Читать книгу Doc Why Not - Mark Weinert - Страница 19
ОглавлениеZEIT SPIELT KEINE ROLLE
Einer der größten Unterschiede zwischen Deutschland und Neuseeland in der Medizin ist, dass Zeit eine völlig andere Dimension hat.
Am eindrücklichsten fiel mir das auf, als ich eine Woche im herzchirurgischen OP eingeteilt war. Barry, der Chefarzt und ein sehr erfahrener Herzchirurg, begann die Operation am offenen Herzen. Der Brustkorb war geöffnet, und das Herz lag vor ihm bereit für seine Kunst. Dabei bemerkte er, dass es ein Problem gab. Der Eingriff würde wesentlich komplexer werden als erwartet und geplant. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen und das Problem zu lösen. Diese bedürfen einer genauen Planung. Normalerweise. Hier lag, wie gesagt, der Patient mit aufgestemmten Rippen und dem Herzen frei sichtbar vor ihm. Was tun? Barry wollte eine gute Entscheidung treffen, keine schnelle. Er sagte dem Anästhesisten, dass er sich mit seinem leitenden Oberarzt kurz besprechen müsse. Er legte ein paar feuchte Bauchtücher auf den Operationssitus und ging hinaus.
»Ich bin in zwanzig Minuten zurück«, sagte er, nachdem er seinen Assistenzarzt angewiesen hatte, auf den Patienten aufzupassen. Der zuständige Herzanästhesist ging mit Barry zur Besprechung auf einen Tee. Ich stand da und schaute den indischen Assistenzarzt über das Tuch, das Anästhesie und OP-Feld trennt, hinweg an.
»Passiert das öfters? Also, dass die rausgehen und sich besprechen?«
»Ich weiß es nicht, ich bin auch neu hier«, sagte er.
Wir sahen uns ratlos an. Das war für beide von uns neu. Nach etwa zwanzig Minuten kamen die anderen wieder.
»Ich weiß jetzt, was ich mache«, verkündete Barry.
Das ist ja schön, dachte ich mir. Die Vorstellung, dass ein Chirurg während der OP den Saal verlässt, um in Ruhe über das weitere Vorgehen nachzudenken, ist so abstrus und unvorstellbar in Deutschland, dass mir die Worte fehlten. Dabei ist es genau die richtige Entscheidung. Allerdings geht das nur, wenn der Mensch und nicht die Uhr die Entscheidung trifft. Das stelle ich immer wieder fest.
Ähnlich geht es mir, als an einem anderen Tag der OP-Manager in unseren Saal kommt und fragt, wer schon eine Ablöse zum Mittagessen hatte. Es hatten nur wenige vom anwesenden Personal schon gegessen.
»Dann machen wir nach der OP Pause, und ihr geht alle zum Mittagessen.«
Sie haben richtig gehört. Die ganze OP-Mannschaft macht gleichzeitig Pause, und der OP ruht währenddessen. Das ist in Deutschland so unvorstellbar wie eine Mittagspause bei einem Formel-Eins-Rennen. So fühlt man sich sonst im OP. Der OP kostet am meisten, wenn er nicht genutzt wird – ähnlich wie beim Flugzeug. Das heißt, jede Minute OP-Zeit wird ausgenutzt. Dort, wo finanzieller Druck herrscht und es das Ziel der Politik ist, Krankenhäuser über diesen Druck zu schließen, muss das so sein. In Neuseeland ist das etwas anderes.
In Deutschland messen wir pro OP dreizehn verschiedene Zeiten, die dann in Relation zueinander gesetzt werden. So kann man am grünen Tisch sehen, wo Verbesserungspotenzial für die OP-Auslastung besteht. Dazu zählen Zeiten wie Anästhesiebeginn und OP-Freigabe: So lange dauert die Anästhesieeinleitung. Kann man das nicht schneller machen? Die OP-Freigabe und Beginn des Lagerns: Warum war der Operateur nicht schon da? Warum dauert das Lagern so lange? Schnitt bis Naht: So lange dauert die OP. Das ist seltsamerweise nie ein Thema. Es dauert immer so lange, wie es dauert. Die anderen Abläufe müssen optimiert werden. Naht bis Schnitt: So lange dauert der Wechsel zum nächsten Patienten. Immer wieder eine Diskussion. Da muss man doch schneller werden können!
Trauriger Höhepunkt ist die Maßgabe für die OP-Freigabe durch die Anästhesie zu Beginn des Tages. Die Benchmark ist 08:00 Uhr. Bis 08:03 Uhr wird im Wochendurchschnitt toleriert. Wenn die Freigabe im Schnitt später als 08:04 Uhr erfolgt, wird darüber diskutiert, woran das gelegen haben könnte.
In Neuseeland – zumindest, als ich dort angefangen habe – haben wir folgende Zeiten für das OP-Management gemessen: keine.
Dann wurde begonnen, zu messen, ob die OP-Säle gegen 17:00 Uhr fertig wurden, und welche Abteilung regelmäßig überzieht. Keine Spur von: Hier ist eine Minute zu viel oder zu wenig. Meistens zu viel. Manchmal denke ich, in Deutschland sind wir nicht nur von Uhren abhängig, wir würden uns sogar Zeit oder, noch besser, Pünktlichkeit intravenös spritzen, wenn wir könnten, um davon high zu werden.
Ein Wort, das ich in Neuseeland auch noch nie gehört habe, ist Burnout – ob das damit zusammenhängen könnte? Wer weiß das schon, ich nicht, ich muss jetzt weg. Um darüber nachzudenken, habe ich keine Zeit.