Читать книгу Asharas Rückkehr - Marion Zimmer Bradley - Страница 6
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ОглавлениеZu beiden Seiten säumten Häuser die Straße, und die meisten Türen waren mit Bildern von einer verblüffenden Vielfalt an Musikinstrumenten bemalt. Margaret identifizierte eine Art Harfe, eine Auswahl an hölzernen Flöten und etwas, das entfernt einer Geige ähnelte. Die Form des Instruments war anders, mehr in die Länge gezogen, genug, daß der Ton sich geringfügig von allem unterscheiden mußte, was sie kannte. Die Straße wurde von flackernden Fackeln und dem Mond nur schlecht beleuchtet, aber sie sah Holzspäne und anderes Zeug auf den groben Pflastersteinen herumliegen.
Hinter einer Tür, oder vielleicht auch hinter dem großen, mit Läden verschlossenen Fenster neben der Tür, war eine Gruppe zu hören, die mit Streichinstrumenten übte. Jemand verspielte sich kläglich; Margaret zuckte zusammen. Wie zur Antwort ertönte das ärgerliche Dröhnen einer gewaltigen Baßstimme. »Das ist Meister Rodrigo«, erklärte Geremy, der seine anfängliche Steifheit abgelegt hatte. »Er ist ein fürchterlicher Tyrann, aber es heißt, er wird der neue Zunftmeister nach Meister Everard, weil er ein besserer Musiker ist als Everards Sohn Erald. Er ist wirklich gut. Ich habe ihn bei der letzten Wintersonnenwende singen hören, und ich bekam von oben bis unten eine Gänsehaut. Er ist der beste Sänger in Thendara, außer Ellynyn Ardais – und Ellynyn ist Comyn und ein Emmasca, deshalb hat er freilich eine wundervolle Stimme.«
Margaret dachte über diese Worte nach. Sie hatten sich nicht auf der Kassette »Handelssprache von Thendara City« befunden, aber sie war sich ziemlich sicher, daß sie wußte, was Emmasca bedeutete. Sie hatte die berühmten Kastraten des Vergnügungsplaneten Vainwal gehört und wünschte sich fast, Kastrationen wären auch auf anderen Welten erlaubt. Es waren die schönsten Stimmen des Imperiums. Waren sie auf Darkover erlaubt? Oder kamen diese Sänger hier schon so zur Welt? Der andere Ausdruck blieb ein Rätsel, denn sie kannte ihn zwar, aber irgend etwas schien zu verhindern, daß sie seine Bedeutung verstand.
Dann bemerkte sie, daß Ivor nicht mehr neben ihr war. Sie schaute umher und sah den Professor unter einem der Schilder stehen und die seltsam geformte Geige darauf betrachten. Margaret schüttelte den Kopf, ging zu ihm zurück und trieb ihn mit sanfter Gewalt weiter. Er murmelte glücklich vor sich hin, stellte sich Fragen und beantwortete sie sogleich.
Als sie die geduldig wartenden Jungen wieder eingeholt hatten, fragte Margaret: »Dann wird der Posten des Zunftmeisters also im allgemeinen vom Vater an den Sohn weitergegeben?« Ihr Gehirn mochte müde sein, aber ihre Zunge schien automatisch weiter Fragen zu stellen.
Die Jungen sahen einander an und zuckten die Achseln. Ethan antwortete schließlich. »Manchmal. Das hängt davon ab, welche Fertigkeiten der Sohn hat oder nicht hat. Die MacArdis und die MacArans sind jetzt schon lange Zunftmeister in der Musikergilde. So wie die MacEwans und die MacCalls meisterhafte Schneider und die MacDoevids die besten Weber in Thendara sind. Erald MacArdis wird sich nichts daraus machen, denn am liebsten streift er sowieso umher und sammelt Lieder. Meine Schwester Becca ist seit kurzem mit Rodrigos Bruder verheiratet, deshalb höre ich immer eine Menge Klatsch aus den Musikerkreisen, wenn sie nach Hause kommt.
Lieder sammeln – ist das so ähnlich wie das, was Sie tun, Domna?«
»Das ist genau das, was ich tue. Aber, wenn die Frage gestattet ist – ich weiß nicht, was hier als unhöflich gilt –, wollte deine Familie nicht, daß Becca in die Tuchgilde einheiratet? Warum hat sie einen Außenstehenden geheiratet?«
»Warum? Weil sie singt wie ein Vogel, deshalb. Und wie die sich an einem Webstuhl anstellt! Selbst ich kann besser weben als sie – und konnte es schon mit zehn Jahren.« Ich wünschte, ich könnte es nicht, dann dürfte ich tun, was ich will. Aber wie Mama sagt: Man kriegt eben nicht immer, was man will! »Aber ihr beim Singen zuhören, das ist wirklich eine Wonne.«
»Dann hoffe ich, sie einmal zu hören«, sagte Margaret, und der Junge grinste im flackernden Licht zu ihr auf. Er sah eigentlich ganz hübsch aus, wenn er lächelte. Und die Empfindung hinter seinen Worten war sehr stark – auch wenn sie sich die ganze Sache wahrscheinlich nur einbildete.
»Vater ließ sie außerhalb der Gilde heiraten, als sie damit drohte, davonzulaufen und sich den Entsagenden anzuschließen.« Margaret fragte sich, wer die Entsagenden waren und wem oder was sie entsagten. Sie hatte die Frage schon auf der Zunge, stellte sie dann aber doch nicht. Ivor ließ wieder den Kopf hängen und begann zu zittern. Sein Interesse für das seltsame Instrument war erloschen.
»Wohnt Meister Everard hier in der Nähe?«
»Gleich dort«, sagte Geremy und führte sie zu einem Haus, das auf halbem Weg in der schmalen Straße lag. Es war ein bißchen größer als die anderen, wies ansonsten aber keine erkennbaren Unterschiede auf. Auf die Tür waren ein stilisiertes, harfenähnliches Instrument und ein Dudelsack gemalt.
Geremy stellte die Taschen ab und sprang die drei Stufen hinauf. Er klopfte kräftig an die Tür.
Kurz darauf öffnete eine gut gepolsterte Frau in den Fünfzigern und spähte kurzsichtig hinaus. »Ja? Ach, du bist es, junger Mann. Was gibt es um diese Zeit?«
»Ich bringe eure Gäste vom Raumhafen. Es sind wichtige Leute von jenseits der Sterne«, verkündete er und ließ stolz seine schmale Brust schwellen. »Wo ist Meister Everard, Anya?«
»Was? Heute? Bist du sicher?« Sie sah Margaret im flackernden Schein der Eingangsbeleuchtung an und schüttelte den Kopf. »Der alte Knabe wird noch mal seinen Kopf vergessen! Nur herein! Was für ein Durcheinander! Ich habe Sie erst in zehn Tagen erwartet, aber wir werden es schon irgendwie schaffen.« Anya schien einen Moment lang darüber im Zweifel, dann entsann sie sich ihrer guten Manieren. »Kommen Sie herein ins Warme, Mestra, und ... Sie sind sicherlich nicht Meister Doevidson?« Sie gab dem Namen eine darkovanische Färbung.
»Nein, ich bin seine Assistentin.« Margaret blickte sich um und sah, daß Ivor noch auf der anderen Straßenseite stand und sich das Instrument auf den geschlossenen Läden eines Geschäfts anschaute. Sein Atem ging geräuschvoll, und sie hoffte, er bekam keine Erkältung oder Schlimmeres. Er sah so klein und alt aus im flackernden Schein der Fackeln, daß ihr das Herz weh tat.
»Das ist Margaret Alton, Anya«, sagte Geremy, der offenbar das Gefühl hatte, daß er die Besucher vorstellen mußte. Margaret führte Ivor sachte über die Straße, und als sie zum Haus blickte, sah sie, daß Anya von ihrem Namen überrascht war – und sehr neugierig, genau wie die Jungen vor wenigen Minuten. Es war ihr gar nicht aufgefallen, aber nun fragte sie sich doch, was diese Reaktion zu bedeuten hatte. Ein guter alter Name, hatte Ethan gesagt. Wahrscheinlich war es ein gebräuchliches Patronymikum, und der ganze Planet war voller Altons.
