem Burschen an, daß er sehr neugierig war.

»Ist es weit? Mein Begleiter ist sehr müde. Wir haben eine lange Reise hinter uns.« Wenn das keine Meisterleistung an Untertreibung war.

»Nicht allzu weit, wenn es Ihnen nichts ausmacht, zu gehen. Für Terraner ist es ziemlich weit. Was wollen Sie denn in der Musikstraße?«

Ein Windstoß fuhr ihr ins Genick, fing die losen Strähnen ihres Haars, und die letzten Haarnadeln hinter dem Ohr rutschten heraus. Seidene rote Strähnen wehten ihr vors Gesicht. Die Jungen schauten belustigt zu, wie Margaret die Taschen absetzte und nach ihren Haaren griff. Unter ein paar kleineren Flüchen, von denen sie hoffte, daß sie niemand verstand, packte sie die wehenden Strähnen und zog sie mit klammen Fingern nach hinten. Sie drehte sie zu einem Knoten zusammen, und einer der Burschen hob die zu Boden gefallenen Haarnadeln auf und reichte sie ihr. Zu den wenigen Dingen, die Margarets Stiefmutter ihr über ihren Heimatplaneten erzählt hatte, gehörte, daß offen getragenes Haar ein Zeichen für ein gewöhnliches Strichmädchen war, eine Einladung für Ärger. Komisch, dachte sie, daß Dio ihr ausgerechnet das erzählt hatte. »Wir wohnen in der Musikstraße bei Meister Everard. Kennt ihr den Weg dorthin?«

»Wir können Sie hinbringen.« Es war der zweite Junge, der sprach. Er war durchaus höflich, aber Margaret fühlte sich unwohl. Ihre Taschen enthielten nur wenig Kleidung, aber alle ihre Schallplatten und Aufnahmegeräte. Auf einem Low-Tech-Planeten wie Darkover waren das unschätzbare Werte. Ganz zu schweigen davon, daß der Teufel los war, wenn sie gestohlen wurden. Sie und Ivor waren ersetzbar; um ihre Ausrüstung wiederzuerlangen, müßten sie jedoch einen Alptraum an Papierkrieg ausfechten. Bei dem Gedanken wurde sie, wie so oft, wütend über die terranische Arroganz und Bevormundung.

Margaret wußte, daß sie zu müde war, um noch klar denken zu können, und ihr Angstgefühl hatte sie bestimmt dem Schlafentzug zu verdanken. Verwunderlich war das nicht. Sie hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen.

Der zweite Junge war dunkel und hatte ein ehrliches Gesicht, aber nach den vielen Monaten mit Nicht-Humanoiden traute sie ihrer Beurteilung von Gesichtern nicht mehr. Und Betrüger haben von Haus aus ein ehrliches Gesicht, das ist ihr Handwerkszeug. Es wurde mit jeder Minute kälter, und sie konnte nicht länger unentschlossen hier herumstehen. Ivor hielt es auf keinen Fall aus, selbst wenn sie es konnte.

»Voran, MacDuff«, sagte sie energischer, als ihr zumute war. Sie hob die beiden Taschen selbst auf, immer noch auf der Hut, falls diese beiden scheinbar netten Jungen in Wirklichkeit Diebe waren.

»Nö«, antwortete der Dunkelhaarige. »Ich kenn keine Macduffs. MacDoevid heiß ich. Kennst du irgendwelche Macduffs, Geremy?«

»Ich nicht«, sagte Geremy und deutete auf Margarets Gepäck. »Sollen wir Ihnen helfen?«

»MacDoevid, hm?« Margaret ignorierte sein Angebot aus reiner Sturheit. »Professor, ist das ein Verwandter von Ihnen?« Der alte Mann zwang sich zu einem schwachen Lächeln. Er hatte Schwierigkeiten, dem Wortwechsel zwischen Margaret und den Jungen zu folgen, und man sah es seinem Gesicht an.

Ivor antwortete nicht sofort, aber dann schien er ihre Frage zu verstehen. Sie wußte, daß es immer einige Zeit dauerte, bis die Laute einen Sinn für ihn ergaben. »Vielleicht. Die Söhne Davids waren schon immer ein weit verstreuter Stamm«, sagte er mit einem ehrlichen Grinsen, als fände er die ganze Sache äußerst erheiternd.

