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Als Margaret allein war, trauerte sie. Vögel sangen in den Bäumen des Friedhofs; sie hörte sie, ohne wirklich darauf zu achten. Schließlich entschied ihr Körper, daß er hungrig war, und brachte sie jäh in die Gegenwart zurück. Es war ärgerlich. Dann vermeinte sie, Ivor kichern und ihr sagen zu hören, sie solle nicht eine solche Idiotin sein. Sie ging zurück durch das steinerne Tor des Friedhofs und begann sich nach einem Lokal umzusehen, in dem sie essen konnte.

Sie fand ein kleines Speisehaus, direkt vor der terranischen Zone. Die meisten Gäste waren Terraner, die ihre schwarzen Lederuniformen zur Schau stellten und mit lauter Stimme sprachen. Sie schrak zusammen von dem Lärm und suchte sich einen Tisch im hinteren Teil des Lokals, wo es relativ ruhig war. Sie fühlte sich wie taub und ließ ihre Gedanken ziellos wandern.

Ein rundliches Mädchen in darkovanischer Kleidung kam an den Tisch und fragte, was sie zu essen wünschte. Margaret war zu müde zum Auswählen und bat um irgend etwas Beliebiges von der Speisekarte, die mit Kreide hinter der Theke angeschrieben stand. Was es auch war, es würde bestimmt schmecken und satt machen.

Das Mädchen brachte ihr eine Schüssel mit dampfendem Rabbithorneintopf, einen Korb mit noch ofenwarmem Brot und einen Krug Bier. Große Stücke zartes Fleisch schwammen in einer dicken Sauce mit viel Gemüse, das quälend vertraut schmeckte. Die Kräuter und Gewürze waren ihrer Zunge immer noch fremd, die längst an die fade Universitätsküche gewöhnt war. Sie mußte lächeln bei der Erinnerung an ihre ersten Erfahrungen mit dem Gemeinschaftsessen. Wie sie einer ihrer Mitstudenten aufgeklärt hatte, als sie entsetzt auf eine Schüssel mit geschmacklosen Getreideflocken gestarrt hatte, die sich als Frühstück ausgaben: »Das Essen an der Universität beleidigt niemanden, weil es weder Geschmack noch Charakter hat.«

Der Eintopf hatte zweifellos Charakter. Sie verschlang ihn ohne Vorsicht oder einen Gedanken an gute Manieren. Trotz Anyas wohlmeinenden Bemühungen und energischen Protesten, hatte sie nur von Tee gelebt, sich hin und wieder nach Kaffee gesehnt, aber ohne wirkliche Dringlichkeit. Jetzt hatte sie das Gefühl, als würde sie mit Gewalt alles nachholen. Sie ließ die verführerischen Aromen auf der Zunge zergehen, als sie bereits ein wenig gesättigt war, und bekam den Eindruck, daß sie das Gericht schon einmal gegessen hatte. Für einen Moment war es, als würde ein kleines Kind auf ihrem Schoß sitzen, das kaum über die Tischkante reichte und denselben Eintopf in seinen hungrigen Mund löffelte.

Margaret hatte fast aufgegessen, als sie bemerkte, daß ein Mann sie beobachtete. Er trug die Lederkluft der Angestellten im terranischen Raumhafen, aber er ließ die Körperhaltung eines Terraners vermissen. Sie rätselte kurz über diese Erkenntnis und entschied schließlich, daß er nicht aussah, als würde er sich aus Neugier unter die Einheimischen mischen, wie der größte Teil der restlichen Gäste. Sie schaute schnell weg, um einen direkten Augenkontakt zu vermeiden, wie man es ihr als gutes Benehmen beigebracht hatte, aber sie wußte sehr wohl, daß er sie weiterhin beobachtete. Sie fing an, leicht unruhig zu werden, was sich noch steigerte, als er aufstand und auf ihren Tisch zukam.

Ohne um Erlaubnis zu fragen, ließ er sich auf den freien Stuhl gegenüber von ihr sinken und lächelte in einer Weise, die ihr beinahe die Angst nahm. »Ich weiß, wer du bist«, begann er ohne Einleitung. »Du bist Lew Altons Tochter, stimmt’s?«

Margaret konnte ihre Abstammung schwerlich verleugnen, aber sie fragte sich, woher dieser Fremde sie kannte. Sie sah dem Alten überhaupt nicht ähnlich. Er schien ihre Verwirrung zu spüren, denn er sprach in seiner freundlichen Art weiter. »Ich bin Captain Rafael Scott, aber die meisten Leute nennen mich Rafe.«

Margaret sah ihn nur an.

