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Flavius

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Franz und Iocus sahen noch kurz zu, wie der See immer mehr an Größe zunahm und tranken einige beruhigende Schlucke daraus. Dann marschierten sie weiter. Sie durchwanderten einige Zeit die karge, traurige Wüste – den alten Meeresgrund seiner Hoffnung.

Bald wird mein Meer der Hoffnung so weit ausgedehnt sein, wie es einst schon einmal war, dachte Franz.

Nochmals begann die Szenerie heftig zu zucken. Es klackte flüchtig, man registrierte ein Rauschen und kurz darauf befanden sich Franz und Iocus zurück im Finsterwald. Nachdem die beiden einige Stunden ohne nennenswerte Pausen vorangeschritten waren, lichtete sich der Wald und sie standen vor den Toren einer großen Stadt. Sie war umgeben von hohen, roten Mauern. Türme mit Wachleuten standen im Abstand weniger Meter. Die Stadt lag umschlossen vom Finsterwald. Als Franz abgewogen hatte, ob sie um die Stadt herumlaufen sollten oder geradewegs hindurch, entschied er sich für die zweite Möglichkeit und stapfte los. Über den Eingangstoren stand in großen Buchstaben: Stadt der Gedanken, genießen Sie Ihren Aufenthalt!

Die Häuser wirkten allesamt alt und ungepflegt. Viele der Fenster waren kaputt oder mit Pappe und Tüten bedeckt. Doch große Beachtung schenkte Franz diesem Umstand nicht. Vielmehr verwunderte es ihn, dass ihm niemand über den Weg lief. Keine Seele erblickte er, während er vorsichtig durch die Gassen schritt. Es dauerte nicht lang, da erreichten Franz und Iocus das Zentrum der Stadt. Die Häuser links und rechts verschwanden und eine freie Fläche erstreckte sich vor ihnen. Ein gigantischer Marktplatz, in dessen Mitte sich eine Traube von Menschen gebildet hatte. Das Geschwafel und Geschrei der Menge drang an Franz’ Ohren. Doch die Menschensammlung stand nicht still. Ganz langsam schob sie sich gen Westen. Iocus tippelte los, schwang sich dann in die Luft und flog in Richtung der Massen. Franz wackelte hinterher. Als er ankam, sah er, dass die Menschen sich um etwas geschart hatten. Ein Wagen schien es wohl zu sein. Franz achtete nicht darauf, wie die Leute aussahen. Er presste sich zwischen ihnen hindurch und wollte sehen, was den Lärm hier zu befeuern schien. Nach einigen Remplern und Stößen in seinen Bauch erreichte er das Innere des Kreises.

Ein alter, kleiner Mann zog einen Karren, der aussah wie ein kleines Haus. Viel zu klein, als dass irgendwer drin hätte wohnen können. Doch ihm schien es zu gefallen. Franz sah, wie sehr er an diesem Wagen hing und wie schwer es für ihn war, ihn zu bewegen.

Franz trat aus der Masse in die Mitte. Abrupt herrschte Stille und die Menge stoppte. Auch der alte Mann hielt inne. Jeder einzelne Blick der Leute brannte sich in Franz’ Seele und schmerzte ihn im Herzen. Er wollte weg. Eine tiefe Beklemmung machte sich breit. Doch es wurde noch schlimmer, als der Erste auf ihn zeigte. Dann der Nächste und bald schon alle.

Alsbald schrie einer: »Was willst du denn hier?« Eine ekelhafte Stimme. Bei jedem Wort hörte man es schmatzen, als ob derjenige gerade noch beim Essen wäre.

Franz drehte sich in die Richtung, aus der er die Stimme vermutete. Und wirklich, ein fetter, kleiner Mann hielt in der einen Hand ein Hühnerbein, biss hinein und sprach dann weiter.

»Komm, mach dich weg! Hast hier nix zu suchen, dummer Znarf!« Seine Augen wirkten riesenhaft, seine Kleidung war verschmiert mit Essensresten.

»Nun lass ihn doch! Vielleicht sucht er nach dir. Oder nach einem anderen hier, der ihn belust’gen kann«, sagte der alte Mann, während er mit gläsernem Blick zu Boden stierte.

Franz war verunsichert. Seine Gedanken kreisten und ihm wurde ganz bange. Alle Leute in dieser Stadt waren hässlich wie die Fäulnis. Die meisten waren fett. Durch keine Tür würden sie passen. Ungepflegt, verwahrlost. Ein übler Gestank nach Schweiß, altem Tabak und vergammeltem Essen lag in der Luft. Franz wurde immer angewiderter. Was hatte er nur aus seinen Gedanken werden lassen? Sollten dies wirklich seine sein? Krankhaft, dumm und abartig? Den Worten am Eingang der Stadt zufolge musste es so sein.