MacDoevid hielt den Kopf schräg und schaute den alten Mann an. »Was hat er gesagt?« Seine Augen glitzerten interessiert, Neugier und Intelligenz verband sich in ihnen.

Margaret seufzte. Ivor tat sich am Anfang immer fürchterlich schwer, einen Dialekt der Einheimischen zu lernen. Margaret war unter anderem auch deshalb unschätzbar für ihn, weil sie neue Sprachen rasch begriff. Sie wußte, daß das, was sie gelernt hatte, nur grundlegend und stark vereinfachend war. Die Sprachkassetten hatten typische Sätze enthalten, die arrogante terranische Touristen für wichtig hielten: »Wo ist der Raumhafen? Wieviel kostet das?« Und andere ähnlich geistlose, aber universelle Sätze. Nichtsdestoweniger hatte sie eine elementare Kenntnis der darkovanischen Alltagssprache erhalten. Ivor hatte eine Diskette mit komplexen musikalischen Fachausdrücken bekommen, aber wegen ihrer überstürzten Abreise hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, sie anzuhören. Abgesehen davon hätten ihnen musikalische Fachausdrücke bei den Burschen hier wenig genützt.

Margaret holte tief Luft und zwang sich, langsam zu gehen, obwohl sie sich wegen des kühlen Abendwinds lieber beeilt hätte. »Darf ich vorstellen«, sagte sie und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Professor Davidson, das ist der kleine MacDoevid. Ihr seht, eure Namen sind verwandt.« Sie betonte die Vokale, so daß der junge Mann sie hören konnte, und wurde mit großen Augen und einem Kopfnicken belohnt. Er hatte verstanden. Offenbar ein heller Bursche.

»Ha, wenn ich das meinem Vater erzähle«, antwortete er. »Aber was ist das, ›Professor‹?«

Margaret wurde bewußt, daß sie mangels ausreichendem Wortschatz den terranischen Titel benutzt hatte. Sie hatte bei dem wenigen, was sie bisher gelernt hatte, nichts von einer Universität oder einem College auf Darkover gehört. Eine unmittelbare Entsprechung gab es deshalb nicht. Ihr müdes Hirn suchte eine Weile nach Worten, bis sie darauf kam, daß die Antwort eigentlich ganz einfach war. »Er ist Lehrer. Für Musik.« Sie war sehr zufrieden mit sich. Das beantwortete die Frage des Jungen und erklärte gleichzeitig, warum sie in die Musikstraße wollten.

Ivor sah sie müde und verloren an. Er schaffte es nie, eine verstümmelte Version von irgendeiner Sprache zu beherrschen. Für gewöhnlich murmelte er wochenlang vor sich hin wie ein Analphabet und erwartete, daß Margaret alles übersetzte, und dann wachte er eines Morgens auf, konnte die Sprache fast wie ein Einheimischer und plapperte drauflos, um die verlorene Zeit aufzuholen. Aber dafür wird er nicht lange genug hier sein.

Margaret tadelte sich sofort. Wo kam denn dieser Gedanke her? Sie glaubte nicht an böse Vorahnungen; das war unlogisch und unwissenschaftlich. Sie war nur müde und um ihren Begleiter besorgt. Und sie fror und hatte Hunger, was ihre düsteren Gedanken noch verstärkte. Sie würden ein Jahr oder länger auf Darkover sein, und Ivor ging es bestimmt gut, wenn sie ihn erst in die Musikstraße gebracht hatte. Wenn sie nur diese Angst abschütteln könnte, die seit Wochen an ihr nagte. Sie wäre bestimmt weniger ängstlich, wenn es ihr gelungen wäre, mit Dio Kontakt aufzunehmen. Warum hatte ihre Stiefmutter keines ihrer teuren Telefaxe beantwortet? Bisher hatte sie immer reagiert. Was, wenn etwas nicht in Ordnung mit ihr war? Oder mit dem Alten? Hör auf, dir unnötige Sorgen zu machen, sagte sie sich wütend.