Über solche Dinge konnte sie sich später den Kopf zerbrechen. Sie führte Ivor die Stufen hinauf, zum Licht und zur Wärme des Hauses. Er stützte sich schwer auf ihren Arm. »Kommen Sie jetzt. Es ist zu kalt, um draußen herumzustehen und Schilder anzuschauen.«
»Ja, ja, meine Liebe, du hast gewiß recht – aber sind diese Bilder eine genaue Wiedergabe oder nur Stilisierungen? Weißt du noch, auf Delphin haben wir die Bilder des heiligen Horns gesehen, aber in Wirklichkeit sahen die Dinger ganz anders aus. Unglaublich, diese Schallöcher.«
»Nicht heute abend.« Sie führte ihn ins Haus. »Die Schallöcher sind morgen auch noch da.«
Wie ein überdrehtes Kind riß er sich los und wollte wieder die Stufen hinunterlaufen. »Aber ich habe so etwas noch nie gesehen. Welchen Ton bekommt man mit sternförmigen Schallöchern? Und welches Holz ...«
Sie war drauf und dran, vor Erschöpfung und Ungeduld loszubrüllen, und sie wäre um ein Haar böse gestürzt, als sie ihn am Mantelaufschlag packte und regelrecht ins Haus zerrte. »Nicht heute! Kommen Sie herein, Ivor! Ich friere. Sie frieren. Sie werden noch krank, und dann können Sie überhaupt nichts tun!«
»Moira! Raimon!« rief Anya fröhlich. »Kommt her und holt die Taschen. Wir haben Gäste!« Sie sagte es, als wären die Gerufenen selbst schuld, daß sie nicht da waren. Margaret hätte gelacht, wenn sie nicht so müde gewesen wäre.
Auf der Treppe vor dem Haus wurde es ein bißchen eng, mit Ethan, Geremy und dem Gepäck, aber das löste sich nach wenigen Augenblicken auf. Ein Mann – offenbar Raimon – erschien und nahm den Jungen die Taschen ab, und Ethan stellte Ivors kostbare Gitarre vorsichtig innerhalb der Tür zur Seite, wo niemand darüber fallen konnte.
Margaret öffnete ihre Gürtelbörse und entnahm ihr zwei Silbermünzen, von denen sie jedem Jungen eine gab. Sie starrten darauf, und schließlich sagte Geremy: »Domna, das ist zuviel.«
Sie war zu müde zum Feilschen. »Unsinn. Ihr kommt morgen wieder und bringt mich zu eurem Onkel, dem Schneidermeister. Vielleicht müßt ihr mich auch noch woanders hinführen. Darf ich nach dem Mittagessen mit euch rechnen?«
»Ja, wir werden beide dasein.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Egal, was Sie brauchen, wir helfen Ihnen beim Suchen. Ethans Bruder arbeitet beim besten Stiefelschuster in ganz Thendara und ... ja, das hat noch Zeit, oder?« Dann schob er die Münze in die Hosentasche und sprang zum Fuß der Treppe, wo der andere Bursche wartete. »Siehst du? Ich hab dir gesagt, sie ist eine Comynara ...« hörte Margaret noch, als die beiden über das unebene Pflaster der Straße davonstürmten. Dieses Wort! Sie ging ins Haus, schloß die Tür und lehnte sich müde gegen das massive Holz. Sie schob ihre Kapuze zurück, und ihre roten Haare quollen darunter hervor, feucht und leicht gewellt. Sie klebten ihr im Nacken und an den Wangen, und Margaret kam sich vor wie eine Vogelscheuche. Ein scheußlicher Kopfschmerz pochte in ihrem Schädel, und der wunderbare Geruch des Essens machte sie rasend vor Hunger. Gleichzeitig konnte sie sich nicht erinnern, schon einmal so müde gewesen zu sein.
Anya, drall wie eine Taube, und die anderen Dienstboten drängten sich im Eingang und starrten sie an, als wären ihr plötzlich zwei Köpfe gewachsen. Sie zwang sich rasch zu einem Lächeln und schickte sich an, für sich und Ivor so schnell wie möglich etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen aufzutreiben.
Margaret lag in einem Bett, das bequem drei oder vier Leuten Platz geboten hätte, und schwelgte in diesem unerhörten Luxus. Nach mehreren Tagen auf der engen Liege des Schiffs oder in den kleinen Verschlägen, die man ihnen bei Zwischenstops zur Verfügung stellte, war es einfach wunderbar. Das Bett war größer als das ihres Quartiers in der Universität. Die Terraner mochten Darkover für noch so rückständig halten, was anständige Betten anging, war man hier eindeutig sehr zivilisiert. Sie schaute aus dem kleinen Fenster. Der erste rötliche Schimmer des Sonnenaufgangs war wie eine sanfte Liebkosung über ihre Lider gestrichen und hatte sie geweckt. Eine der spärlichen Mitteilungen, die ihr Vater über Darkover gemacht hatte, entsprach genau der Wahrheit. Sie hatte es nie ganz geglaubt, aber es stimmte: Die große rote Sonne von Darkover hatte tatsächlich die Farbe von Blut. Die »blutrote Sonne« war keine poetische Übertreibung, sondern eine exakte Beschreibung.
Nun rief sie sich die Ereignisse des gestrigen Abends in Erinnerung. Es hatte einen warmen Fleischeintopf gegeben, der ein bißchen wie Wild schmeckte, dazu knuspriges, anscheinend selbstgebackenes Brot. Margaret hatte nicht viel geschmeckt, denn zwischen den Bissen mußte sie als Übersetzerin für Ivor und Meister Everard MacArdis fungieren. Der Professor hatte offenbar die musikalischen Fachausdrücke auf seiner Diskette auswendig gelernt, aber sein Akzent war grauenhaft, und manchmal fiel es ihr schwer, herauszufinden, was er meinte. Er hatte noch nicht den natürlichen melodischen Tonfall der darkovanischen Sprache – in wenigen Wochen würde er ihn haben –, und seine Aussprache des Standard-Terranischen tat weh.
Es war sehr anstrengend, bei einer Unterhaltung zwischen zwei älteren Musikern zu dolmetschen, die ganz begierig darauf waren, Informationen auszutauschen, und Margaret war mehr als froh gewesen, als Ivor von einer Sekunde auf die andere eingenickt war. Meister Everard entschuldigte sich für seine Begeisterung und rief Anya, damit sie seine Gäste auf ihre Zimmer brachte. Margaret mochte den Musikmeister auf Anhieb und fühlte sich in seinem großen, gemütlichen Haus sehr wohl.
Sie ließ die angenehme Erinnerung an den vorhergehenden Abend entschwinden und kehrte zu ihrem Problem mit der Sprache zurück. Sie konnte sie sprechen und verstand sie größtenteils. Einst mußte sie Darkovanisch fließend beherrscht haben – immerhin war es ihre Muttersprache. Sie wußte, daß Casta vom Gälischen, Spanischen und Englischen abgeleitet war, diesen Sprachen jedoch nicht mehr ähnelte als das Englische dem Althochdeutschen. Was war also los?
Sie dachte an das wunderbare heiße Bad, das sie genossen hatte, bevor sie zu Bett ging. Der große, dampfende Bottich war ganz so wie in ihrer Erinnerung, und sie hatte sich darin die Schmerzen und widerlichen Gerüche einer Weltraumreise vom Leib gespült. Gervis, ein alter Diener, hatte sich um Ivor gekümmert, und sie hatte erleichtert festgestellt, daß er genau wußte, wie man mit einem müden, quengeligen alten Mann umging.
Moira, das Hausmädchen, hatte sie zu ihrem Zimmer geführt, wo ihre Sachen bereits ausgepackt waren. Ihr kleines Aufnahmegerät und die Leerdisketten waren ordentlich auf eine Kommode gestapelt, und auf dem Bett lag ein warmes Flanellnachthemd. Es war sehr sauber, aber stark abgenutzt und um die bestickten Ärmelaufschläge sorgfältig ausgebessert, und der Kragen war gewendet. Sie war froh darüber gewesen, daß sie nicht nackt oder in der scheußlichen Röhre aus terranischer Kunstfaser schlafen mußte, die sie in ihrem Gepäck hatte. Sauber, warm und weich in Flanell gepackt, war sie eingeschlafen – oder vielmehr in Ohnmacht gesunken –, bevor sie die Bettdecke über die Ohren gezogen hatte.