Manche hatten einen Kopf, der größer war als ihr Körper. Andere besaßen einen Hals, der sich dünn und lang gestaltete wie ihre Beine. Ein oder zwei konnte Franz entdecken, die zwei Hälse und auch Köpfe hatten. Manche bestanden nur aus einem Bauch, hatten keine Ohren, keine Nase, nur den Mund. Hier und da sah Franz auch Nackte, die dies überhaupt nicht zu stören schien. Und die, die bekleidet waren, erschienen allesamt dreckig und fettig. Über Körperpflege schien sich hier niemand Gedanken zu machen, geschweige denn über Ordnung und Anstand.

Es trat eine Dame hervor, zumindest hatte sie sich geschminkt wie eine Dame. Sie hatte Beine bis zur Brust, ab da war fast schon Schluss. Ein Miniatur-Oberkörper, kein Hals, ein runder, kleiner Kopf und die Arme hingen schlapp bis auf den Boden. Halb schrie sie, als sie sprach, wurde aber kurzerhand immer leiser, um urplötzlich in diesem Stil von vorn zu beginnen.

»NA, du willst … DICH WOhl mal … WIEDER EINlullen lassen!«

»O nein, ich weiß nicht recht. Ich bin mir noch nicht sicher, bin erschrocken. Was habe ich nur für kranke Gedanken?«

»Bist du von Sinnen? Krank? Frei von Schuld und Rechenschaft! Kannst tun und lassen, was du willst hier. Genieß es! Wir sind nicht krank. Du bist wohl gefangen in einem Reinheitsfimmel!«, erwiderte ein großer Mann mit zwei Köpfen im Smoking. Der eine klein und ohne Hals, der andere auf einem langen Hals mit einem kaputten Zylinder obenauf.

»Nichts da! Ihr scheint ohne Regeln, stinkt und gehört gewaschen. Jeder scheint sich hier selbst der Nächste. Niemand achtet auf den anderen. Eure Häuser fallen ein und dennoch wächst die Stadt. Und was schreit ihr hier so auf den armen Manne ein? Seht ihr nicht, wie schwer er zieht? Mir tut er leid. Er scheint gar nicht bei Sinnen. Ist abwesend, wie ich seh’. Lasst ihn doch dahinziehen, wo es ihm beliebt!«

Franz drehte sich zu dem alten Mann und blickte ihn traurig an. Der Alte stierte immer noch auf den Boden und trat nervös von einem Bein aufs nächste.

»Diesen alten Quacksalber? Flavius! Der mit seinem Mist. Den braucht hier keiner mehr. Der soll gehen, soll sich verpissen!«, schrie einer von hinten.

»Jawohl.«

»Genau.«

»Jaja, so ist’s richtig«, stimmten viele mit ein.

»Ein wahres Wort hast du gesprochen«, schimpfte der mit seinem Hühnerbein.

Die Dame meldete sich theatralisch: »JA, Geh hin … IN DEN Finsterwald! MACH DIch weg … AUS unserer Stadt! WIR HABEN alles, WAS WIR brauchen. UND VERgiss nicht, DEINEN KREmpel und … DEIN HAUS anzuzünden!«

Franz erfasste eine tobende Wut. Sie drehte sich erst wie ein kleiner Windzug in seinem Magen. Dann, wie ein Sturm, nahm sie immer mehr Fahrt auf. Sie drehte sich und tobte in ihm, bis sie über seine Brust in seinen Hals und dann aus dem Mund geschossen kam. Er hielt sie nicht auf. Nein, heute ließ er ihr freien Lauf. Sie war berechtigt. Heute hatte sein Zorn seinen Platz verdient. Er schrie die Leute an und wirbelte dabei in alle Richtungen.

»Was habt ihr nur? Noch einen solchen Satz und ich zünd’ die ganze Stadt in Flammen! Macht den Weg frei! Haut ab! Macht euch in eure Häuser, ich will euch nicht mehr sehen!«

Nach einer knappen Viertelstunde hatte er sich beruhigt. Seine Stimme war verendet und der Letzte, der Dicke mit der Hühnerkeule, watschelte fluchend von dannen.

Franz schnappte nach Luft und stützte sich auf seine Knie.

Iocus flog auf seine Schulter.