Sie hatten die Mauer, die den Raumhafen umgab, hinter sich gelassen und kamen nun an einem grauen Gebäude aus Stein vorüber, bei dessen Anblick Margaret eine Gänsehaut bekam. Es war vierschrötig, still und scheußlich, und die Fenster zur Straße waren vergittert. »Was ist das? Ein Gefängnis?« Noch während sie die Frage stellte, wußte sie, daß es kein Gefängnis war. Das Gebäude hatte etwas äußerst Vertrautes und Schändliches an sich.

»Nö, da tun sie die übriggebliebenen Kinder hin. Die Terraner sind sehr komisch. Sie stecken die Kinder da rein und lassen sie dort.« Geremys Stimme triefte vor Mißbilligung.

»Er meint, das hier ist das Waisenhaus, Domna.« MacDoevids Stimme klang eine Spur tiefer als Geremys in der zunehmenden Dunkelheit.

Sie sah jetzt ein beleuchtetes Schild an dem Gebäude. Das John-Reade-Waisenhaus für die Kinder von Raumfahrern. Natürlich! Hinter diesen vergitterten Fenstern hatte sie einmal gewohnt, als sie klein, allein und hilflos war. Aber ihr Vater war kein Raumfahrer. Er war ein Senator des Imperiums. Und soviel sie wußte, war er auch nie Raumfahrer gewesen, die ganze Sache ergab also keinen Sinn. Warum konnte sie sich nicht erinnern? Trotz der kühlen Luft trat ihr der Schweiß auf die Stirn. Warum nur, warum waren der Alte und Dio so geheimniskrämerisch gewesen?

Schluß damit! Es muß Gründe gegeben haben, wahrscheinlich gute Gründe, warum sie mir nie etwas über diesen Planeten erzählt haben. Und sie haben wohl angenommen, daß ich nie nach Darkover zurückkehren würde. Sie wissen nicht einmal, daß ich jetzt hier bin, es sei denn, sie haben meine letzte Nachricht doch bekommen. Wahrscheinlich glauben sie, ich lasse es mir an der Universität gutgehen oder bin irgendwo unterwegs und mache musikalische Forschungen. Und wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, daß ich sie genau jetzt brauche. Der Alte ist mit dem Senat beschäftigt, und Dio ist ... Nein, da muß ich mir etwas einbilden. Dio geht es gut, alles in Ordnung. Trotz ihres verstandesmäßigen Beharrens darauf, daß es ihrer Stiefmutter gutgehe, hatte Margaret das ungute Gefühl, daß irgend etwas ganz und gar nicht stimmte, und zwar jetzt, in diesem Augenblick.

»Du Idiot«, sagte MacDoevid und stieß seinen Begleiter an. »Selber übriggebliebenes Kind! Spiel dich hier nicht auf, sonst sag ich Tantchen, wie unhöflich du warst, und wenn sie dich durchgekloppt hat, dann darfst du nicht mehr mit zu den Schiffen!«

»Kommt ihr beiden jeden Tag hierher?« fragte Margaret. Sie war zu erschöpft und durcheinander, um den Versuch zu unternehmen, aus dieser kleinen Szene schlau zu werden.

»Nö, Domna. Nur wenn ein Passagierschiff kommt. Hier landen ’ne Menge Schiffe, aber die meisten sind keine, wo Leute drauf sind.« Margarets müdes Hirn brauchte einen Moment, bis sie begriff, daß er Fracht- und Transitschiffe meinte, die Darkover wesentlich häufiger besuchten als Passagierschiffe. Darkover hatte eine gute Lage als Knotenpunkt, aber die meisten Transitpassagiere verließen den Raumhafen nicht. »Wir kriegen Geld fürs Gepäck schleppen«, winkte er mit dem Zaunpfahl und zeigte auf die Taschen, die sie eigensinnig festhielt. »Der Offizier muß uns kennen. Er sagt uns, wenn eins kommt, weil er uns kennt, und weiß, daß wir ehrlich sind. Fremde könnten Diebe sein«, fügte er an, als wüßte er, daß sie ihr Gepäck nicht herausrücken wollte, weil sie genau davor Angst hatte.

