Читать книгу Pfarrerinnen und Pfarrer der evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell - Mark Hampton - Страница 9
Reformierte Gemeinschaft
Оглавление«Alle Konfessionen sind im ursprünglichen Sinn des Wortes relativ.»11 «Relativ» ist lateinisch und heisst übersetzt «bezogen». Die Entstehungsgeschichte verschiedener Konfessionen ist geprägt von den damaligen kulturellen Verhältnissen. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass sich unterschiedliche Formen und Strukturen bei den evangelischen Christinnen und Christen entwickelt haben. Lutheraner, Methodisten, Reformierte und weitere evangelische (Frei-)Kirchen berufen sich zwar gemeinsam auf das Evangelium, stammen aber aus unterschiedlichen Epochen, Regionen und Kulturen. Selbstverständlich haben sich darum «Unterschiede ergeben in den Folgerungen für die Gestalt der Kirche».12 Diese Unterschiede führten zu diversen Kirchentypen. Zwischen dem Kongregationalismus13 und dem Episkopalismus14 ist der Presbyterianismus zu finden, nach dem die Reformierten sich organisieren.
Der Presbyterianismus (von griechisch presbuteros, Ältester) ist eine Form von Kirchenverfassung, bei der die Kirche auf mehreren Ebenen durch Gremien von Ältesten und Pfarrpersonen geleitet wird. Eine Voraussetzung dafür ist die Ämterlehre des Reformators Johannes Calvin.15 Eine beeindruckende Errungenschaft der Reformation ist die neue Art der Leitungskultur: «[die] Kooperation zwischen Theologen und Nichttheologen, die völlig gleichberechtigt sind».16 Im Sinne der Gewaltentrennung ist ein ausgeklügeltes System von «checks and balances», das heisst ein System gegenseitiger Kontrolle und des Ausgleichs von Interessen, entstanden, welches dafür sorgt, dass niemand zu mächtig werden kann. Die verschiedenen Instanzen kontrollieren sich gegenseitig. Diejenigen, die an einer solchen gemeinsamen Leitung beteiligt sind, können dies nur im ununterbrochenen partnerschaftlichen Gespräch tun.
Die reformierten Kirchen haben sich für eine demokratische Struktur entschieden. Alle Synodalen, Behördenmitglieder sowie Pfarrpersonen werden entsprechend vom Kirchenvolk gewählt und stellen sich traditionsgemäss von Zeit zu Zeit der Wiederwahl. Diese demokratische Struktur bringt zum Ausdruck, dass alle Mitglieder der Kirchgemeinde gleichwertig sind und ihre Verantwortung als mündige Christinnen und Christen wahrnehmen sollen.
In diesem Sinne ist das Priestertum aller Gläubigen zu verstehen, welches für die reformierten Kirchen kennzeichnend ist. Der Apostel Paulus braucht in seinen Briefen das Bild vom Leib, um sein Verständnis der Kirche zu umschreiben.17 Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang denkwürdig: «Leib Christi ist Gemeinschaft von konkreten Menschen, die auf das Evangelium hören, an seine Botschaft glauben, sie weitergeben und Jesus nachzufolgen versuchen.»18 Dabei gilt: Niemand kann alles, dafür können alle etwas! Die einen können gut mit Finanzen umgehen, andere gut kochen, Leute besuchen, organisieren, singen, leiten, beten, musizieren, unterrichten, Unterhaltsarbeiten erledigen, den Garten pflegen, Menschen in Not begleiten usw. Obwohl die Reformierten keine geweihten Priester haben, haben auch Pfarrpersonen im Priestertum aller Gläubigen eine Funktion. «Pfarrerinnen und Pfarrer sind nach reformiertem Verständnis eigens beauftragte Gemeindeglieder, die durch eine gründliche wissenschaftlich-theologische Ausbildung befähigt sein sollen, den Sinn eines Bibeltextes im Zusammenhang zu erfassen, seine Geltung für die Gegenwart aufzuzeigen, und so das Evangelium zu verkünden.»19 Und zweitens: «Einer ist euer Meister und ihr seid Geschwister»,20 sagte Jesus. Dies deutet auf das andere hin. Alle Glieder am Leib Christi sind wichtig und nötig, alle haben eine Verantwortung und eine Berufung. Niemand ist dabei der Chef, der das alleinige Sagen hat. Nur das Haupt ist einer. Er sammelt seine Gemeinde. «Sie folgen in ihrer Zusammenkunft seinem Ruf zum Zusammenkommen. Die Gemeinde entsteht dadurch und sie hat darin Bestand, dass er ihr Haupt ist. Er macht das durch sein tätiges und wirksames Wort, durch seinen Zuspruch und Anspruch, durch seine vernehmliche Zuwendung und Treue zu ihnen.»21 Die Reformierten haben sich seit jeher von einem allzu hierarchischen Kirchenkonzept abgegrenzt, um theologisch im Einklang mit dieser Vorstellung der Kirche zu leben und so auf der zwischenmenschlichen Ebene Machtmissbrauch und narzisstischen Tendenzen entgegenzuwirken. «Sicher gibt es in der von ihrem Haupt geleiteten Gemeinde auch eine menschliche Gemeindeleitung. Aber sie ist Amt in der Gemeinde, nicht über ihr. Sie ist nicht Haupt, sondern eine von vielen Funktionen im Leib dieses einen Hauptes.»22
Aus dem Bisherigen gewinnt der reformierte Grundsatz aus dem 17. Jahrhundert an Bedeutung: «Ecclesia reformata semper reformanda»,23 zu deutsch: Die reformierte Kirche ist immer wieder zu reformieren. Wer sagt aber, was gilt? Nach welchen Kriterien soll die Kirche erneuert werden? Geht es darum, ein Trendsetter zu sein, mit der Zeit zu gehen und sich den neusten Aktualitäten anzupassen? Der reformierte Grundsatz verfolgt eine andere Absicht: «Die reformierte Kirche ist immer wieder zu reformieren nach Gottes Wort [...] Im Hören darauf ist die Kirche nicht auf irgendeine Vergangenheit festgenagelt, sondern lebt sie mit Gott und unter seinem Beistand in der jeweiligen Gegenwart.»24
Wir sind Kinder unserer Zeit und geprägt vom Zeitgeist. Dies ist gut so. Um in der Gegenwart als Kirche etwas sagen zu können, ist eine gesunde evangelische Spiritualität unabdingbar. Die Reformierten bleiben auf diese Weise eine Such- und Lerngemeinschaft, welche sich der Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis und menschlichen Handelns bewusst ist. Sie hat sich auf die Aufklärung eingelassen und bemüht sich entsprechend um die Befreiung der Vernunft von kirchlicher, staatlicher oder ideologischer Bevormundung. Und merkt selber, wie erleichternd die Einsicht ist, dass «alle Erkenntnis Stückwerk ist»25 – Erkenntnis der Vernunft sowie Erkenntnis des Glaubens.