Als sie nichts sagte, fuhr er fort. »Wir sind verwandt.«

»Wie bitte?«

»Ich bin dein Onkel. Hat Lew nie von mir gesprochen?«

Margaret wünschte, sie trüge keine darkovanische Kleidung, wäre nicht so müde und die Leute würden aufhören, mit ihr zu reden, als wüßten sie Dinge, die sie nicht wußte. Der Mann war um die Vierzig und wirkte angenehm. Aber sie war mißtrauisch. Die Kellnerin beobachtete sie nun, und mehrere Männer aus dem Raumhafen schauten ebenfalls zu ihnen hin. Sie sah aus wie eine Einheimische, und sie fühlte sich in einer Weise angreifbar, wie es in ihrer terranischen Kleidung nicht der Fall gewesen wäre. Sie wollte nicht mit einer Raumhafenhure verwechselt werden – eines der wenigen Dinge, die Dio ihr von Darkover erzählt und die sie verstanden hatte.

»Ja, ich bin Lew Altons Tochter. Aber der einzige Onkel, von dem ich weiß, ist der Bruder meines Vaters, und der ist seit langer, langer Zeit tot.« Sie fragte sich, was ihr Vater von dieser seltsamen Begegnung halten würde, und sie verfluchte den Alten innerlich, weil er nie die wichtigen Dinge erzählt hatte. Das sah ihm ähnlich, sie so im dunkeln zu lassen! Ihr Zorn, der beim Essen in den Hintergrund getreten war, wurde wieder lebendig.

»Wie nennen sie dich?«

»Marguerida«, sagte sie, die darkovanische Form ihres Namens benutzend. »Wie können Sie mein Onkel sein? Ich habe noch nicht einmal von Ihnen gehört!«

»Wir sind uns sogar einmal begegnet, aber damals war ich noch ein junges Bürschchen, und du warst ein sehr kleines Kind.«

»Davon weiß ich nichts.« Sie hörte den Zweifel in ihrer Stimme und wünschte, sie wäre eine bessere Schauspielerin. Margaret kam zu dem Schluß, daß das hier eine der sonderbarsten Unterhaltungen in ihrem Leben war, wenngleich es schien, daß jede Unterhaltung auf Darkover mehr oder weniger seltsam war. Sie fragte sich, ob er die Wahrheit sagte, und hatte gleichzeitig das Gefühl, als wüßte sie bereits, daß es so war. Das lag nicht nur an seiner offenen Freundlichkeit. Sie spürte seine Aufrichtigkeit über den Tisch hinweg, als könnte sie ihn lesen wie ein Buch. Er bestellt sich gleich noch etwas zu trinken.

Einen Augenblick später winkte Rafe Scott der Kellnerin und zeigte auf seinen leeren Krug. Margaret fuhr zusammen und fragte sich, wieso sie das gewußt hatte. Wenn sie nur diese nervtötenden Anfälle von Hellsehen nicht hätte oder was, zum Teufel, das war! Es machte sie verlegen, als hätte sie im Privatleben einer anderen Person herumgeschnüffelt.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Margaret zu. »Ich kann einfach nicht glauben, daß mich Lew nie erwähnt hat. Wir waren gute Freunde, obwohl ich viel jünger bin als er. Ich war älter als Marius, aber nicht sehr viel. Marius hätte seinen Platz im Rat eingenommen, als er dreizehn war, wenn sie es erlaubt hätten. Aber die verdammten Konservativen wie Dyan Ardais ließen ihn nicht.« Margaret war überrascht, wieviel Zorn in seiner Stimme lag, eine alte Wut, angejahrt und altersgrau, aber nichtsdestoweniger noch sehr lebhaft. Und da war noch etwas. Dieser Name – Dyan Ardais. Sie wußte mit Sicherheit, daß sie ihn noch nie gehört hatte, dennoch hätte sie sich am liebsten unter dem Tisch versteckt. Sie war so durcheinander, daß sie fast Scotts nächste Aussage überhört hätte. »Er starb, bevor er zwanzig war. Dein Vater hat getobt.«

»Was für ein Rat? Welche Konservative? Und wer sind Sie?!« fuhr sie den Mann an, als sie nun doch die Beherrschung verlor. Es war eine große Erleichterung, sich über jemanden ärgern zu können, anstatt eine unausgesprochene Wut im Bauch zu haben, die sie von innen her auffraß. Es war aber auch beschämend, denn sie war immerhin eine erwachsene Frau, kein schlechtgelauntes Kind. Unglücklicherweise fühlte sich Margaret trotz ihres herzhaften Mahls – oder gerade deswegen – so stark wie ein kleines Mädchen, das ein Nickerchen brauchte!