Margaret verstand die Andeutungen des Jungen ganz genau und wünschte, es fiele ihr leichter, ihm zu trauen. Sie hatte ein wenig einheimisches Geld in ihrer Gürtelbörse. Sie hatte die Universitäts-Filiale von Rothschild εt Tanaka, Geldwechsler, von ihrem Bestand an cottmanischer Währung leergeräumt. Es handelte sich um den Gegenwert von etwa zwölf Durchschnittseinkommen. Was das in der hiesigen Wirtschaft bedeutete, konnte sie nur raten. Sie bemühte sich, ihre müden Gedanken in nützliche Bahnen zu lenken. Was sollte sie den beiden für ihre Dienste als Führer geben, immer vorausgesetzt, sie führten sie nicht in eine dunkle Gasse und raubten sie aus? Sie verbannte diesen Gedanken als unhöflich. Geremy würde sich bestimmt nicht scheuen, es ihr zu sagen, wenn sie zu knauserig war. Er schien sich nicht leicht unterkriegen zu lassen, und sie beneidete ihn um sein Selbstvertrauen.

Vor sich sah sie eine weitere Mauer, eine niedrigere diesmal. Sie schien das abscheuliche Waisenhaus von der restlichen Stadt zu trennen. Sie kamen durch einen Torbogen, in dem ein Wächter in schwarzem Leder behaglich herumlümmelte. Er winkte den Jungen zu, als wären sie ein vertrauter Anblick, und schaute Margaret und den Professor nur gleichgültig an. Sie vermutete, er bekam die wenigen Touristen, die es hier gab, ausnahmslos alle zu sehen. Sobald sie den Torbogen passiert hatten, fanden sie sich auf Pflasterstraßen inmitten steinerner Häuser wieder. Die Straßen liefen in unmöglichen Winkeln zusammen. Kein Wunder, daß es keine Fahrzeuge gab! Diese Straßen waren zu eng für jedes terrranische Auto. Die Kälte war nun schneidend und schien ihr trotz des Mantels bis auf die Knochen zu dringen. Der etwas mürrische Angestellte beim Reisedienst der Universität hatte ihr widerwillig die Auskunft gegeben, es sei Frühling auf Cottman IV, was sie an warmes, mildes Wetter denken ließ, nicht an diese eisige Wirklichkeit. Sie beneidete die Jungen um ihre bequemen Wolljacken. Als ich hier gelebt habe, muß ich auch Wollsachen und Pelze getragen haben. Ich glaube, ich hatte eine Pelzjacke, als ich sehr klein war – komisch, daran habe ich mich bis jetzt nie erinnert. Sie war rostbraun, so wie das Haar meiner Mutter.

Margaret schüttelte sich. Welch seltsamer Einfall, daß ihre Jacke dieselbe Farbe hatte wie das Haar ihrer Mutter. Die Erinnerung war flüchtig, schwach und zum Verrücktwerden, und sie erschauerte. Dann kräuselte ein kleines Grinsen ihre Lippen. Sie wünschte, sie hätte jetzt eine Pelzjacke!

Margaret versuchte, das Unbehagen zu verscheuchen, das die Erinnerung an diese Jacke auslöste. Statt dessen fiel ihr etwas ein, was Dio vor Jahren zu ihr gesagt hatte. »Die Terraner können zwischen den Sternen hin und her jagen, aber sie müssen erst noch eine synthetische Faser erfinden, die so bequem ist wie Wolle oder Seide. Ich wünschte allerdings, sie gäben den Versuch endlich auf!« Danach fühlte sie sich ein wenig besser, auch wenn sie das am Körper klebende Material ihrer Gelehrtenuniform verfluchte. Der Theorie zufolge war sie in jedem Klima und bei jedem Wetter angenehm zu tragen. Wie viele Theorien funktionierte auch diese im Labor besser als in der Praxis und war typisch für die Technikbegeisterung der Terraner und ihre Geringschätzung der Natur. »Allwettertauglich« war ein Konzept, das sich – ähnlich wie »eine Größe für alle« – wahrscheinlich irgendein Idiot ausgedacht hatte, der nie aus der klimatisierten Umgebung einer terranischen Forschungsanlage herausgekommen war. Trotz ihrer Erschöpfung fühlte sich Margaret ein bißchen wohler. Es hatte etwas sehr Befriedigendes, sich im Geiste über die Terraner und ihre Vorliebe für das Unnatürliche lustig zu machen.

