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Der Pythagoräer

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Sie liefen einige Stunden im Morgengrauen durch den Finsterwald. Hier und da huschten schwarze Schatten mit leuchtenden Augen an ihnen vorbei.

Je näher eines dieser Wesen an Franz herankam, umso kälter wurde ihm. Doch allmählich schien er sich daran zu gewöhnen. Sie unternahmen nichts, rannten einfach nur umher und gaben verstörende Geräusche von sich. Entweder war es ihnen schon zu hell oder Franz musste irgendetwas an sich haben, das sie davon abhielt, ihm irgendetwas anzutun, schlussfolgerte er. Doch dann zuckten die Bäume und begannen zu kriseln. Als ob Franz durch eine Filmwelt schreiten und die Filmrolle verenden würde. Alles wurde schwarz und es dröhnte ein helles Pfeifen in seinen Ohren.

Im nächsten Moment kamen Franz und Iocus an einen Ort, der noch suspekter schien. Sie befanden sich inmitten eines unendlich weitläufigen Raumes. Nicht weit von ihnen sahen sie ein Zimmer, das der Länge nach aufgeschnitten war. Darin befand sich eine große Tafel, wie man sie aus jeder Schule kennt. Eine riesige Seifenblase umschloss den Raum.

Bunte Dreiecke und diverse andere geometrische Formen und Körper flogen durch die Luft. Große, kleine. Mal nur zweidimensional, manchmal auch dreidimensional. Stellenweise waren sie mit Nummern oder Formeln versehen. Der Boden war in einer Sprache beschrieben, die Franz nicht verstehen konnte.

Vor der Tafel bemerkte er einen kleinen Mann, der an seinem vollgestellten Schreibtisch lehnte. Fast noch ein Junge. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und rieb sich den Hinterkopf.

Langsam gingen die beiden auf den Raum zu. Vor der Seifenblase stoppte Franz und berührte sie kurz mit seiner Hand. Sie hatte eine eigenartige Konsistenz. Nicht fest, aber auch nicht flüssig. Es war aber auch nicht wabbelig wie Pudding. Kalt, doch dahinter wurde es warm.

Franz gab sich einen Ruck, schloss seine Augen und sprang hindurch.

Als er seine Augen wieder öffnete, hatte sich alles wieder vollständig verändert. Die Tafel schien in beide Richtungen kein Ende zu nehmen. Und auch nach oben hin reichte sie bis in die Wolken. Überall war sie mit winzigen Zahlen und Formeln beschrieben. Leitern in den unterschiedlichsten Größen hatte man an sie gelehnt. Der Mann rieb sich weiter seinen Kopf und – ja, wirklich – es kamen kleine Rauchwölkchen aus seinen Ohren. Franz ging um den Schreibtisch herum und sah sich den Mann an.

Er war recht dünn, hatte wild zerzauste lange Haare. Einen langen weißen Bart trug er, der ihm zu allen Seiten abstand. Franz hätte schwören können, dass er von hinten noch jung ausgesehen hatte. Drei Brillen trug er übereinander, welche sich schwer in seine Nase gruben. Eine andere hielt er in der Hand und zwei weitere ruhten auf seinem Kopf. Er hatte nicht viel an. Nur ein langes, cremeweißes Hemd.

Iocus setzte sich hinter den Mann auf den Schreibtisch und wollte gerade beginnen, ihn zu ärgern. Doch Franz vereitelte seinen Plan und durchschnitt die Stille.

»Guten Tag!«

Der Unbekannte weitete seine Augen, schob die zwei Brillen von seinem Kopf und setzte sie sich auf die Nase. Dann drehte er sich zu ihm um. Seine Augen waren nur noch schwer und tanzend zu erahnen hinter den fünf Brillen.

»A. Wa u hi?«

Franz war irritiert. Was hatte er gesagt?