Rafe Scott betrachtete sie ruhig und runzelte ein wenig die Stirn, als wäre er verwirrt. Die Kellnerin brachte sein Bier, und er trank einen kleinen Schluck von dem schäumenden Gebräu. »Ich bin Marjorie Scotts Bruder Rafe. Sie war deine Mutter, und damit bin ich dein Onkel. Es ist ganz einfach.«

Margaret musterte ihren Tischgenossen und neu entdeckten Verwandten. Ihre erste Reaktion war, daß es eigentlich ganz nett war, eine Familie zu haben. Sie hatte schon immer ihre Nachbarn auf Thetis und ihre wenigen Freunde an der Universität beneidet, weil sie Brüder und Schwestern, Tanten und Onkel hatten. Familie war eine leere Stelle in ihrem Innern, bei der sie selten verweilte. Aber in diesem Augenblick, da sie die Erde von Ivors Grab noch an den Händen hatte, war die Vorstellung seltsam tröstlich.

Marjorie Scotts Bruder. Der Name von Lew Altons erster Frau rief keine starken Gefühle bei ihr wach, denn sie wußte, diese Frau war nicht ihre Mutter. Ohnehin war Dio ihre Mutter, die einzige, die sie haben wollte. Aber sie fand es interessant, daß Rafe Scott nicht zu wissen schien, daß Marjorie gar nicht ihre Mutter war, sondern deren Schwester Thyra. Natürlich war er damit immer noch ihr Onkel. Sie wollte ihn schon nach der Sache fragen, aber dann entschied sie sich dagegen. Irgend etwas in ihr wollte nicht über Thyra reden.

»Aber Sie sind Terraner, kein Darkovaner, oder?« Zu ihrer Überraschung wußte sie irgendwie, daß es so war.

»Mein Vater, Zeb Scott, war Terraner. Er hat Felicia Darriell von den Aldarans geheiratet, deine Großmutter.« Er seufzte. »Das ist alles lange her, und es war ein trauriges Kapitel in der darkovanischen Geschichte. Marius ist gestorben, dein Vater verlor seine Hand und die Domäne Alton ... es ist besser, nicht bei der Vergangenheit zu verweilen.«

Margaret ärgerte sich über seine Haltung. »Das mag für Sie alles Vergangenheit sein, aber seit ich hier bin, gehen die Leute hartnäckig davon aus, ich wüßte, wovon sie reden – aber niemand sagt mir etwas. Ich komme mir vor, als wäre ich in einer Verschwörung des Schweigens gefangen. Und ich habe es langsam wirklich satt!« Sie hatte die Stimme gehoben, und mehrere Leute von Nachbartischen sahen zu ihr hin. Sie bekam erneut heiße Wangen, als sie merkte, daß sie die Aufmerksamkeit auf sich zog, und sie schluckte heftig.

»Aber Lew hat dir doch sicher erzählt ...«

»Ich habe meinen Vater in den letzten zehn Jahren nur ein paarmal kurz gesehen, und er hat mir ohnehin nie viel erzählt, wenn er mich ausnahmsweise mit seiner Anwesenheit beehrte.« Die Bitterkeit in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Ich bin wegen eines Forschungsauftrags der Universität hier, Recherchen in Sachen Musik. Vor wenigen Tagen war ich noch in Gesellschaft meines Mentors, aber er ist plötzlich gestorben.« Margaret hörte auf zu sprechen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich komme gerade von seiner Beerdigung! Was ich von meiner Geschichte weiß, hätte dreimal in einem Fingerhut Platz!« Sie spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte, und biß wütend über ihre eigene Schwäche die Zähne zusammen. Wenn sie nur nicht so müde wäre!