»Wie würde es euch gefallen, Meister MacDoevid, mir morgen behilflich zu sein? Es wäre nach der Schule.«

Beide Burschen sahen sie an, und Margaret wurde bewußt, daß sie den gleichen Nachnamen hatten. Es war diesmal nicht der dunkelhaarige, der ihr antwortete, sondern der hellere und größere Junge. Er hatte beinahe rotes Haar im flackernden Schein der Fackeln und lächelte sie scheu an. »Mein Vater ist Meister MacDoevid, Domna. Ich heiße einfach nur Geremy. Ich geh nich zur Schule, Domna, aber es wäre mir eine Ehre, Euch zu Diensten zu sein.« Er beäugte sie im Licht, das sich aus einer nahe gelegenen Weinhandlung ergoß. Sie schaute zu dem Schild vor dem Laden hinauf und sah eine Art Baum, der eine Krone trug. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich die tatsächliche Bedeutung des Ausdrucks »prä-alphabetisch« gar nicht bewußtgemacht, mit dem die darkovanische Kultur in den spärlichen Informationsschriften, die sie besaß, beschrieben wurde. Es war eben eine Sache, etwas rein verstandesmäßig begriffen zu haben, und eine andere, der Wirklichkeit zu begegnen.

Margaret war einigermaßen von sich selbst überrascht, weil sie unbewußt davon ausgegangen war, daß junge Menschen tagsüber zur Schule gingen, obwohl sie eigentlich wußte, daß das auf vielen Planeten nicht der Fall war. Sie war eine Gelehrte geworden, und wenngleich sie und Ivor in den letzten zehn Jahren eine Menge praktische Forschungsarbeit geleistet hatten, sah sie die Dinge noch mit den Augen einer Studierenden, nicht eines Mädchens von Thetis oder Darkover. Und irgendwie hatte sie sich vorgestellt, daß ihr Geburtsplanet mehr wie die Universität oder wie Thetis sein würde. Es war eine zutiefst verwirrende Erkenntnis, daß er nicht so war, und sie würde einige Zeit brauchen, um gewisse Dinge zu überdenken.

Irgend etwas irritierte sie, und sie versuchte dahinterzukommen, was es war. Es dauerte eine Weile, aber dann begriff sie: Es war der Ehrentitel, den der Bursche hartnäckig gebrauchte. Domna. Sie hatte Mestra gelernt, was Frau oder Fräulein entsprach. Der Ausdruck, den Geremy benutzte, bedeutete hingegen soviel wie »edle Dame«. Warum nannte er sie so? Und warum hatte sie so ein sonderbares Gefühl dabei, fast als könnte sie sich an jemanden erinnern, der mit diesem Titel angeredet wurde. Ihr Verstand war zu müde, um daraus schlau zu werden.

»Ich muß Kleidung kaufen – warme Sachen für mich und meinen Lehrer. Wißt ihr, wo ich die bekomme?«

Nun grinste er. »Und ob. Wir sind beide aus der Nähnadelstraße, und wir kennen uns mit Kleidung aus.« Er seufzte. »Unsere Väter sind in dem Geschäft. Und ich bringe Sie zu MacEwan; er ist der beste Schneider in der Nähnadelstraße. Er wird stolz darauf sein, Sie als Kunden zu haben, Domna.« »Er ist außerdem unser Onkel«, murmelte der andere Junge so leise, daß Margaret es fast überhört hätte.