Nun, als die blutrote Sonne den Raum erglühen ließ, setzte sich Margaret auf und betrachtete die Stickereien auf ihrem Nachthemd. Ja, meine Stiefmutter hat etwas Ähnliches getragen, als ich noch sehr klein war; es war mit Schmetterlingen bestickt. Nein – das war nicht Dio, sondern jemand anderer. Wieso dachte ich, es war Dio? Alles war so entsetzlich vertraut und gleichzeitig so fremd. Sie fröstelte ein wenig, denn es war zwar warm im Haus, aber immer noch viel kälter, als sie es gewohnt war. Trotzdem war es ganz angenehm – der schneidende Geruch der Luft und der Duft des Nachthemds. Sie benutzten ein bestimmtes Parfüm für die Bettwäsche, dessen Name ihr bestimmt gleich einfiel und das ihr ein Gefühl der Geborgenheit gab. Margaret wußte, daß man nie etwas wirklich vergaß, aber sie fühlte sich wie unter Beschuß von all diesen ungeordneten Bruchstücken der Erinnerung, die wie Stechmücken um ihr Gesicht kreisten.
Ich habe früher von einer Sonne geträumt, die so rot wie diese hier war. Und Anya hat mich den ganzen Abend höchst sonderbar angesehen, fast als würde sie mich kennen. Aber warum? Ich sehe meinem Vater nicht sehr ähnlich. Der Senator hat dunkle Haare und graue Augen; mein Haar ist rot, und meine Augen sind gelb – wie eine Katze hat er immer gesagt, wenn er besserer Laune war ... oder betrunken. Eine körperliche Ähnlichkeit ist es also nicht, jedenfalls nicht mit meinem Vater. Es muß an meinem Namen liegen! Margaret stellte fest, daß sie diesen Gedanken nicht weiterverfolgen wollte. Irgend etwas daran behagte ihr nicht.
Wem sehe ich denn ähnlich? Natürlich nicht meiner Stiefmutter. Wir sind überhaupt nicht verwandt, obwohl sie mich immer behandelt hat, als wäre ich ihre richtige Tochter. Margaret verweilte liebevoll bei einem geistigen Bild von Diotima Ridenow-Alton, ein Bild, das seit vielen Jahren veraltet war. Sie sah eine kleine Frau mit Haaren wie Seide und lachenden grüngrauen Augen. Mit zehn Jahren war Margaret schon beinahe so groß wie ihre zierliche Stiefmutter gewesen, und sie war sich immer wie ein großer Tolpatsch neben ihr vorgekommen.
Dieser Gedankengang war ihr zu unangenehm. Margaret schlug widerwillig die warmen Decken zurück und stieg aus dem Bett. Ein wenig widerstrebend zog sie eine ihrer Uniformen an, eine schwarze Hose und die Jacke, die ihr bis zu den Knien reichte. Das Material rutschte auf ihrer Haut, unnatürlich, aber warm. Sie drückte die Verschlüsse zu und seufzte. Sie würde heute etwas suchen, was dem Klima angemessen war und nicht auf den ersten Blick terranisch aussah. Sie wollte nicht die ganze Zeit neugierige Fragen beantworten. Sie kämmte ihr Haar und flocht es zu einem Zopf, fast ohne sich im Spiegel anzusehen. Sie mochte es selten, ihr Spiegelbild zu sehen, nicht einmal in Schaufenstern. Irgend etwas an Spiegeln machte sie nervös und hatte es getan, soweit sie zurückdenken konnte.
Während sie ihr loses Haar in Ordnung brachte, dachte sie darüber nach, warum sie es kaum erwarten konnte, einheimische Kleidung anzuziehen. Es lag nicht nur daran, daß sie Synthetics verabscheute – sie trug diese Tracht nun schon mehr als ein Jahrzehnt und war äußerst stolz darauf, als Universitätsgelehrte erkennbar zu sein. Die Uniform war ein Privileg, das sie sich verdient hatte, und sie schätzte sie sehr hoch – was sie repräsentierte, nicht das Ding als solches. Aber sie wollte hier nicht auffallen, entschied sie. Fast schien sie sich davor zu fürchten, gesehen zu werden, als lauerte eine Gefahr in den krummen Straßen von Thendara. Das war natürlich Unsinn, aber sie wurde das Gefühl einfach nicht ganz los.
Margaret rollte den Zopf zu einem flachen Nackenknoten, den sie mit Haarnadeln zusammensteckte. Auf diese Weise trug auch Dio ihr dichtes, rotblondes Haar. Einmal, mit etwa neun Jahren, hatte sie ihre Haare oben auf dem Kopf zusammengebunden, und der Senator war aus einem ihr unersichtlichen Grund wütend geworden. Dio, die stets auf Ausgleich bedacht war, hatte ihr erklärt, daß es als unziemlich galt, den Nacken zu entblößen, und sie war dabei errötet, so daß Margaret den Eindruck gewann, lose Haare und ein freier Nacken seien irgendwie unanständig. Später auf der Universität wurde ihr klar, daß es buchstäblich Hunderte von Dingen gab, die auf der einen oder anderen Welt tabu waren – etwa mit der falschen Hand zu essen. Es mußte nicht unbedingt sinnvoll sein. Sitte ist Sitte.
Andererseits war auf den Disketten, die sie erhalten hatte, keine Rede von dieser Sitte. Tatsächlich gab es, wenn sie darüber nachdachte, überhaupt sehr wenig Informationen, die einen praktischen Nutzen hatten. Sie wußte zum Beispiel, daß eine Regierungsform wie auf Cottman IV von der Struktur her feudal war, aber mit Einzelheiten darüber wurde gegeizt. Es schien einen König oder eine Art Regent zu geben, und von mächtigen Familien war die Rede, aber alles in allem sagte die Studiendiskette, die sie angesehen hatte, mehr über terranische Vorurteile aus als über die darkovanische Kultur.
Margaret seufzte, holte den Recorder hervor und diktierte Anmerkungen zu der Unterhaltung zwischen Meister Everard und Ivor am Vorabend. Sie glaubte nicht, daß sie etwas Wichtiges ausgelassen hatte, aber sie spielte es vorsichtshalber noch einmal ab. Dann befestigte sie das kleine Gerät an ihrem Gürtel und ging nach unten.
In der Küche empfing Anya sie mit dem sonderbaren, fast ehrerbietigen Benehmen, das sie schon am Abend zuvor gezeigt hatte. Da war Margaret zu müde gewesen, um mehr zu tun, als es zur Kenntnis zu nehmen und der immer länger werdenden Liste von Fragen und Rätseln anzufügen. Gegenüber Ivor hatte sich Anya nicht so verhalten. Sie stellte eine Schüssel mit duftendem Haferbrei vor Margaret und wischte sich die Hände an der Schürze ab, wobei sie besorgt schaute. Dann machte sie einen leichten Knicks.
Margarets Hunger vertrieb ihre Neugier. Sie dankte der Frau und langte zu wie ein junger Wolf. Es schmeckte köstlich.
Professor Davidson kam nach unten, als sie gerade eine zweite Portion aß. Er sah ausgeruht und frisch aus, aber auch ein wenig blaß unter der Sonnenbräune von Relegan. Er hatte seine Uniform falsch geknöpft und vergessen – oder es jedenfalls nicht geschafft –, sein schütteres Haar zu kämmen. Als sie ihn kennenlernte, waren sie beinahe gleich groß gewesen. Inzwischen war er so gebeugt, daß er ihr kaum bis zur Schulter reichte. Aber er lächelte sie strahlend an, und sie bemühte sich, die leise Stimme zu überhören, die ihr sagte, daß hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
Als sie gerade zu Ende frühstückten, kam Meister Everard. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen«, sagte er, nachdem er sie begrüßt hatte.