Rafe schaute entgeistert. Er beugte sich vor und sprach leise, aber sehr eindringlich. »Du meinst, du bist gar nicht wegen des Telepathischen Rats hier?«

»Wegen was?«

»Es tut mir leid. Ich habe angenommen, du bist mit Lew hier und daß ihr beide wegen des Rats gekommen seid.«

»Soviel ich weiß, hat der Senator nicht die Absicht, hierherzureisen – er unterrichtet mich allerdings auch nicht von seinen Schritten oder von irgend etwas anderem, so wie es aussieht.« Margaret zog sich in eine eisige Förmlichkeit zurück, in der sie sich gleichzeitig von ihrem Vater und von dem Mann ihr gegenüber distanzieren konnte. »Und was telepathische Räte angeht – warum sollten er oder ich deswegen hierherkommen? Gedankenlesen ist ein Mythos wie feuerspuckende Drachen.«

Captain Scott lehnte sich auf seinem Stuhl zurück; er war nun nachdenklich. »Daß dieser verdammte Lew auch so ein halsstarriger Idiot ist«, sagte er schließlich.

»Besser hätte ich es auch nicht sagen können!«

Scott kicherte, und trotz ihrer Wut ertappte sich Margaret dabei, daß ihr sein Gelächter gefiel. »Er war immer schon störrisch wie ein Esel. Aber ich begreife nicht, wie er dich über dein Erbe im unklaren lassen konnte!« Der Lew, den ich kannte, war zwar störrisch, aber keinesfalls dumm!

Margaret ignorierte die Worte, die sie hörte, die aber nicht über die Lippen ihres Gegenübers gekommen waren. Sie wünschte, sie könnte zu Meister Everards Haus zurückfliegen und für eine Woche in ihr Bett fallen – ohne den Gang durch Thendara dazwischen. »Ich nehme an, er hatte gute Gründe. Er hat wohl nicht gedacht, daß ich einmal nach Darkover komme. Und das wäre ich auch nicht, wenn nicht einer der Professoren der Universität Schwierigkeiten hätte. Mein Besuch hier war überhaupt nicht geplant und kam völlig unerwartet.« Sie runzelte die Stirn. »Immerhin hat er gesagt, daß ich meinen Nacken bedeckt halten und den Leuten nicht direkt in die Augen sehen soll – das, meinte er, sei hier höfliches Benehmen. Aber das war alles. Das erste verstehe ich ja noch irgendwie, aber ich weiß nicht, wieso ich Augenkontakt vermeiden soll.«

»Die Alton-Gabe ist der erzwungene Rapport, und Augenkontakt erleichtert ihn. Nicht daß Lew ihn je nötig gehabt hätte.«

»Wenn Sie nicht aufhören, in Rätseln zu sprechen, schütte ich Ihnen mein restliches Bier über die Lederkluft! Welche ›Gabe‹?« Sie spürte, wie ihr das Prickeln einer Vorahnung den Nacken hinaufkroch.

»Das wäre eine Vergeudung von ausgezeichnetem Bier. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, und ich bin mir nicht sicher, ob es mir zusteht, dich aufzuklären. Und hier ist bestimmt nicht der Ort dafür, dir zu sagen, was ich weiß.«

»Mir scheint aber, als hätten Sie schon eine ganze Menge gesagt! Und nichts davon hat der Aufklärung gedient.« Sie hatte die Genugtuung, ihn erröten zu sehen. Er sah sie direkt an, sehr eindringlich, und sie bemerkte, daß seine Augen bemerkenswert waren, mit Gold gesprenkelt wie ihre eigenen, aber durchdringender. Einen Augenblick zuvor hatte er noch harmlos gewirkt, aber nun kam ihr Rafe irgendwie bedrohlich vor, als könnte er in ihre Gedanken schauen. Ihr Vater hatte sie manchmal so angesehen, und sie reagierte wie damals, indem sie an etwas Neutrales dachte. Margaret konzentrierte sich auf die Partitur eines komplexen Musikstücks, es war fast wie ein Reflex, und nach einer Weile schaute er weg. Zum ersten Mal fielen ihr seine Hände auf, und sie sah, daß er sechs Finger hatte statt fünf.

Beim Anblick seiner Finger tauchte die Erinnerung an ein anderes Händepaar auf, die Hände einer Frau, die über die Saiten einer Ryll strichen. Auch sie hatten einen zusätzlichen Finger gehabt. Margaret unterdrückte einen Schauder und weigerte sich, in der Erinnerung zu verweilen, denn sie wußte, diese Hände gehörten der rothaarigen Frau, Thyra.