»Ein guter Kaufmann läßt das Geschäft immer in der Familie, wo er kann«, sagte sie friedfertig. Sie wurde nicht recht schlau aus dem dunkleren Jungen, der extrem neugierig und gleichzeitig feindlich wirkte. Geremy schien ein freundlicher Bursche zu sein, und sein Cousin – diesen Verwandtschaftsgrad mußten sie haben, wenn sie beide Neffen von diesem MacEwan waren – war das krasse Gegenteil. Sie war nur zu müde, um klar denken zu können. Sie konnte seine Erregung beinahe spüren wie den Wind, der ihre Haut reizte, aber sie konnte sich den Grund dafür nicht vorstellen. Seine verschlagenen Gesichtszüge, die spitze Nase und die durchdringenden Augen drückten gleichzeitig Vorsicht und Hoffnung aus. Vielleicht war eine Frau in der Familie von einem Terraner verführt oder entehrt worden. Das kam auf humanoiden Welten nur zu oft vor. Die Terraner waren berüchtigt für ihren mangelnden Respekt den jeweiligen Sitten eines Planeten gegenüber. Unerwünschte oder vaterlose Kinder waren überall im alten Gebiet des Imperiums gang und gäbe ... wo immer Terraner sich kreuzen konnten, taten sie es. Und Low-Tech-Planeten waren nicht gerade berühmt für Empfängnisverhütung.

»Geremy ist ein Stiefellecker«, brummelte der verschlagen blickende Junge.

»Und Ethan streitet gern. Wahrscheinlich wird er einmal Richter.«

»Nein, nein«, protestierte Ethan. »Ich werde ...« Margaret sah den Hunger und das Verlangen in seinen Augen. Sie hatte diesen Blick oft gesehen, wenn sie ihre vorgeschriebenen Unterrichtsstunden halten mußte. In ihm kam ein Wunsch zum Ausdruck, der so kostbar war, daß seine bloße Erwähnung schmerzte.

»Ethan kommt bei der Färbergilde in die Lehre, aber in Wirklichkeit will er Raumfahrer werden.« Geremy erhielt für diese Enthüllung einen heftigen Faustschlag an die Schulter.

Margaret lachte nicht. Ethans Gesicht war deutlich anzusehen, daß er genau damit gerechnet hatte. Die Jungs waren nett, dachte sie. Vielleicht hätte sie solche Brüder, wenn der Alte und Dio weitere Kinder bekommen hätten. Sie hatte zwar nie den Wunsch gehabt, zwischen den Sternen zu reisen, aber sie konnte verstehen, daß der junge Mann etwas anderes machen wollte, als der Familientradition zu folgen. Als junges Mädchen hatte sie sich gewiß nicht vorgestellt, daß sie später einmal Musik von Planeten sammeln würde, von denen sie noch nie gehört hatte, aber sie hatte sich bestimmt auch nicht gewünscht, Ehefrau oder Mutter zu werden.

Margaret wußte außerdem, daß sie in Ethans Alter eher gestorben wäre, als ihr heimliches Ziel zu verraten, nämlich Tänzerin oder eine berühmte Schauspielerin zu werden. Sie konnte jetzt über sich selbst lachen, aber sie würde niemals diesen Jungen auslachen, dem es todernst mit seinem Wunsch war.

»Es ist sehr schwer, Raumfahrer zu werden«, sagte sie ernst. »Als erstes brauchst du eine gute Bildung, mit besonderem Schwerpunkt auf Mathematik.« Ethan betrachtete sie vorsichtig, versuchte sie einzuschätzen, so wie sie es kurz vorher mit ihm gemacht hatte. Er kam offenbar zu dem Schluß, daß sie ihn ernst nahm, und schien ein ganzes Stück zu wachsen. Ein Mond ging auf und warf dunkle Schatten unter die Augen des Jungen. Der Mond sah wie ein Amethyst vor dem dunklen Himmel aus, und sie überlegte angestrengt, wie er hieß. Ihr müdes Hirn verweigerte die Zusammenarbeit.

Geremy betrachtete sie nachdenklich. »Sind Sie Terranerin?« »Sei nicht albern«, sagte Ethan. »Das sieht doch jeder, daß sie keine ist.«

»Nein, ich komme von einer Welt namens Thetis«, sagte sie. »Eine hübsche Welt mit vielen Wasserfällen und Ozeanen. Wir leben auf Inseln, über die warme Winde wehen, die nach Salz und Blumen duften.« Margaret wurde plötzlich von starkem Heimweh nach der Wärme von Thetis überfallen. »Ich weiß nicht einmal, welcher Stern dort oben Thetis ist. Ich habe allerdings viele Welten besucht. Ich bin Musikerin.«

»Sie waren auf vielen Planeten? Bitte lassen Sie mich Ihre Tasche tragen. Würden Sie – können Sie mir alles erzählen?« Ethan lächelte zu ihr auf und war wie verwandelt. Sein Gesicht glühte vor Interesse.