»Sehr gut, danke.«
»War das Zimmer nicht zu kalt? Gäste von anderen Planeten frieren manchmal. Als Junge ging ich im Kloster St. Valentin zur Schule, und dort lag beim Aufwachen manchmal Schnee auf unseren Zudecken. Damals habe ich mir geschworen, daß nie ein Gast von mir frieren soll.« Er hatte einen volltönenden Bariton, und Margaret dachte, daß er in seiner Jugend ein großartiger Sänger gewesen sein mußte. Seine Stimme war erstaunlich tief für einen so schlanken Mann. Er sah aus, als könnte ihn ein kräftiger Windstoß umblasen. Dennoch war er groß und hielt sich aufrecht und war nicht so verschrumpelt wie der arme Ivor. Er hatte ein eckiges Kinn und viele Lachfältchen um die blaßgrauen Augen, weiße Haare und eine Menge guter Falten, die Sorte, die jemand bekommt, den seine Arbeit zutiefst befriedigt, wie anstrengend sie auch sein mag. Sie hoffte, auch einmal so auszusehen, wenn sie alt war.
Sie war mit ihren Gedanken woanders und hätte beinahe eine Frage von Ivor überhört. »Meister Everard, ich habe bei dem Instrumentenbauer auf der anderen Straßenseite ... Die Form der Schallöcher hat mich überrascht ... Verdammt, erklär du es ihm, Margaret. Wenn es mir nur nicht so schwerfiele, eine neue Sprache zu lernen!«
Meister Everard wartete, bis sie ihm Ivors Frage übersetzte, seinem Gesichtsausdruck nach war er leicht verwirrt. Margaret seufzte. Sie hoffte, es würde nicht wieder so werden wie am Abend vorher. Sie zeichnete mit der Fingerspitze ein paar Linien auf die Tischoberfläche, um zu zeigen, wie die Löcher bei einer terranischen Geige aussahen.
»Im Ernst?« fragte er nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Solche Löcher habe ich noch nie gesehen – ergeben die gute Musik?«
Margaret lachte leise. »Na ja, die Terraner machen mit dieser Bauweise seit Tausenden von Jahren Musik, ich meine, man könnte es so nennen.«
»Erstaunlich. Ich sehe schon, ich werde während Ihres Besuchs eine Menge lernen. Und das ist sehr schön für mich.«
»Was hat er gesagt?« fragte Ivor.
»Er sagt, es überrascht ihn, daß man mit derart geformten Schallöchern gute Musik machen kann – er hat es allerdings höflicher ausgedrückt. Er mag eben seine sternförmigen. Und er meint, er wird eine Menge von uns lernen. Ich glaube, er ist ganz aus dem Häuschen deswegen.«
»Wirklich?«
»Na ja, er ist nicht mehr der Jüngste, und über darkovanische Musik weiß er wahrscheinlich mehr als jeder andere. Deshalb findet er die Gelegenheit, etwas Neues zu lernen, wohl sehr verlockend.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Ivor wirkte zufrieden, und während des Essens gewann er an Farbe. Margaret war erleichtert, denn sie wußte nicht, ob sie einer Erkrankung von Ivor gewachsen wäre.
»Wenn Sie Ihr Morgenmahl beendet haben«, sagte der Meister bedächtig, »könnten wir ja unseren Diskurs fortsetzen.« Margaret leitete diese Bemerkung pflichtschuldig an Professor Davidson weiter und mußte zusehen, wie er ungeachtet seiner etwas empfindlichen Verdauung den Rest Brei in seiner Schüssel hinunterschlang. Es tat gut, ihn so eifrig zu erleben, dennoch wünschte sie, er würde sich ein wenig mehr schonen. Als der Haferbrei schließlich gegessen und der warme Apfelmost getrunken war, führte Everard sie in ein zur Straße gelegenes Zimmer seines Hauses. Der große Raum lag unmittelbar neben der Eingangshalle, und als Ivor ihn sah, strahlte er förmlich vor Entzücken. Er besaß zuviel Würde, um in die Hände zu klatschen und einen Freudensprung zu machen, aber das Glitzern seiner Augen drückte das gleiche aus. Es war ein Raum, der das Herz eines jeden Musikforschers überall in der Galaxis erwärmt hätte. Der Boden war spiegelndes Parkett, die Wände getäfelt, und wohin das Auge blickte, sah es Musikinstrumente. Zum ersten Mal war Margaret beinahe froh darüber, daß sich Professor Murajee in Schwierigkeiten gebracht hatte, denn andernfalls hätte sie diesen Reichtum an Instrumenten nie zu sehen bekommen. Der Raum war ein veritables Museum der Instrumente auf Cottman IV. Offenbar war Everard ein Mann mit Sinn für Geschichte. Er erklärte, daß sein Großvater die Sammlung begonnen hatte, fügte aber bescheiden an, daß sie in seiner Kindheit ein großes Durcheinander gewesen sei.
Er startete eine gemächliche Führung durch den Raum, und der Professor fügte sich mit allem Anstand, den er aufbringen konnte. Seltsam – Margaret hatte ihn noch nie so ungeduldig erlebt; er zitterte beinahe vor Eifer. Sie selbst war durch das Übersetzen so in Anspruch genommen, daß sie kaum Zeit fand, sich an den verschiedenen Instrumenten zu erfreuen, und es tat ihr leid, daß sie ihre Kamera nicht mit nach unten gebracht hatte. Mehr noch bedauerte sie, daß sie keine Gelegenheit hatte, die diversen Lauten auszuprobieren, oder die kleine Harfe, die ihrer eigenen nicht unähnlich war.
Es wurde schnell deutlich, daß Meister Everard die Einstellung eines Museumskurators zu seiner Sammlung hatte, wenngleich nicht die gelangweilte Variante, die den Besuch solcher Orte häufig zu einer tristen Angelegenheit machte. Er behandelte jedes Instrument wie einen alten Freund. Sie schaltete den Recorder ein und lauschte Geschichten von längst verstorbenen Instrumentenbauern oder von einem Dudelsack, der in so lange zurückliegende Schlachten getragen wurde, daß nicht einmal Everard wußte, ob sie tatsächlich stattgefunden hatten oder nur Legende waren. Sie hatte noch nie einen leibhaftigen Dudelsack gesehen, nur in Kursen über frühe Musik an der Universität davon gehört. Hier war die Kunst, ihn zu spielen, offenbar noch bekannt. Auf der Erde war sie ausgestorben, und es lebte niemand mehr, der einen Dudelsack spielen konnte. »Er macht einen Höllenlärm«, sagte Meister Everard. »Angeblich hat man ihn erfunden, um den Feind zu verscheuchen, und ich schätze, laut genug gespielt, würde er ein Banshee in die Flucht schlagen.«
Margaret fragte aus eigenem Interesse nach Einzelheiten darüber, wie er gespielt wurde. Wenn sie sonst nichts lernte, hätte sich die Reise allein wegen dieser wissenschaftlichen Information gelohnt. Von ein paar Holzflöten abgesehen, war der Dudelsack allerdings das einzige Blasinstrument; Blechbläser gab es überhaupt keine, außer einigen terranischen Exporten. Wenn Darkover so arm an Metallen war, wie die Lehrdiskette hartnäckig nahelegte, war es sinnvoll, daß sie nichts davon für Tuben oder Posaunen vergeudeten.
Ein großer Teil des Vormittags war vorüber, und die Frage der seltsamen Schallöcher blieb unerörtert. Zuletzt holte Everard ein kleines, harfenähnliches Instrument aus einer Wandnische, das Margaret bereits neugierig betrachtet hatte. Er nannte es eine Harfe, aber Margaret hörte wie ein Flüstern unter seinem Atem, daß man es Ryll nannte.
»Sie wissen ja«, knurrte er, »daß sie sterben, wenn sie nicht gespielt werden.« Er schien vergessen zu haben, daß weder Margaret noch der Professor etwas dergleichen wußten, und sprach gedankenverloren fast mit sich selbst. »Sie halten mich vielleicht für einen törichten alten Mann. Die alten Instrumentenbauer verstanden diese Dinge besser als die heutige Generation. Sie erzählten einem immer, daß es die Seele des Baumes im Holz ist, die einem Instrument das Leben einhaucht. Ein Baum ist ein Baum, werden Sie vielleicht sagen. Mag sein, aber Holz ist lebendige Materie, nicht wie ein Stein oder Lehm. Dann gibt der Erbauer selbst auch noch etwas hinzu. Und wenn ein Instrument viele Jahre lang mit einem Menschen verbunden ist, nimmt es von diesem ebenfalls noch etwas an.« Er schaute leicht verlegen drein, als hätte er Margaret und den Professor gerade erst bemerkt.