Der Mann rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher und seufzte schwer. »Dein Vater ist einer der besten Männer, die ich kenne, Marguerida, aber er hat es nie geschafft, sein Privatleben auf die Reihe zu bringen. Was für ein Durcheinander!«

»Privatleben? Ich glaube, abgesehen von Dio hat er wohl kaum eines.«

»Du bist sehr hart gegen ihn, hm?«

»Nicht annähernd so hart, wie ich gern wäre«, antwortete sie beißend. Hätte sie ihren Vater über die Lichtjahre zwischen ihnen transportieren können, dann hätte sie ihm jetzt mit Freuden eine Ohrfeige verpaßt. Die Vorstellung erheiterte sie für einen Augenblick.

Rafe unterdrückte ein Lachen. »Hier können wir nicht ungefährdet reden. Ich glaube, unter diesen Umständen werde ich dich wohl lieber zur Burg hinaufbegleiten.«

»Und ich glaube, Sie sollten das lieber noch einmal überdenken, Captain Scott. Ich werde in keine Burg gehen, weder mit Ihnen noch mit sonst jemandem, der hier antanzt und mir erzählt, daß er den Senator kennt. Ich mag keine Ahnung von darkovanischen Sitten haben, aber soviel weiß ich, daß ich mich nicht mit einem völlig Fremden herumtreibe.«

Dennoch konnte Margaret eine gewisse Neugier nicht unterdrücken, auch wenn sie gleichzeitig sehr müde und widerspenstig war. Sie wünschte, sie hätte jeweils nur eine Empfindung und würde nicht ständig in verschiedene Richtungen gleichzeitig gezogen. Sie dachte daran, wie MacEwan und seine Frau angenommen hatten, daß sie zur Burg ging, und wie sich ihr die Leute allein aufgrund ihres Aussehens unterworfen hatten.

Rafe beugte sich gegen die Tischkante vor und senkte die Stimme. »Marguerida, du bist eine sehr wichtige Persönlichkeit, ob du es nun weißt oder nicht. Du hast eine Verpflichtung zu erfüllen, und du bist die Erbin der Domäne Alton. Es ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft von ganz Darkover, daß du mit mir kommst.«

Einen Moment lang rührte sie sich nicht, so zwingend waren seine Worte. »Sie müssen sich irren«, sagte sie schließlich.

»Nein. Ich war zwar noch jung, als du Darkover verlassen hast, aber alt genug, um zu bemerken, daß du die Alton-Gabe in hohem Maße besitzt – obwohl du noch ein Kind warst.« Die Eindringlichkeit seiner Stimme war unüberhörbar.

»Wollen Sie mir einreden, daß ich als kleines Kind eine Art Gedankenleser war?« Eine Erinnerung nagte an ihr, etwas über Manieren, und sie war unangenehm. Jemand hatte sie eine Schnüfflerin genannt, obwohl alle dabei gelacht hatten. Die Stimme in ihrem Kopf war die ihres Vaters, wenngleich sein Tonfall freundlicher war, als sie ihn aus späterer Zeit in Erinnerung hatte.

»Nicht ›eine Art‹, sondern eine sehr fähige Telepathin, Kind.« »Dann muß ich diese Fähigkeit verloren haben, als ich älter wurde, denn jetzt habe ich sie mit Sicherheit nicht mehr!« Aber Margaret glaubte selbst nicht so recht, was sie sagte. Es würde auf jeden Fall einige merkwürdige Vorkommnisse erklären. Sie wollte es allerdings nicht glauben. Es ließ sie an den silbernen Mann und an die rothaarige Frau denken – und an Tod.

Mit einer Plötzlichkeit, die ihr beinahe Übelkeit verursachte, wußte Margaret, daß sie vor langer Zeit gespürt hatte, daß jemand starb. Es war schrecklich, und sie wünschte, sie könnte vor dieser unerwünschten Erinnerung davonlaufen. Etwas so Fürchterliches war geschehen, daß sie es aus ihrem Bewußtsein weggesperrt hatte, für immer, wie sie glaubte. Sie klammerte sich, von Entsetzen gepackt, am Tisch fest und wollte aufstehen.

Doch eine starke, sechsfingerige Hand schloß sich um ihren Unterarm. »Schon gut. Du mußt dich vor nichts fürchten.«

Margaret spürte die Anwesenheit einer fremden Person in sich, beruhigend, tröstend. Sie schaute in die goldgesprenkelten Augen und biß sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. »Hinaus!« zischte sie, wütend und zugleich hilflos. Das Gefühl, daß jemand in ihr war, verschwand, und zurück blieb die altbekannte schreckliche Angst.

»Komm, Marguerida, laß uns zumindest aus dem Lokal verschwinden, damit wir reden können.« Rafe warf ein paar Münzen auf den Tisch und stand auf.