»Das hast du aber gut gemacht. War es denn so schlimm?«

Franz brauchte eine Weile, ehe er antworten konnte.

»Ich fühl mich nicht gut, nein. Auch wenn sie dumm und ekelhaft sind und die Abfuhr verdient haben, so wie sie auf den alten Mann herniederredeten. Irgendwie kann ich es nicht leiden. Ich war mir selbst zu laut. Und bin nicht auch ich es selbst gewesen, der sie so verkommen hat werden lassen?«

»Ich verstehe. Doch ist wohl alles viel komplizierter und verzwickter. Sie sind solch stramme Diener des Schwarzen Mannes geworden, dass sanftes Reden nichts mehr bringt bei ihnen, selbst wenn es dir Kummer bereitet. Aber du hast den Weg dadurch frei gemacht. Der Alte darf nun ziehen.« Iocus gab ihm einen Klaps auf die Schulter und flog hinter ihm weg.

Franz drehte sich um. Der Alte war indessen weitergezogen. Franz holte ihn ein, nahm sich die Deichsel und half dem Mann beim Ziehen. Sie sprachen kein Wort miteinander. Zu müde war er, zu sehr hatte ihn die Wut erobert. Zu viel Kraft hatte sie ihn gekostet.

Ich hoffe, ich muss nie mehr so schreien und so aus mir fahren. Ich hasse Wut. Sie wird nie meine Freundin.

Den ganzen Weg über sann er weiter darüber nach, wie man es hätte besser machen können. Ruhiger? Sanfter? Mit guten Argumenten? Doch hätten sie ihn dann genauso schnell verstanden? So reagiert und den alten Mann in Frieden ziehen lassen? Oder wäre es endlos weiter hin und her gegangen? Zu viele Fragen, entschied Franz irgendwann, und so ließ er es sein. Er half dem alten Mann, der weiter in Richtung Stadtende zog.

Während sie liefen, kam hier und da eine Frau in Schürze und kippte eine übelriechende Flüssigkeit aus dem Fenster oder der Tür. Es war widerlich und Franz hatte das Gefühl, allmählich selbst diesen Gestank der verwahrlosten Stadt anzunehmen.

Er schätzte, dass es so um die Mittagszeit sein musste, als sie am Rand der Stadt ankamen. Dichter Nebel umschlang ihre Mauern. Sie umgab ein riesiges Feld aus totem Gras und altem Gemüse. Danach sah es jedenfalls aus. Um sich dessen sicher zu sein, konnte Franz nicht weit genug blicken. Schwach zeichnete sich im grauen Nebel eine kleine, schiefe Hütte ab, auf die sie geradewegs zuliefen. Der Weg endete und die letzten fünfzig Meter liefen sie über harte, hügelige Erde. Franz schaffte es kaum, am Karren zu ziehen, und er fragte sich, wie der alte Mann das so ohne Murren bewerkstelligte.

An der Hütte ließ Flavius die Deichsel des Wagens sachte auf den Boden gleiten und ging zur runden Eingangstür. Es gab keinen Zaun und es wirkte, als hätte diese Hütte keinen dazugehörigen Garten. Als stünde sie im Niemandsland.

»Komm!«, sagte der Alte mit zittriger, lieber Stimme, machte seine Tür auf und ging hinein.

Franz trat mit Iocus auf der Schulter durch die Tür und schloss sie hinter sich. Als er sich umdrehte, schnipste der Alte mit den Fingern. In diesem Moment entfachte ein Feuer im Kamin in der rechten Ecke. Davor standen zwei kleine Ohrensessel. Einer in Orange, der andere in Rosa. Sie waren alt und kaputt. Der Stoff aber aus feinstem Muster, das sich mit den Flammen je nach Blickwinkel zu verändern schien. Sie luden ihn ein, sich zu setzen und das Feuer zu genießen. War es im ersten Augenblick noch kalt gewesen, so war es mit dem Moment, in dem das Feuer entflammte, sofort wohlig warm im Raum geworden.

Der alte Mann kam aus der gegenüberliegenden Ecke mit zwei Tontöpfen und setzte sich in den rosafarbenen Ohrensessel. Mit einer Geste deutete er auf den anderen.

Franz setzte sich und erhielt den einen Topf. Erst zögerte er kurz, aber als er den Alten ruhig seine Suppe genießen sah, nahm auch er einen großen Löffel zu sich.