Margaret lächelte. »Jeder, der etwas vom Instrumentenbau versteht, würde Ihnen zustimmen, Meister. Ich spüre oft genau, daß meine Harfe lebendig ist, und Ivor hat eine Beziehung zu seiner Gitarre, die seine Frau eifersüchtig machte, wenn sie die Sorte Frau wäre.« Sie war von ihrer Beredsamkeit überrascht, aber auch so erfreut über ihre zunehmend mühelose Beherrschung der Sprache, daß sie fast nicht darauf achtete.
»Meine Frau war auch eifersüchtig«, erwiderte Everard und seufzte schwach. »Aber sie stammt aus der Gerberstraße und ist nicht mit Holzspänen in der Suppe aufgewachsen, wie es so schön heißt. Diese Ryll also« – er benutzte in seinem Eifer den einheimischen Namen – »ist ein echtes Problemkind. Es gehörte einst einer Frau, die großes Talent besaß, aber auch ein gerüttelt Maß Verrücktheit. Es heißt, sie stammte von Chieri ab und war eine Frau, die ihren speziellen Platz in der Geschichte unseres Planeten hat. Es ist keine sehr angenehme Geschichte. Aber so ist das Leben.« Wieder verlor er sich in Gedanken: »Wenn du gewinnst oder Erfolg hast mit dem, was du anstrebst, bist du ein Held. Wenn nicht, bist du ein Schurke. So ist es mit der Geschichte.«
Chieri? Sie kannte das Wort nicht, aber ihr wurde sonderbar zumute, als sie es hörte. »Und was ist nun so merkwürdig an dieser – Ryll?« fragte Margaret, und es juckte sie in den Fingern, über das seidene Holz zu streichen. Das Instrument faszinierte sie, seit sie den Raum betreten hatte.
Der alte Mann seufzte wieder. »Dieser Ryll hat mir einer meiner Studenten vor etwa zwanzig Jahren nach unserer Zeitrechnung gegeben. Wie er dazu kam, weiß ich nicht, aber er hat sie gegen eine Blockflöte eingetauscht – ein ungleicher Handel –, und ich war so begierig darauf, sie zu besitzen, daß ich ihn nicht ausfragte, wie ich es hätte tun sollen und wie ich es heute vielleicht tun würde, wenn er wiederkäme. Ich glaube, Josef von Nevarsin hat sie angefertigt. Er war der vielleicht beste Ryllenbauer, der je gelebt hat. Er ist seit mehr als hundertfünfzig Jahren tot, aber ich weiß, daß Mestra Melora Alindair, eine unserer besten Liedersängerinnen, einhundert Reis, was eine sehr beträchtliche Summe ist, für ein von ihm signiertes Instrument bezahlt hat. Sie ist immerhin eine MacAran, und die kennen sich mit Musikinstrumenten aus. Natürlich gibt es sogar auf unserem Planeten Fälscher, aber wenn diese Ryll hier nicht von Josef selbst gebaut wurde, muß es einer seiner Schüler gefertigt haben. Josef hatte eine Art, das Holz zu schneiden, die heute in Vergessenheit geraten ist, weder quer noch gegen die Maserung. Sehen Sie hier.« Er deutete auf den Hals des Instruments, wo sich die Maserung spiralförmig nach oben wand, als wäre das Holz so gewachsen. »Jeder, der das heute nachbauen könnte, würde ein Vermögen machen. Es sieht aus wie Stromschnellen in einem Fluß. Aber trotz allem kann ihr niemand einen Ton entlocken. Ich bin selbst kein schlechter Harfenist, aber sie läßt sich nicht spielen. O ja, wenn ein starker Wind geht, dann seufzt sie ein bißchen, aber das tun viele Instrumente. Und wenn es blitzt, was im Sommer häufig vorkommt, dann stöhnt sie – fast so, als würde irgend etwas aus ihr heraus wollen.«
Er sah sie unschlüssig an, aber als Margaret kein Anzeichen von Spott oder Ungläubigkeit erkennen ließ, fuhr er fort. »Sie gibt immer nur denselben unangenehmen Akkord von sich – meine Schüler sind schon ganz entnervt. Hier, ich zeige es Ihnen.«
Er legte sich die Harfe flach auf die Knie. Seine Hände waren alt und ein bißchen steif, aber immer noch beweglich genug, um die Saiten zu zupfen. Margaret wußte inzwischen, daß er über neunzig war, etwa im gleichen Alter wie der Professor, und es schmerzte sie, daß er so mühelos noch tun konnte, was Ivor nicht mehr fertigbrachte. Er drückte Bünde an einem Ende und fuhr mit der Hand über die Saiten; aber während alle anderen Instrumente rasch auf seine fachkundige Berührung reagiert hatten, gab dieses hier nur einen tiefen Brummton von sich. »Sehen Sie? Sonst kommt nichts – und das ist noch nicht einmal ein richtiger Harfenton. Hier, versuchen Sie es.« Er stand auf und gab Margaret das Instrument. Sie setzte sich und betrachtete es. Das helle Holz war wunderschön, und die etwas dunkleren Wirbel in der Maserung machten es noch schöner. Sie streichelte das Holz und tastete nach Nahtstellen, aber ihre feinfühligen Finger konnten keine entdecken.
Auf dem Klangkörper und unter dem Steg gab es dekorative Intarsien aus dunklerem Holz. Der Geruch des alten Holzes erfreute sie mit einem Hauch von Vertrautheit so wie die Gewürze in dem Eintopf am Vorabend. Für einen kurzen Augenblick sah sie die rothaarige Frau, die manchmal durch ihre Träume spukte, und sie hielt eine Ryll wie diese hier. Und dann ließ sie ihre Finger über die Saiten gleiten, drückte auf die Bünde und wurde mit einem Schauer von Arpeggios belohnt, die herabstürzten wie ein Frühlingsregen auf Thetis.
Margaret vergaß die beiden alten Männer, die sie verwundert anstarrten. Sie strich über die Saiten und dachte an ein Wiegenlied, das sie auf Zeepangu gelernt hatte. Dort gab es ein Instrument, das diesem hier nicht unähnlich war. Ihre Hände bewegten sich wie unter Zwang, fast als würde das Instrument sie spielen, und es wurde nicht das schlichte Lied, das sie sich vorgenommen hatte. Sie hatte eine verschwommene Vision des silberhaarigen und silberäugigen Mannes ihrer altbekannten Alpträume; er saß auf einem großen, mit Schnitzereien verzierten Stuhl, und ihre Gefühle in bezug auf den Mann waren wie immer eine Mischung aus Angst und Erregung. Einen kurzen Augenblick sah sie auch den Alten, seine Haare waren nicht grau-schwarz gesprenkelt wie jetzt, sondern noch ganz dunkel. Seine beiden Hände ragten aus bestickten Ärmeln. Er tauchte nur kurz auf, dann war er wieder verschwunden.
Ihre Kehle schnürte sich zu, und ihre Augen brannten vor Tränen. Dann formten sich Worte von allein auf ihren Lippen. Sie schluckte und wollte die Worte wegschieben, denn sie waren schwer faßbar und anders als alles, was sie je gesungen hatte. Dann war der Widerstand mit einem Mal vorbei; sie ließ die Worte herausströmen, einfach, weil sie sie nicht aufhalten konnte. Der Kloß in ihrer Kehle verschwand, und sie überließ sich wie besessen der Melodie.
Wie kommt dieses Blut an deine Hand?
Sag es mir, Bruder, sag.
Es ist das Blut eines grauen Wolfs
Der lauerte im Wald.
Kein Wolf streift umher zu dieser Stunde
Sag es mir, Bruder, sag.
Es ist das Blut meines Zwillings
Der mit mir beim Weine saß.
Die Verse sprudelten ohne ihr Zutun aus ihr heraus, einer nach dem anderen. Margaret war wie in Trance, in der Hand von etwas, das sie nicht kannte.