»Guten Tag. Ich bin Franz. Oder wie ihr jetzt sagen würdet, Znarf. Wer bitte seid Ihr?«

Der Mann stöhnte genervt. »A. I sa do. I wß do w u is!«

»Es tut mir leid. Ich kann Sie nur ganz schlecht verstehen.«

»Ate umeude. Ix auhn u. Mis. As mis!«

Er warf die Brille aus der Hand, schritt zur Tafel und stieg eilig eine Leiter hinauf. Dann sprang er von da aus hinüber zu einer anderen. Kurz machte er halt, wischte etwas mit seinem Hemd an der Tafel weg. Daraufhin sprang er eine Leiter zurück, stieg diese noch höher hinauf, sprang weiter zur nächsten, rüber zu einer anderen und ließ sich schließlich bis fast ganz unten hinabgleiten. Dort schrieb er etwas an die Tafel, fiel auf den Boden, rannte und rannte, bis Franz ihn nicht mehr sehen konnte. Franz wollte schon hinterher, hörte jedoch, wie der Mann hinter ihm wieder angebraust kam. Franz drehte sich um und sah, wie der Verrückte erneut etwas an die Tafel schrieb, ein paar Meter weiter Zahlen und Buchstaben wegwischte und direkt etwas Neues an ihrer statt kritzelte.

Jetzt kam er verschwitzt und schnaufend zurück.

Als er wieder da war, setzte er sich im Schneidersitz auf seinen Schreibtisch und sagte: »I of. I is e. I of. Nx Löug. I br Löug.«

Nun mischte sich Iocus ein: »Znarf, du musst ihm helfen! Er ist nicht mehr bei Sinnen. Du musst mit ihm die Lösung finden. Für seine Formel.«

Franz sah sich die Tafel an und ihm wurde flau. Wie sollte man bei dieser Rechnung eine Lösung finden? Gab es die überhaupt? Waren es viele Rechnungen oder gar nur eine? Wie viele Jahre arbeitete dieser Mann schon daran und wie sollte Franz sich auf die Schnelle hineindenken?

»Ich kann es nicht. Ich seh hier nicht durch!«

»Denk nach, Znarf! Du musst wissen, wie es geht.«

»Ich kann ihn ja noch nicht einmal fragen. Ich kann nicht mit ihm reden. Kein Wort verstehe ich. Dies ist nicht lösbar. Das ist nicht fair.«

»Überleg dir was! Irgendwas muss es doch geben.«

Auch Franz rieb sich jetzt den Kopf und sah sich um. Dann trat er an den Schreibtisch. Er sah, dass darauf verkehrt herum ein Namensschild stand, und drehte es um.

Dr. Intelligentia, Paolo (Pythagoräer)

Franz wühlte tief in seinem Wissen. Es hemmte ihn der Gedanke, dass die Aufgabe keine Lösung zu haben schien. Geistig gelähmt war er von seiner Angst, nicht zu begreifen, nicht verstehen zu können. Er merkte, wie sich kein einziges Zahnrad in ihm mehr drehte. Da lag ein Stock quer in seinem Kopfe.

»Ich muss hier raus«, stieß er hervor und sprang durch die Blase. Draußen sah er wieder die vielen farbigen, geometrischen Formen und die merkwürdige Schrift. Er ging hinter das Zimmer und entdeckte, dass der große Raum hier in einem Punkt endete. Und dahinter, es war fast wie ein Loch, verbarg sich ein idyllischer Ort. Ein klarer Bach in einem blühenden Wald. Er sah ein Reh und Vögel. Eilig rannte Franz zurück in den kleinen Raum und packte den Mann am Arm. Dieser schrie und fuchtelte wild um sich, aber dennoch kam er mit.

Als sie gemeinsam den Punkt erreichten, schubste Franz ihn in das Loch und sprang gleich mit hinein.

Jetzt saßen sie auf einem riesigen Baumstumpf direkt am Bach. Das Reh blickte sie an und fraß dann weiter. Die Vögel sangen, Bienen schwirrten umher. Beide genossen die Ruhe und den Klang der Natur. Franz spürte förmlich, wie der Mann zur Ruhe kam. Als sie eine ganze Weile so gesessen hatten, fing der Mann an zu reden.

»Oh, das ist so schön. Wie lange war ich nicht mehr hier? Hab Zeit und Raum komplett vergessen.«

»Ich kann dich ja doch verstehen. Die Ruhe tut dir gut, oder?«

»Ja. Die Sonne. Kein Lärm. Die Tiere. Die Luft.« Er atmete lang und laut ein. »Mein Kopf arbeitet wieder ein klein wenig langsamer. So lange Zeit stand er nicht still. Versucht doch, die Lösung für dein Leben zu finden.«

»Es tut mir sehr leid, dass ich dir so selten deine Ruhe gab und du immerzu so schwer am Rechnen warst.«

»Es ist schon gut. Das geht ganz von allein. Egal, was du auch machst, ich wurde immer wilder, immer besessener. Davon, alles richtig wohl zu machen.«

»Woran arbeitest du genau?«

Der Mann überlegte eine Weile, ehe er antwortete. Vorher setzte er sich noch eine kleine Raupe auf die Hand, die langsam seinen Arm hochwanderte.