Seine Augen weiteten sich. Die Ohren brannten ihm und seine Kehle wurde herrlich warm und weich. Es roch nach Zimt und Orangen. Doch schmeckte es süß und saftig. Die Suppe machte satt und irgendwie auch glücklich. Niemals hatte er so etwas bisher gegessen. Als er fertig war, stellte er seinen Topf neben sich auf dem Boden ab.

»Vielen Dank. Es war ein wirklich wunderbares Mahl. Sehr, sehr lecker. Ich bin satt wie noch nie, aber fühl mich gar nicht voll. Danke, alter Mann.«

»Ach, nichts zu danken. Du warst so lieb zu mir. Das war lange niemand mehr.«

Dann wurden seine Augen milchig. Er schien abwesend zu sein, nicht mehr hier im Raum.

Franz wartete einige Momente, ehe er ihn fragte: »Wer bist du?«

Nach einer Weile fragte er ihn erneut, diesmal etwas lauter.

Der Alte schien wie aus seinem Tagtraum zu erwachen.

»Ich? Ach, du bist noch da? Entschuldige. Wie war die Frage?«

»Ich wollt gern wissen, wer du bist«, wiederholte Franz ruhig.

»Ich bin alt, das siehst du doch. Mich braucht wohl niemand mehr.«

»Jeder Mensch ist wichtig und wird gebraucht. Ob alt, ob jung. Ich würde gern verstehen, wer du bist und was du so machst.«

»Ach so, ach so. Na ja … ich bin der Flavius. Ja, ja. Flavius wurde ich genannt. Flavius Kunst. Sieh dich nur um! Sinnlose Dinge, die ich tu und treibe. Braucht wohl niemand mehr. Die Leute haben ihre Schmuddelhefte, ihre Computer und Fernseher. Sie brauchen mich nicht mehr. Du brauchst mich nicht mehr. Ja, ja.«

Der alte Mann streichelte sanft Franz’ Hand und versank dann erneut in einem tiefen Traum. Seine Pupillen weiteten sich und wurden kurz darauf abermals stumpf. Fast sah es so aus, als besäße er nur noch eine Iris.

Franz überließ ihn erst einmal seinem Traum und stand auf. Erst jetzt bemerkte er, wie voll die kleine Hütte war. Man konnte kaum laufen. Überall lagen Bücherstapel, Bilder und Krimskrams, den wahrlich niemand mehr gebrauchen konnte. Manche Bücher waren eingestaubt und überall sah man Spinnennetze. Die Wände hingen voll mit düsteren, traurigen Bildern. Hier und da war mal ein buntes oder auch ein Foto, das den Alten in jüngeren Jahren zeigte. Niemals allein. Immer stand er umschlungen mit anderen und mit einem breiten Grinsen. Franz vermutete, dass es seine Freunde wohl gewesen sein mussten. Doch dies schien lange her zu sein. Besuch hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Da war sich Franz ganz sicher. Iocus zog an seiner Hose.

»Znarf, wir müssen weiter. In der Schublade, da liegt der Schlüssel. Ich kann ihn sehen.«

»Ich will ihn fragen, ich kann ihn nicht einfach nehmen.«

Franz wollte dem Alten nichts wegnehmen. Das gefiel ihm nicht. Aber auch er wusste, wenn er den alten Mann so sah, dass es sich als schwierig herausstellen könnte, mit ihm ein sinnvolles Gespräch zu führen. Es würde wohl schon einige Zeit dauern, ihn aus seinem Traum zu erwecken. Er tat ihm sehr leid. Aber irgendwie schien der alte Mann glücklich. So in seiner Welt. Franz sah deutlich, dass er lächelte. Mit dem gesamten Gesicht, auch mit seinen verträumten, faltigen Augen.

»Du kannst ihm jetzt nicht helfen. Er muss noch eine Weile durchhalten. Du kannst ihm nur helfen, wenn du auf den Ruf deines Funkens hörst und ihn befreist. Komm! Der Nebel macht nur jetzt den Weg frei. Sonst müssen wir warten bis zum nächsten Mal. Und ich kann dir nicht sagen, wann sein Geist sich lichtet.«

»Du hast ja recht, Iocus.«

Franz ging zu dem kleinen Schränkchen neben der runden Eingangstür. Die Schublade, in der der Schlüssel lag, war offen. Kreativ stand in verschnörkelter Schrift darauf. Franz nahm ihn, steckte ihn in seine Tasche und ging nach draußen. Er drehte sich noch einmal um und nickte dem Alten zu.

»Halte durch!«, bat Franz und trat dann in die schmale, niedrige Gasse im Nebel, die von der Stadt wegführte.

Franz und das Schwarz

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