Sie erhob sich zitternd und folgte Captain Scott aus dem Speisehaus, kaum die Blicke bemerkend, die ihr Terraner wie Einheimische gleichermaßen zuwarfen. Benommen stand sie auf dem Kopfsteinpflaster. Die Nachmittagssonne warf ihren blutigen Mantel über die Straße, und alles war vertraut und gespenstisch. Die Vergangenheit, von der sie nichts wissen wollte, schien nur einen Wimpernschlag entfernt.

Margaret wünschte, sie könnte einfach davongehen, diesen Mann mitten auf der Straße stehenlassen und zu Meister Everard zurückkehren. Sie hätte gern ein langes, heißes Bad genommen, ihr bequemes Nachthemd angezogen und sich ins Bett gelegt. Auf keinen Fall wollte sie sich mit noch mehr Rätseln oder Räten abgeben. Zu ihrer Empörung schien ihr Mund einen völlig anderen Plan zu haben, denn sie hörte sich fragen: »Was ist die Domäne Alton?« Die Worte waren ihr entschlüpft, bevor sie ihrer Zensur zum Opfer fallen konnten.

Captain Scott sah sie an und seufzte kurz. »Die bedeutenden Familien Darkovers, die Comyn, besitzen alle umfangreiche, ererbte Ländereien, die man Domänen nennt. Seit Lew fort ist, wohnt niemand mehr von der direkten Linie auf Armida, der Festung der Altons. Dom Gabriel Lanart Alton stammt aus einer jüngeren Linie, und er ist ... sei’s drum. Wenn Lew tot wäre, würde die Domäne dir gehören. Auf jeden Fall bist du die Erbin von Alton, und in seiner Abwesenheit mußt du für ihn sprechen.« Er schien sich seiner Sache jetzt sehr sicher zu sein.

»Halt! Das geht mir zu schnell. Ich weiß, daß Darkover feudale Gesellschaftsstrukturen hat – soviel zumindest hat mir die Lehrdiskette verraten.« Sie runzelte die Stirn. »Ich war auf einem knappen Dutzend Planeten, aber keiner war so miserabel dokumentiert! Es ist eine Schande! Die einzige Diskette, die ich in die Finger bekam, war so gut wie wertlos. Sie enthielt ein bißchen Geographie, ein Minimum an Geschichte und ein paar Sitten und Gebräuche. Und jetzt teilen Sie mir mit, daß meine Familie mächtig ist und daß mir ein größerer Brocken von dem Planeten gehört. Richtig?«

»Das war eine exakte, wenn auch nicht vollständige Zusammenfassung.«

»Das ist lächerlich! Das hätte mir mein Vater doch gesagt.«

»Lew gab seinen Anspruch auf die Domäne auf, als er Senator wurde.«

»Ach so. Dann gehört mir dieser Grundbesitz also nicht. Da bin ich aber erleichtert! Wenn ich etwas nicht am Hals haben möchte, dann ...«

»Marguerida – Lew hat nicht deinen Anspruch auf die Domäne Alton aufgegeben, sondern nur seinen eigenen. Nach darkovanischem Recht darf niemand die Ansprüche eines minderjährigen Kindes abtreten – das wäre nicht recht.«

»Nicht recht? Wenn Sie mich fragen, ist der gesamte Planet aus seiner geistigen Achse gekippt, um ungefähr dreißig Grad.« Es war ihr klar, daß sie sich störrisch benahm und daß sie Fragen nach dem Rat und anderen quälenden Dingen aus dem Weg ging.

Rafe lachte, ein gutes, gesundes Lachen, sehr menschlich und sehr normal. »Das behaupten die Terraner seit Jahren von Darkover.«

»Na ja, ich bin eine Bürgerin des Imperiums und damit eine Art Pseudoterranerin, und ich will mit eurer hiesigen Politik nichts zu tun haben. Ich bin hierhergekommen, um Volksmusik zu studieren, und genau das werde ich tun!«

»Das kompliziert die Dinge ein bißchen, aber das läßt sich bestimmt ausbügeln – deine Bürgerschaft, meine ich.«

Sie funkelte ihn böse an. »Ausbügeln? Ich habe gar nicht bemerkt, daß sie zerknittert ist. Und was geht es Sie an – Sie sind Terraner, oder nicht?«