»Ach, weißt du, das ist sehr kompliziert. Das Leben, dein Leben. Ich als dein Verstand versuche, dein Leben in eine Formel zu bekommen. Sodass du eine klare Lösung hast. Doch zu viele Klammern, zu viele Probleme entstehen. Sodass ich nicht mehr weiß, wie viele Formeln es nun schon sind.«

Sie standen auf und gingen langsam ein Stück am Fluss entlang. Sie unterhielten sich über den Aufbau von mathematischen Formeln und darüber, wie man sie strukturierte, wie man sich einige gut einprägen und sich neue aus alten, schon bekannten, herleiten könne.

Der Mann war müde. Das sah Franz ihm an. Die Rauchwolken stiegen unablässig aus seinen Ohren und Franz wusste, dass er niemals aufhörte zu denken, zu zermartern.

»Weißt du, wo ich herkomme und lebe, befindet sich nicht weit von mir ein Fluss. Er durchwandert wundervoll und mit so viel Würde eine alte, barocke Stadt. Wie eine Schlange windet er sich in unzähligen Schleifen hindurch. Überall spielt sich das Leben der Natur, der Ruhe und dennoch auch der Moderne ab. Ich gehe gern dorthin, verweile in Ruhe und verträumt an verschiedenen Orten des Wassers und seines Ufers. Oft fällt es mir schwer, richtig zu genießen, genau hinzuhören, was das Wasser und seine Stille mir sagen möchten. Ich habe oft den Eindruck, es möchte einen erwecken. Wachrütteln aus Zwängen und Krämpfen des Alltags.«

Dr. Intelligentia schwieg, stimmte aber mit einem Nicken zu.

Franz fuhr fort: »Auch da, wo ich als kleiner Junge gelebt habe, war ich umgeben von der Stille und Liebe der Natur. Nicht weit von unserem Haus gab es einen kleinen Bach. Dort habe ich viel Zeit verbracht. In der Nähe stand eine alte und verfallene Mühle, die für kaum noch jemanden interessant erschien. Leider konnte man sie nicht mehr betreten, das Wetter hatte ihr schon zu sehr zugesetzt. Aber ich bin gern an diesem Ort gewesen. Auch da sah ich Rehe, wenn ich lang genug still und ruhig am Bach gesessen und gewartet habe. Kein Geräusch von mechanischem oder industriellem Leben vernahm man dort. Es plätscherte langsam und beruhigend, aber immer im Wandel, das kleine, verschlafene Bächlein. Lange Zeit habe ich diesen Platz oft besucht, habe erste Lieder geschrieben, sie der Natur und den versteckten Tieren vorgesungen.«

»Aber irgendwann war ich alt genug«, sagte der Verstand und blickte Franz an. »Bereit zu wirken und zu denken. Und das Leben stellte viele Fragen und Anforderungen an dich.«

»Das ist wohl wahr. Und umso schwerer erscheint es mir, vollen Nutzen aus solch wunderbaren Plätzen zu ziehen. Immer schwerer wird es, die Zeit für solche Orte zu finden.« Franz hing Gedanken und Erinnerungen nach, die er mit den Orten des Wassers verband. So viel Wunderbares hatte er dort erlebt. Hatte mit Freunden bei unzähligen Gesprächen an Bächen verweilt. So viele Dinge, die sich tief in sein Herz eingebrannt hatten, ihn bis heute formten, standen in Verbindung zum Wasser. Manch eine verletzende Begegnung beschwor der Duft des Flusses wieder herauf. Dennoch übte die Bewegung und Natürlichkeit des Wassers einen tiefen Reiz der Ruhe und Verbundenheit auf ihn aus.