Eine unbestimmte Zeit später fand sich Margaret über die Ryll gebeugt wieder; sie hatte die überwältigende Empfindung von Orientierungslosigkeit und böser Ahnung, und das Bild des silbernen Mannes flackerte hinter ihren Augen. Ich kenne ihn. Ich bin in meinen Träumen mit ihm gegangen, er hat mich in seinen Armen getragen, mich geküßt und mein Gesicht gestreichelt. Ich war damals noch so klein, daß man mich tragen konnte. Wer ist er? Und wieso weiß ich genau, daß er alt ist, viel älter als Vater? Er hat mir einmal ein Schlaflied gesungen. Dio hat mich einmal dabei erwischt, wie ich es meiner Puppe vorgesummt habe, und mich geschlagen – und das hat sie sonst nie getan. Nicht einmal, als ich die Grünbeeren-Torte aufgegessen habe, die für unsere Gäste bestimmt war.
Margarets Muskeln verkrampften sich durch eine Erschöpfung, die nichts mit dem Instrument zu tun hatte, das nun ruhig vor ihr lag. Sie hatte den Eindruck, daß sie kurz vor einer Entdeckung stand – allerdings hatte sie keine Ahnung, was sie entdecken würde. Ihr Herz klopfte heftig, und sie wartete darauf, daß es zu einem normalen Rhythmus zurückkehrte. Am liebsten hätte sie die Ryll auf den Boden geworfen, wäre in ihr Zimmer hinaufgerannt und hätte dort geschrien, bis ihre Kehle wund war. Es kostete sie jeden Funken ihrer hart erworbenen Selbstbeherrschung, einfach nur zu bleiben, wo sie war, und für die beiden Männer wie eine ganz normale Frau auszusehen. Sie konnten nichts ahnen von den Visionen, die sie heimsuchten, nichts von der Phalanx von Geistern, die die Musik in ihr wachgerufen hatte.
Ihr Mund war trocken. Sie atmete sehr flach, denn sie wußte, sie würde in Ohnmacht fallen, wenn sie tief Luft holte. Fragen wirbelten ihr im Kopf herum, schmerzliche Fragen, die jedesmal auftauchten, wenn sie erschöpft war. Wieso hat mich mein Vater immer angesehen, als wäre der Anblick schmerzhaft? Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es. Ich war so froh wegzukommen, und ich schäme mich immer noch, weil ich froh war.
Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Eindruck, daß sich der Alte vor ihren Augen materialisierte, leicht durchsichtig zwar, aber deutlich erkennbar. Er starrte seinen Armstumpf an, wie er es immer tat, als verwirrte ihn das Fehlen seiner Hand, und er trank. Sie wußte, es war nur eine Erinnerung, auch wenn das Trugbild nun die Augen von dem Arm nahm und sie direkt ansah, scheinbar durch sie hindurchblickte. So konnte er stundenlang verharren, während sie immer nervöser wurde und sich fragte, was sie ihm getan hatte.
In ihrem Herzen wußte Margaret, daß sie nichts getan hatte. Nichts von dem, was schiefgegangen war, was ihn einen Arm gekostet hatte und noch etwas, für das sie keine Worte fand, war ihre Schuld. Sie war noch zu klein gewesen, um an etwas schuld zu sein, außer vielleicht, daß sie ihre Milch ausschüttete. Sie wußte, das Bild vor ihr existierte nur in ihrem Kopf, es war eine Erinnerung, nicht mehr. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als würde ihr Verstand ein wenig zerbröckeln. Das durfte sie nicht zulassen – sie mußte an Ivor denken, sich um ihn kümmern!
Margaret zwang sich, nicht weiter an ihren Vater zu denken oder an jenen anderen Mann, der ihr angst machte. Statt dessen nahm sie zusammen, was ihr an Verstand geblieben war, und sagte so ruhig wie möglich: »Meister Everard, ich glaube, Ihre Harfe ist verwunschen. Der Professor und ich haben ein ähnliches Phänomen einmal auf Ceti Drei beobachtet. Dort ist Besessenheit von einem Musikgeist natürlich gang und gäbe – ein Aspekt der Religion gewissermaßen.« Sie flüchtete sich in die Sicherheit wissenschaftlicher Objektivität, wobei sie völlig vergaß, daß Meister Everard noch nie von Ceti Drei gehört hatte. »Ich weiß nicht, woher ich dieses Lied haben könnte. Es ist nicht im Child, oder Ivor? Es gibt natürlich mehrere Lieder dieser Art ...«
Als sie das Unverständnis auf Meister Everards Gesicht sah, wiederholte sie ihre Frage in Casta.
»Ja, eine frühere Studentin von mir hat eine postdoktorale Arbeit über sie geschrieben«, warf Ivor ein. »Das Rachethema in schottischen, irischen und skandinavischen Balladen. Sie kennen sie bestimmt, Margaret. Wie hieß sie gleich noch? Ach ja – Anna Standish.«
»Aber ich kenne das Lied«, antwortete Meister Everard, der Ivors Bemerkung überhörte. »In den Hellers ist es besser bekannt als hier. Es ist eine alte Ballade mit dem Titel »Der Geächtete«. Angeblich basiert sie auf der Geschichte von Rupert di Asturien, der vor zwei Jahrhunderten in einem Anfall von Berserkerwut seine gesamte Familie umgebracht hat – außer einer Schwester, und sie war es, die ihn für geächtet erklärt hat. Ihr Akzent ist übrigens ausgezeichnet, aber ich habe gestern abend schon bemerkt, daß Sie unsere Sprache besser sprechen als viele Terraner, die schon seit Jahren hier sind. Als ich Sie singen hörte, hätte ich geschworen, daß Sie einmal hier gelebt haben, wenn ich es nicht besser wüßte. Sie haben den Akzent der Kilghard-Berge gebraucht, wo das Lied am Kamin gesungen wird. Wirklich, Sie haben es gesungen, als hätten Sie ihm dort hundertmal gelauscht.«
»Wenn Sie das sagen. Aber soviel ich weiß, hatte ich es noch nie gehört, bevor ich zu singen begann.« Aber dann fragte sich Margaret, ob sie sich da so sicher sein konnte. Bei dem Wort Kilghard-Berge war es ihr seltsam kalt über den Rücken gelaufen. Wie die Musik selbst hatte es eine Art Resonanz ausgelöst. Vielleicht hatte der Alte sie einmal erwähnt, in einem seiner seltenen Anfälle von Gesprächigkeit. Oder auf der Diskette war von ihnen die Rede gewesen. Das mußte es sein. Eine Woge der Erleichterung durchflutete sie. Sie wurde nicht verrückt. Ihr Gedächtnis spielte ihr nur einen Streich und brachte ihre Erinnerungen ein wenig durcheinander.
Als sich Margaret gerade eingeredet hatte, daß sie ruhig und vollkommen bei Verstand war, sah sie im Geiste eine Hügelkette vor sich, umgeben von höheren Bergen, die schneebedeckt und in Nebel gehüllt waren. Ihr Blut begann zu pochen – wo kam nun dieses Bild wieder her? Es war ein sehr deutliches Bild, beinahe so klar wie ein holographisches Video, aber sie wußte genau, daß sie diese Berge noch nie gesehen hatte und auch kein Video von ihnen. Es kam ihr fast so vor, als hätte sie das Bild aus dem Kopf einer anderen Person gestohlen, und das war schlicht unmöglich. Ein Schmerz war nun in ihr, ein Hunger, ein merkwürdiges Verlangen, das anders war als alles, was sie kannte. Sie wollte diese Berge Wiedersehen, als wäre sie schon einmal dort gewesen, und gleichzeitig spürte sie, daß dort etwas wartete, das ihr angst machte. Margaret sagte sich entschlossen, daß ihre Phantasie nur einmal mehr verrückt spielte, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Ivor und Meister Everard zu.
»... ein Stück auf dieser besonderen Ryll zu spielen ...«, sagte Meister Everard gerade. »Es muß Sie wohl mögen; ich sollte Ihnen das Instrument schenken. Das geht wirklich über mein Begriffsvermögen hinaus.«
»Aber Sie sagten, es ist historisch ...«
»Ja. Es gehörte – angeblich – einer Frau namens Thyra. Das ist ein Chieri-Name, und sie wurde allgemein für eine halbe Chieri gehalten. Sie starb ... na, das muß so etwa vor zwanzig Jahren gewesen sein.«
Irgend etwas in Margaret stellte die Ohren auf. Thyra – ich kenne diesen Namen, und er ... er hat mit etwas sehr Bösem zu tun. Zwanzig Jahre? Das wäre also ungefähr zu der Zeit gewesen, als mein Vater Darkover verließ. Laut fragte sie: »Kannten Sie diese ... Thyra?« Sie stellte fest, daß es ihr sogar widerstrebte, den Namen laut auszusprechen.