»Es geht mich etwas an, weil Darkover mein Zuhause ist und weil ich es liebe. Ja, ich arbeite für den terranischen Dienst, aber mein Herz ist hier. Und deine Anwesenheit ist wichtig. Es gehen Dinge vor sich, die nicht einmal ich ganz verstehe. Ich weiß aber so viel, daß die große Gefahr besteht, daß die Expansionisten den Planeten schlucken, wenn die Darkovaner nichts unternehmen. Wenn wir unseren geschützten Status verlieren ... ich darf gar nicht daran denken. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum dein Vater dich in solcher Unwissenheit gelassen hat, was dein Erbe betrifft.«

Wenigstens wußte sie über die Expansionisten Bescheid, was in diesem Meer der Verwirrung schon tröstlich war. Als sie und Ivor sich gerade auf ihre Abreise vorbereitet hatten, hörte sie, daß die Expansionisten zum ersten Mal seit über zwei Jahrzehnten eine Mehrheit in der Regierung der Föderation hatten. Die Nachrichten waren voller Spekulationen darüber gewesen, was das bedeuten konnte, aber sie hatte sich nicht allzuviel damit beschäftigt.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Rafes letzter Frage zu, denn sie wußte, es beunruhigte ihn genauso wie sie. »Ich glaube, es war zu schmerzlich für ihn, sich zu erinnern, von seiner Vergangenheit zu sprechen. Der Mann, den Sie kannten, Captain Scott, ist nicht der, den ich kenne. Wer Lew Alton auch war, als er noch hier lebte, er ist es nicht mehr. Ich glaube, am Abend bevor ich zur Universität aufbrach, wollte er mir noch etwas sagen, aber wir hatten nicht die Angewohnheit, uns auszusprechen, und es kam nicht zustande. Mein Vater ist heute ein zorniger, verbitterter Mann, der ein bißchen zuviel trinkt und seine Absichten für sich behält. Und da er mich nicht über meine Geschichte unterrichtet hat, nahm ich an, daß es einen guten Grund dafür gibt. Er ist kein sehr leidenschaftlicher Mensch.«

»Dann hat er sich aber wirklich verändert. Jedenfalls kam er mir sehr leidenschaftlich vor. Er war meiner Schwester ein liebender Gatte – ich habe nie jemanden gesehen, der so verliebt war. Ich kann nicht glauben, daß du fast nichts mehr weißt. Erinnerst du dich nicht an Marjorie – du siehst ihr ziemlich ähnlich – oder an das Haus der Altons hier in Thendara oder an irgendwas? Ich war mir sicher ...«

»Es geht Sie nichts an, woran ich mich erinnere oder nicht.« Sehe ich aus wie Marjorie oder Thyra? Und wenn der Alte sie so innig liebte, wieso hat er dann mit ihrer Schwester geschlafen? Sie verstand es nicht. Sie verstand gar nichts – nicht Ivors Tod, nicht die Unterwürfigkeit der Leute ihr gegenüber oder warum sie plötzlich in einer Angelegenheit, die ihren Geburtsplaneten betraf, so wichtig sein sollte. Warum mußte sie ausgerechnet in diesem Lokal essen?

Einmal mehr hatte sie den Eindruck, daß er ihre Gedanken hören konnte, denn er sagte: »Dann weißt du also immerhin soviel. Du siehst aus wie du, aber du hast eine starke Familienähnlichkeit zu den Scott-Schwestern – zu beiden. Wenn man uns zusammen in darkovanischer Kleidung sähe, könnte man uns wohl für Vater und Tochter halten.«

»Haben Sie mich deshalb erkannt?«

»Als erstes ist mir das rote Haar der Comyn aufgefallen und dann der Schwung der Nase, die Gesichtsknochen. Ich habe ein paar Minuten gebraucht, bis ich begriffen habe, daß du meine Nichte sein mußt – eine Alton. Und da Lew nur eine Tochter hatte, ging ich davon aus, daß du auch eine Scott bist.«

»Sie erzählen mir nicht alles, hab ich recht?« Sie konnte spüren, daß er etwas zurückhielt.