Margaret löste ihren Griff und vergaß ihre Befürchtungen. Sie kannte diese Wanderlust; manchmal kam es ihr vor, als wäre sie ein allgemein verbreiteter Trieb unter den Kindern von Terra. Sie hatte selbst eine Spur davon, obwohl sie das Reisen als solches verabscheute. Erst sprach sie stockend und suchte nach den richtigen Worten. Dann gab es einen plötzlichen Sprung vorwärts, als hätte sie einen geheimen Sprachvorrat entdeckt, der sich irgendwo in den Windungen ihres Gehirns versteckt hatte. Es war, als würde eine Schranke fallen. Sie benutzte Worte, die in dem begrenzten Wortschatz der Disketten gar nicht vorgekommen waren. Und es waren weniger die Worte, die sie verblüfften, sondern der Sprachrhythmus, der ihr plötzlich so leicht über die Lippen kam.

Nach einigen Minuten wurde Margaret klar, daß ihr Wortschatz größer war, als sich durch ihre ersten fünf Lebensjahre auf Darkover erklären ließ. Das war kein Kindervokabular, sondern das eines Erwachsenen. Schließlich nahm sie an, daß sie nachts gehört haben mußte, wie sich Dio und der Alte unterhielten. Die Wände der Häuser auf Thetis sind dünn und leicht, damit der Wind hindurchstreichen kann, und sie hatte wohl auf diese Weise den süßen Rhythmus der Sprache gelernt, während sie schlief. Wahrscheinlich hätte sie geschnattert wie eine Elster, wenn sie schon früher die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Elster. Das war einer von Ivors Namen für sie, mit denen er sie aus ihrer Ernsthaftigkeit lockte, wenn sie niedergeschlagen war.

Alle diese Gedanken jagten durch ihr Gehirn, während sie von Thetis erzählte, vom Universitätsplaneten Coronis, auf dem sie studiert hatte, von Rigel Neun und dem Kongreß der Konföderation, wo ihr Vater an der Gesetzgebung der Terranischen Föderation mitwirkte. Sie erzählte ihnen von Relegan, dem letzten Planeten, den sie und Ivor besucht hatten, und von allem anderen, was ihrem müden Gehirn einfiel.

Der Junge meinte es so ernst, daß Margaret nicht einmal in Versuchung kam, ihm irgendwelche Abenteuergeschichten aufzutischen. Er bombardierte sie mit Fragen über Metalle und Mechanik, und sie war zum ersten Mal froh, daß alle Studenten im ersten Jahr einen Kurs über »Grundzüge der Technik von großen Raumschiffen« belegen mußten. Reines Eigeninteresse, natürlich. Die gesamte Föderation bemannte ihre Raumschiffe, indem sie die Neugier von Kindern wie Ethan nährte. Sie sagte ihm nicht, daß er ohne das Werkzeug des Lesens und Schreibens seine Welt nie verlassen würde; die schlichten Schilder vor den Läden brachten sie zu der Annahme, daß ihm beides hier nicht zugänglich war.

Die Straßen schienen nun ein wenig breiter zu werden. Die Gebäude waren aus roh behauenem Stein, mit hell gestrichenen Holztüren. Es roch nach nassem Stein, Tierexkrementen und Müll. Sie kamen an einem Gasthaus vorbei, und der Essensgeruch war unwiderstehlich. Margaret wurde bewußt, daß sie inzwischen sehr hungrig war. Der Duft kam ihr sogar bekannt vor. Fast konnte sie das Gericht benennen, obwohl sie es nicht mehr gegessen hatte, seit sie klein war. Es hieß ja, daß das Mittelhirn – von dem der Geruchssinn ein ursprünglicher Teil war – nichts mehr vergaß. Vielleicht stimmte es.

Sie ignorierte Hunger und Müdigkeit und fuhr fort, den Jungen zu erheitern oder zu unterweisen. Professor Davidson stolperte neben ihr her und hörte schweigend zu. Geremy hatte es irgendwie fertiggebracht, seine kostbare Gitarre für ihn tragen zu dürfen, und lieh ihm nun auch seinen Arm.