»Das verboten die Götter«, sagte Meister Everard. Sein altes Gesicht sah nun betrübt aus. »Ich war immer ein treuer Untertan von Danvan Hastur, möge er in Frieden ruhen. Er kam an die Macht, als ich ein junger Mann war, und ich ... ich ertrage es nicht, daran zu denken. Ein sehr trauriges Kapitel unserer Geschichte. Viele Leute sind damals gestorben, und noch mehr haben überlebt und gelitten, weil – schon gut, Domna. Sie werden nichts darüber wissen, und es dürfte Sie auch kaum interessieren. Ich wage zu behaupten, daß die Ärmste ihre Gründe hatte, zu tun, was sie getan hat. Mein Sohn Erald wüßte mehr darüber, er hat fast sein ganzes schöpferisches Leben lang an einem Liederzyklus über jene Zeit geschrieben.«
Nichts, was er sagte, enthielt eine Information, mit der Margaret etwas anfangen konnte, aber sie war so höflich zu sagen: »Ein Liederzyklus – das ist ja wundervoll!«
Everard lachte freudlos. »Wohl kaum! Meinem Sohn wurde mit achtundzwanzig die Auszeichnung zuteil, daß man eines seiner Lieder verbot, wobei ich nicht wissen möchte, ob es sich um ein politisches oder ein künstlerisches Urteil handelte.« Sein gequälter Gesichtsausdruck ließ Margaret vermuten, daß ihn die Angelegenheit stark bewegte. »Allerdings halte selbst ich ›Sharras Lied‹ für ein sehr beunruhigendes Stück.« »Wo ist Ihr Sohn jetzt?« Margaret spürte den angenehmen Kitzel der Neugier, und sie hatte das starke Verlangen, mit Erald zu reden, ihn gnadenlos auszufragen. Das wäre eine Sache, die sie in Angriff nehmen könnte – ein neuer Liederzyklus, aber wahrscheinlich in einem traditionellen Stil geschrieben. Auch wenn es in ihrer Publikation nur eine Fußnote ergab, war es ein Fund, ein echter Fund! Verboten. Wie interessant! Sie versuchte sich einzureden, daß sie Wissenschaftlerin war, kein Schnüffler, aber vergeblich. Nach einer Weile gab sie den Versuch als lächerlich auf. Die ganze Sache war persönlich, aber sie traute sich nicht, es zuzugeben, nicht einmal vor sich selbst. Diese Ryll, die Frau namens Thyra und »Sharras Lied« bargen ein Geheimnis, das an ihr nagen würde, bis sie es enträtselt hatte.
»Oh, er ist fort, in den Hellers.« Everard schüttelte den Kopf. »Meine Mutter hat zu mir gesagt: ›Heirate kein Gerbermädchen‹, und wahrscheinlich hatte sie recht. Wir hatten drei Kinder, und nur Erald hat musikalisches Talent. Die beiden Mädchen sind praktisch nicht in der Lage, zwei Töne zu unterscheiden, und die Enkel sind nicht viel besser. Ach, ich darf gar nicht daran denken. Mein Enkel ist ein brauchbarer Instrumentenbauer, aber er hat wahrhaftig nicht ein einziges Lied in sich. Und so wird Rodrigo MacAran nach mir Zunftmeister werden, und er ist ein großartiger Künstler, wenn es auch schwierig ist, mit ihm zu arbeiten. Aber nur, weil er immer das Beste will, nicht weil er gemein wäre. Erald wird sich nie häuslich niederlassen, verstehen Sie.«
Er seufzte kurz über die unerfüllt gebliebenen Träume für seinen Sohn. »Wo waren wir gleich wieder stehengeblieben? Ach ja, diese Ryll. Sie dürfen gerne alles, was Sie können, aus ihr herausholen, aber bringen Sie sie nicht in die Nähe der Hastur-Harfe.« Er zeigte zur anderen Seite des Raumes. »Als ich es das letzte Mal getan habe, hat sie sechs Saiten reißen lassen.« Der Meister schien weder eine Ryll, die ein Lied in sich trug, noch eine Harfe, die ihre Saiten reißen ließ, besonders merkwürdig zu finden, und Margaret fragte sich, ob er sie nur aufzog. Aber er wirkte völlig ernst. Und er wollte eindeutig das Thema wechseln.
Margaret schluckte ihre Enttäuschung. Erald war unterwegs. Das hatten ihr die beiden jungen Burschen schon am Abend zuvor erzählt. Vielleicht kam er ja bald nach Thendara zurück, oder sie und Ivor würden ihn treffen, wenn sie draußen auf dem Land ihre eigenen Forschungen anstellten. Sharras Lied mußte eben warten.
Everard entfernte sich und fuhr fort zu reden. »Meister Ivor, Sie wollten doch etwas über die Fiolen wissen, nicht wahr? Hier sind sie. Die Fiole ist ein Streichinstrument, wenngleich man sie auch zupfen kann, um bestimmte Wirkungen zu erzielen ...«
Margaret hängte die Ryll in die Wandnische zurück. Sie wußte, sie hatte ihr für den Augenblick alles gegeben, was sie zu geben hatte. Beim Aufhängen gab sie einen Klang von sich, einen Schwall von Noten, so leise, daß sie es kaum hörte. Margaret legte ihre Hand auf den Resonanzkasten und gelobte, daß sie eines Tages zu dem geheimnisvollen Instrument zurückkehren würde, um ihm seine Geheimnisse zu entreißen. Dann kam sie sich ein bißchen lächerlich vor.
Sie folgte den Männern zu der Vitrine mit Fiolen, erlaubte ihren Gedanken jedoch umherzuschweifen. Der Recorder zeichnete alles auf, und Ivor würde nicht zögern, ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, falls er sie benötigte.
Während sie dastand, ohne richtig zuzuhören, fiel Margaret ein, daß ihr der Name Thyra nicht gänzlich unbekannt war. Ihr Vater hatte ihn in betrunkenen Alpträumen manchmal gerufen, aber das war so viele Jahre her, daß sie es beinahe vergessen hatte. Er rief immer das gleiche Bild in ihr wach. Sie sah eine kreischende, rothaarige Hexe mit Klauen statt Händen ... und den silberhaarigen Mann, der immer schrie: »Nein, Thyra, nein ...«, genau wie ihr Vater die Worte in seinem unruhigen Schlaf schrie. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Abneigung, noch mehr zu erfahren, und brennender Neugier. Sie konnte sich nicht entscheiden.
Nach ihrer Abreise von Thetis waren diese Träume seltener geworden, von Alpträumen im Hyperraum abgesehen. Ein Psychoanalytiker an der Universität hatte ihr erklärt, daß sie etwas unterdrückte, und ihr Tiefentherapie angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Darauf hatte sie ein Recht, ein grundlegendes Bürgerrecht. Sie wollte sich damals an nichts erinnern. Sie wollte es immer noch nicht. Unter Ida Davidsons mütterlichen Händen hatte sie das Chaos ihrer frühen Teenagerjahre und die Auseinandersetzungen zwischen ihrem Vater und ihrer Stiefmutter beinahe vergessen, die hauptsächlich wegen ihr ausgebrochen waren und sie schließlich von zu Hause vertrieben. Die Davidsons hatten ihr ein neues Zuhause gegeben, und sie hatte es ihnen vergolten, indem sie ihre eigene Karriere in Ivors aufgehen ließ. Sie wußte, daß jeder Student im dritten Jahr ihre Arbeit tun konnte, und zwar ebenso gut. Bevor die Davidsons ihr Glück geschenkt hatten, hatte sie gar nicht gewußt, daß sie unglücklich war, und das würde sie ihnen nie vergessen.
Einen Moment lang überlegte Margaret, ob sie irgendwie durch eine Astralebene nach Darkover gekommen war. Nicht, daß sie an solche Dinge geglaubt hätte, obwohl sie es sich auf jeden Fall angenehmer vorstellte als eine Weltraumreise. Die Universität hatte sie dazu ausgebildet, vernünftig zu denken, logisch und planvoll vorzugehen und nur an das zu glauben, was sie berühren und in Händen halten konnte.