»Nur ein Narr leert seinen ganzen Sack auf den Tisch.«

Margaret war so verärgert über seine Worte, daß sie sich auf den Randstein setzte und sich weigerte, noch einen Schritt zu gehen. »Und nur ein Narr versucht ein Pferd in den Sack zurückzustopfen, wenn es schon halb draußen ist.«

Er setzte sich neben sie auf den Randstein und legte die Arme um die Knie. Eine Minute lang sagte er nichts, und als er sprach, lag ein Mitgefühl in seiner Stimme, das sie tief berührte. »Was hat dich so argwöhnisch gemacht, Marguerida?« »Geheimnisse. Die Wände des Waisenhauses und etwas Schreckliches, an das ich mich nicht erinnere.« Die Worte waren ihr entschlüpft, bevor ihr klar war, daß sie mehr gesagt hatte, als sie wollte. Sie saßen Schulter an Schulter, und sie bemerkte zum ersten Mal, daß er ein kleiner Mann war, fast zehn Zentimeter kleiner als sie. Klein und ernst und wahrscheinlich vertrauenswürdig. Der Wind sprang um, zerzauste sein Haar und wehte ihr seinen Geruch in die Nase. Er roch nach terranischen Lederhosen, aber darüber hinaus roch er nach einheimischer Seife und den Gewürzen von darkovanischem Essen. Captain Scott roch richtig, nicht fremd und steril wie die meisten Terraner.

»Wenn du mit mir zur Comyn-Burg kommst, dann glaube ich, werden wir ein paar Antworten auf deine Fragen finden – und ein paar von diesen Geheimnissen enträtseln.«

»Lesen Sie meine Gedanken?« Das Vertrauen, das sich langsam entwickelt hatte, verschwand wieder.

»Nicht richtig. Ich bin kein sehr fähiger Telepath; mein Laran reicht gerade aus, um die Gedanken an der Oberfläche aufzuschnappen, zu mehr nicht. Und meine bescheidenen Fähigkeiten liegen im Grunde mehr auf dem Gebiet des Vorhersehens. Ich meine, für gewöhnlich suche ich dieses spezielle Speisehaus nicht auf, aber heute fühlte ich mich regelrecht dazu getrieben, dort zu essen.«

»Laran? Was ist das?« Margaret hatte fast das Gefühl, als würde sie das Wort kennen und als wäre es sehr wichtig, aber sie kam nicht darauf, wieso. Wie konnte er nur davon reden, daß er ein Telepath war, als wäre es das Normalste auf der Welt, wo es doch unmöglich war?

Sie spürte, wie sich etwas in ihr regte, dunkel und erschreckend. Sie kannte es gut, denn es war immer dagewesen, ein schreckenerregendes Gesicht, das ihr aus Spiegeln entgegenstarrte und ihr befahl, sich von allen Leuten fernzuhalten. Jetzt wollte es, daß sie diesen Mann nicht beachtete, nicht darauf hörte, was er sagte. Es schien ihr Hirn zu umklammern, und je fester es zudrückte, desto mehr wollte sich widersetzen. Und die Furcht, die sie gespürt hatte, seit sie wußte, daß sie nach Darkover kommen würde, stieg in ihr hoch und machte ihr das Atmen schwer.

»Komm mit mir in die Comyn-Burg, und ich verspreche ...«

»Warum können Sie es mir nicht gleich sagen?«

»Weil das nichts ist, was man auf einer öffentlichen Straße bespricht.« Er sah besorgt aus, und auch wenn er kleiner war als sie, nahm sie an, daß er sie zwingen konnte, ihn zu begleiten, wenn er wollte.

Margaret fühlte, daß sie an einer Art Kreuzung stand. Wenn sie in die eine Richtung ging, würden die Ereignisse in einer bestimmten Weise weitergehen, und wenn sie den anderen Weg nahm, würde alles ganz anders sein. Es war fast, als sähe sie verschiedene Zukünfte vor sich liegen, alle dunkel und undeutlich. Sie mußte sich entscheiden, und sie war so müde! Wenn sie Captain Scott stehenließ, würde etwas Schlimmes passieren. Das wußte sie genau.

Der innere Kampf schien kein Ende zu nehmen, obwohl sie wußte, daß er nur einige Augenblicke dauerte. Jene kalte Macht, die ihr Angst vor Spiegeln einflößte, versuchte, sie von Scott wegzubringen, und widerspenstig, wie sie war, entschied sie sich zur Opposition gegen diese Macht. Und kaum hatte sie diese Entscheidung getroffen, lastete das Angstgefühl nicht mehr so schwer auf ihr, und die Zukunft erschien ihr nicht mehr so schrecklich wie noch einen Augenblick zuvor.

Sie straffte energisch die Schultern. »Nun gut, ich komme mit Ihnen – aber ich werde mich nicht in eine feudale Großgrundbesitzerin verwandeln, egal, was ich herausfinde.«

Captain Scott lächelte nur.

Asharas Rückkehr

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