Franz blickte umher und sah, wie zwei Käfer miteinander kämpften, bis einer auf dem Rücken landete und dann von Ameisen gefressen wurde. Der Anblick gefiel ihm nicht und so schaute er in den Bach. Dort sah er, wie ein Reiher kam, sich einen Frosch schnappte und damit im Maul davonflog. Kurz darauf erblickte er, wie ein Fisch aus dem Wasser sprang und eine Mücke fraß. Und ein Vogel pickte an einem Baum Maden aus der Rinde.

Mit einem Mal hatte Franz eine Idee.

Er gab dem Pythagoräer zu verstehen, dass sie wieder zurücksollten. So gingen sie wieder zu dem kleinen Loch, stiegen eine dünne Leiter hinauf und kletterten zurück in den großen Raum. Sie liefen um die Blase herum und erreichten wieder das Zimmer mit der großen Tafel.

»Was fehlt dir genau, lieber Dr.?«

»Wenn ich das nur wüsste!«

Franz grinste ihn an. »Genau das ist es: eine Unbekannte.«

Der Verstand fasste sich an den Kopf, rückte sich alle seine Brillen zurecht und begann ein weiteres Mal, wie wild umherzurennen und zu klettern. Er wurde immer schneller, bis man nicht mehr sah, wo er sich eigentlich gerade befand. Man hörte es wischen und kritzeln. Überall rieselte es Kreide und tropfte es Wasser.

Nach einer Weile stand er verschwitzt und schwer atmend neben Franz und setzte sich auf den Boden. Er lehnte sich an den Schreibtisch und schlief ein.

Franz sah sich nun die Tafel an. Formeln über Formeln. Doch überall war nun ein neues Zeichen aufgetaucht. Es war ein großes X. Überall, wo der Verstand nicht weitergekommen war, hatte er ein X eingefügt. Weiterhin stand keine Lösung am Ende der Gleichungen. Doch Franz merkte, dass das Wissen um diese Unbekannte und dass man sie nicht kennen musste, ihn beruhigte.

Er setzte sich daneben und dachte ernsthaft nach. Alte Erinnerungen reanimierte er in sich. Franz spürte, wie verstaubte Schubladen im Innersten sich öffneten. Es stiebte in seinem Kopf, roch nach Moder und war dunkel. Doch das große X wirkte wie eine Lampe, mit der er nun durch die Reihen in seinem Bewusstsein schritt. Er durchleuchtete alles, was sich bisher in seinem Leben abgespielt hatte. Entscheidungen, Gefühle, Gedanken, Pläne, Ziele. Alles, was er irgendwie noch aus sich hervorholen konnte, betrachtete er in Ruhe und in Frieden. Und er erlebte zum ersten Mal, wie er fast wertungslos an die Dinge heranging. Er sah sie an, wendete sie und durchdrang ihre ganze Existenz. Ihm war egal, ob es ihm gefiel, ob er traurig war oder glücklich. Er sah die Zeichen und Ereignisse seines Lebens jetzt ganz anders. Er erspähte die Unbekannte, die er niemals hatte definieren können. Erst im Nachhinein konnte man ihr einen Wert geben. Genau das machte ihn glücklich. Franz hatte versucht, mit allen Unbekannten umzugehen. Hatte sie nie verstoßen. Er wollte sie einfügen in seine Formel. Doch nicht jede Unbekannte, nicht jedes X oder Y befand sich an der passenden und richtigen Stelle. Und er wusste, es würde auch weiterhin so gehen. Es gab keine Formel für sein Leben. Nicht für das Leben. Das Leben ist Formel und Lösung zugleich. Ohne berechenbares Ergebnis. Erst der Tod, wenn er ihn ereilen würde, war das Ergebnis. Er war die Zahl hinter dem Gleichheitszeichen, die alle Unbekannten mit einbezog. Ganz, ganz, ganz am Ende.

Franz stand auf und drehte sich um. Er ließ den Blick über den Schreibtisch schweifen und sah auf dessen Mitte einen Schlüssel liegen.

Er steckte ihn in seine Hose und nickte Iocus zu. Seite an Seite stiegen sie aus der Blase und gingen hinter den Raum. Sie sprangen ins Loch und liefen lange Zeit am Bachlauf entlang, beobachteten die Natur, genossen die Ruhe und lieblich frische Luft. Währenddessen hing Franz alten Erlebnissen hinterher und stellte fest, dass er noch lange nicht wertfrei war.

Franz und das Schwarz

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