»Ist es noch weit, Margaret? Ich glaube, ich bin ein bißchen außer Atem.«

»Ich weiß es nicht. Ethan, wie weit ist es noch zur Musikstraße?«

»Nur noch eine Straße, vai Domna.« Das war ein neuer Ehrentitel. Sie wußte vage, daß er soviel wie »Hochverehrte Dame« bedeutete und der gleiche war, wie er für eine Prinzessin oder eine Bewahrerin benutzt wurde. Was, zum Teufel, ist eine Bewahrerin? Sie hatte das Gefühl, als befände sich die Antwort an den Rändern ihres Bewußtseins und wäre lebenswichtig, doch sie konnte sie in ihrer Erschöpfung nicht fassen.

»Nur noch ein kleines Stück, Ivor.« Sie sprach dem Professor zuliebe Standard, dann wandte sie sich wieder Geremy zu und fuhr in ihrem stark verbesserten Darkovanisch fort. »Gut, daß wir bald aus der Kälte und dem Regen herauskommen.« Ein eisiger Nieselregen hatte inzwischen eingesetzt. »Wir haben das letzte Jahr auf einem sehr warmen Planeten verbracht, und er tut sich schwer, versteht ihr.« Hier ist es kälter als in Zandrus Hölle ... Er hat Peitschen oder so etwas, oder?

Diese halben Erinnerungen machten sie langsam rasend. Sie konnte nicht mehr unterscheiden, was sie noch von früher wußte und was sie von den Sprach- und Kulturdisketten aufgeschnappt hatte. Sie gab es auf und wünschte, ihr Geist gäbe Ruhe, bis sie satt und ausgeschlafen war. »Es scheint schon sehr spät zu sein. Machen sich eure Eltern keine Sorgen?« Die Burschen kamen ihr noch sehr jung vor, und die dunklen Straßen sahen aus, als wären sie voller möglicher Gefahren.

»O nein. Zur Tuchstraße, wo wir wohnen, sind es nur ein paar Minuten. Es ist noch nicht einmal eine Stunde nach Sonnenuntergang, wenn wir im Haus sein müssen.«

»Und du, Ethan?«

»Ich wohne direkt neben Geremy; unsere Väter sind Brüder. He, wir kennen uns jetzt alle mit Namen. Außer Ihren, Domna

»Stimmt. Ich vergaß mich vorzustellen. Ich heiße Margaret Alton.« Sie sprach ihren Nachnamen beinahe so aus, als würde er »Elton« geschrieben, so wie er auf dem Video oder der Universität ausgesprochen wurde und wie sie es seit Jahren gewohnt war.

»Alton. Das ist ein guter alter Name.« Er sagte den Namen so, wie es ihr Vater getan hatte, und Margaret fühlte eine Art Kribbeln, als sie ihn korrekt ausgesprochen hörte. Ethan schien ebenfalls sehr beeindruckt zu sein, und Margaret fragte sich, ob er wußte, daß ihr Vater der Senator von Darkover war. Wahrscheinlich. Sie war einfach zu müde, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Ich wußte, sie ist eine Comynaraich wußte es einfach!

Die Worte drangen in ihren Geist wie eine Nadel und erschreckten sie. Dergleichen war ihr früher schon gelegentlich widerfahren, vor allem, wenn sie müde war, aber noch nie mit solcher Klarheit und Deutlichkeit. Margaret sah beide Jungen an, aber sie konnte nicht feststellen, welcher von ihnen die Worte gedacht hatte, und es spielte wohl auch keine Rolle. »Ist es noch weit?«

»Nein«, sagte Ethan. »Hier sind wir schon.« Sie bogen in eine enge Straße ein, in der vor beinahe jedem Haus ein Schild mit den verschiedensten Musikinstrumenten hing.

»Die Straße der Musikanten«, verkündete er mit einer kleinen Verbeugung und einer Handbewegung wie ein Zauberer. Er war so zufrieden mit sich, daß Margaret trotz ihrer Erschöpfung lachen mußte, und der junge Bursche lachte mit ihr.

Asharas Rückkehr

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