Das Ich meiner Träume war ein sehr kleines Mädchen, vielleicht sogar noch ein Baby. Aber, verdammt, ich erinnere mich an diese Festung von Gebäude, an das Reade-Waisenhaus. Und Dio hat sich immer benommen, als wäre sie meine leibliche Mutter. Ich war eine Waise, gut, aber der Alte ist mein Vater, oder nicht? Dio und ich könnten uns nicht näher sein, wenn sie mich zur Welt gebracht hätte. Was für ein Durcheinander! Das muß aufhören – sofort! Ich dulde es nicht. Was immer vor über zwanzig Jahren passiert ist, es ist Vergangenheit und hat nichts mit mir zu tun!
Margaret und Dio hatten während der vielen Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, ein gewisses Maß an Vertrautheit verloren, obwohl sie sich nach wie vor lange Briefe schrieben und mehrmals im Jahr über Vidcom miteinander sprachen. Der Alte schrieb nie, aber Dio schickte immer seine Grüße, und Margaret war froh darüber. Sie war deshalb einigermaßen beunruhigt und fast verärgert, weil sie auf ihre letzte Nachricht keine Antwort bekommen hatte. Aber wahrscheinlich war sie nur irgendwo steckengeblieben und würde auf Darkover eintreffen, wenn sie und Ivor ins Hinterland aufgebrochen waren. Soviel zur Effizienz terranischer Technik!
Irgend etwas nagte an ihrer Seele, etwas Wichtiges und Erschreckendes. Margaret runzelte die Stirn; sie wußte, es war etwas, woran sie eigentlich nicht denken wollte. Es stürzte als Gefühl der Verlassenheit und Wut auf sie ein. Sie gestattete es sich, zu schaudern, und versuchte, die Erinnerung zurückzudrängen, dann gab sie auf, schon damit sie es hinter sich hatte.
Es war ihre letzte Nacht auf Thetis, nachdem der Alte ihrer Entscheidung schließlich zugestimmt hatte. Der Abend hatte ganz nett angefangen, mit einem guten Essen, Trinksprüchen mit thetischem Wein und ihrer Lieblingsnachspeise. Margaret hatte sich zunehmend entspannt, hatte sich eingeredet, daß alles gut würde. Dio war früh zu Bett gegangen, was sie häufig tat. Sie sagte, die Seeluft mache sie schläfrig.
Dann hatte sich der Senator gräßlich betrunken und versucht, ihr etwas zu sagen, das sie nicht hören wollte. Was hatte er geschrien? »Wenn du die Alton-Gabe hast und ein nicht ausgebildeter Telepath bist, dann bist du eine Gefahr für dich und deine Umgebung. Du bist meine Tochter, und wahrscheinlich hast du sie. Gabe! Der Alton-Fluch trifft eher zu ...« Sie hatte nicht verstanden, was er meinte, aber sein Tonfall hatte ihr das Blut gefrieren lassen. Und dann war noch etwas passiert – und ihr wurde jetzt bewußt, daß das die Erinnerung war, die sie vergessen wollte. Einen kurzen Augenblick hatte sie das Gefühl gehabt, daß eine andere Person in ihrem Kopf war, eine Frau, und zwar eine sehr böse. Sie hatte eine leise Stimme, die dennoch stark und autoritär war. Du wirst dich nicht erinnern, und du wirst mich nicht zerstören! Das, und nicht das wirre Gerede des Alten, hatte sie aus dem Wohnzimmer rennen lassen. Sie hatte sich wie eine Verfolgte in ihrem Zimmer eingeschlossen und die ganze Nacht ihre Sachen gepackt und neu gepackt, als hinge ihr Leben davon ab.
Es war nur eine Erinnerung, sagte sich Margaret. Die seltsame Stimme in ihrem Kopf war vermutlich eher auf den ungewohnten Wein und die Anspannung vor der Abreise zurückzuführen als auf irgend etwas sonst. Na also, es ging schon wieder. Sie war schließlich eine Universitätsgelehrte und kein überdrehter Teenager!
Margaret zwang ihre Konzentration zurück zu Meister Everards gelehrtem Diskurs über die Fiole. Es handelte sich eindeutig um eine Verwandte der terranischen Violine oder Viola, auch wenn der Rumpf tiefer war als bei einer Geige und die Schallöcher die Form eines vielzackigen Sterns hatten. Professor Davidson zupfte an den Saiten und seufzte.
»Würdest du sie für mich spielen, Maggie? Ich fürchte, diese alten Hände hier können es nicht mehr.«
»Meine auch nicht«, sagte Meister Everard. »Und ich gebe Ihnen mein Wort, daß sie von nichts anderem besessen ist als von einem schönen Ton.«
Margaret schob die Fiole unter das Kinn und stimmte die Saiten nach. Sie fühlte sich angenehm und vertraut an, auch wenn der Hals ein bißchen länger war als bei einer terranischen Violine. Davon abgesehen hatte sie keine Probleme, denn die Musikfakultät der Universität legte Wert darauf, daß ihre Studenten alles spielen konnten, was für acht Finger plus zwei gegenüberliegende Daumen gebaut war. Sie begann mit einer kleinen Gavotte von Bach aus ihrer Studentenzeit, gefolgt von einer von Corbenics Variationen. Sie konnte aus viertausend Jahren terranischer Musikgeschichte schöpfen, aber Corbenic blieb einer ihrer Favoriten.
Everard hörte aufmerksam zu, und seine Augen glänzten. Er lächelte ihr zu. »Das war vorzüglich, mein liebes Kind. So frisch und klar und doch gleichzeitig mit tiefem Gefühl. Wir müssen für den Abend ein paar von den anderen Musikern in der Straße einladen. Sie wären entzückt, Sie spielen zu hören.« Margaret errötete. Sie wußte, sie war nicht mehr als eine gute zweite Geigerin, und ihr Spiel hatte nicht wirklich Konzertqualität, aber sein Lob löste ihre Ängste und Spannungen. »Ich würde mich freuen.«
Ivor machte eine Bemerkung über Mozart als einen Vorgänger von Corbenic, und das führte zu einer erschöpfenden Diskussion, die ihre Übersetzerfähigkeiten aufs äußerste beanspruchte. Sie spielte die Kadenz aus dem Fünften Violinkonzert, um den Einfluß des früheren Komponisten zu demonstrieren, und Everard nickte. Die Fiole hatte tatsächlich einen hübschen Klang, trotz, oder vielleicht wegen ihrer seltsam geformten Schallöcher.
Als sie schließlich die sechs Fiolen im Museum vorgeführt hatte und das Holz, aus dem sie gebaut wurden, erklärt war, hatte Margaret einen Bärenhunger und war sehr müde. Ivor sah matt aus, seine Augen waren glasig und seine Gesichtsfarbe zum Fürchten. Dennoch wollte er zu den größeren Harfen weitergehen, und Margaret haßte den Blick, den er ihr zuwarf, als sie vorschlug, eine Mittagspause einzulegen.
»Verzeihen Sie mir«, sagte Meister Everard. »Ich bin ein erbärmlicher Gastgeber. Natürlich müssen wir etwas essen.«
»Es gibt so viel zu sehen und zu lernen«, brummte Ivor.
»Das wird nach dem Essen und einer Ruhepause immer noch dasein, Professor.« Margaret bot ihre ganze Geduld auf, um ihn zu überreden.
»Wenn Sie einmal so alt sind wie wir, junge Frau, werden Sie auch so ungeduldig sein.« Meister Everard lachte leise. »Die Jungen glauben immer, sie haben alle Zeit der Welt.«
Als sie den Raum verließen, blickte Margaret noch einmal zu der Ryll zurück, die in seiner Wandnische stand. Für einen kurzen Augenblick sah sie schlanke Hände mit einem sechsten Finger über die Saiten streichen – Geisterhände, die sie gleichzeitig heranwinkten und abwiesen. Sie war erleichtert, als sie draußen im Flur war, wo sie die Vision aus ihrem Kopf verbannte und ihre zu lebhafte Phantasie verfluchte. Es mußte ein Lichtreflex gewesen sein, sagte sie sich.
Aber sie glaubte es nicht.