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Elfenzauber

„Gewaltige Kraft aber liegt in der elfischen Magie, die sie viraya nennen. Am stärksten jedoch ist ihre Magie im Einklang mit der ewigen Natur, hilflos aber gegen etraya, die Schwarze Kunst.“

- aus: Sacara, „Zaubermacht der Elfen“, Bibliothek von Ancorah

Zielsicher ging der Hochelf seinen Weg, jenen Weg, den er in den letzten Jahrzehnten so oft gegangen war, dass seine Füße ihn auch ohne sein Dazutun hätten finden können. Er ging diesen Weg eigentlich sehr gerne, nur der Zweck seiner morgendlichen Wanderung machte ihm das Herz schwer. Er bat nicht gerne ein anderes Wesen um einen Gefallen, schon gar nicht eines, das ihm so nahe stand wie das, welches er jetzt aufsuchte. Sein ganzes Leben lang hatte er sich immer lieber auf seine Instinkte und Fähigkeiten verlassen und so selten wie nur möglich die Hilfe eines anderen gesucht. Sein ganzes Leben lang - bei einem Elfen bedeutete das schon etwas!

Die ersten Strahlen der Sonne schienen durch das Blätterdach des morgenfrischen Waldes. Dort wo noch letzte Reste eines abendlichen Nebels in der Luft hingen, zeichnete die Sonne helle Gespinste in die Luft, wie die schwebenden Netze einer zauberkräftigen Spinne. Die ersten Tagvögel hatten mit ihrem Konzert begonnen und überall raschelte, knisterte und klang es, als die Waldtiere den neuen Tag begrüßten und sich daran machten, ihr Tagwerk zu beginnen. Es war ein Tag, der schön und heiter zu werden versprach, doch der Elf war viel zu sehr in Gedanken versunken, um dies alles überhaupt wahrzunehmen. Vielleicht hatte er auch einfach schon zu viele Tage dieser Art gesehen, um noch beeindruckt zu sein, denn mit seinen gut 220 Jahren gehörte er schon zu den Älteren, wenn auch nicht zu den Ältesten seiner Sippe.

Die Gedanken des Elfen kreisten um seine Familie. Er hatte sich erst vor gut 30 Jahren entschlossen, seinen bisherigen Lebenswandel aufzugeben und „sesshaft zu werden“, wie es wohl ein Mensch genannt hätte. Die Menschen. Ja, sie hatten einen großen Teil seines Lebens eingenommen, diese ewig jungen, ewig hitzigen, ewig strebenden, verändernden und sich wandelnden Wesen, die ihm im Laufe der Zeit so sehr ans Herz gewachsen waren. Er war sich sicher, dass er von allen Elfen seiner Sippe die meiste Erfahrung mit Menschen hatte. Er war deshalb auch schon oft um Rat gefragt worden, wenn es wieder einmal Probleme mit ihnen gab.

Ein stiller Seufzer entfuhr dem Elf. Ja, jetzt wussten sie seine Erfahrungen zu schätzen, aber als er damals als junger Mann von kaum 20 Sommern in die Weite Dorimars gezogen war, um etwas von der Welt zu sehen, da hatten sie ihn beinahe für einen Aussätzigen gehalten. Für einen kurzen Moment glitten seine Erinnerungen zurück in jene unbeschwerten Tage der Wanderschaft und des Abenteuers, in denen er so manches erlebt und in denen er eine Art von Freiheit kennengelernt hatte, die den meisten Hochelfen nicht nur fremd war, sondern geradezu unheimlich.

Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er hatte sein Wanderleben vor mehr als drei Jahrzehnten aufgegeben, doch er war fast zwei ganze Menschenleben von seinem Geburtsort fort gewesen. Als er schließlich doch nach Hause zurückgekehrt war, hatte er noch fast alles so vorgefunden, wie bei seiner Abreise. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er niemals oder für immer fortgehen würde, noch einmal jedenfalls wollte er nicht aus der scheinbar grenzenlosen Freiheit in die damals so eng und begrenzt erscheinende Umgebung seines Heimatwaldes zurückkehren. Lange hatte er um eine Entscheidung gerungen, ob er bleiben oder wieder fortgehen sollte.

Doch schließlich hatte das Schicksal ihm die Entscheidung abgenommen, indem es ihn die Liebe seines Lebens finden ließ. Fast augenblicklich hatte er sich in die wesentlich jüngere Elfe verliebt, und auch sie schien von dem Hauch des Abenteuers, der ihn damals wie einen Mantel umwehte, gebannt zu sein. Jedenfalls hatte es nicht lange gedauert, bis sie sich entschlossen hatten, den weiteren Weg durchs Leben gemeinsam zu gehen, und auch S’abraana hatte der Verbindung der beiden Liebenden bald seinen Segen in Form ihrer ersten Tochter geschenkt.

Und in genau diesem Moment hatte der Elf zum ersten Mal gespürt, dass er seiner bewegten Vergangenheit nicht entkommen konnte. Tatsächlich hatte seine Tochter schon bald denselben Drang zum Unbekannten, Fernen und Fremden gezeigt, der auch ihn damals auf die große Wanderschaft getrieben hatte, sie war jetzt sogar im gleichen Alter wie er zu seiner Zeit. Er wusste, dass er diesen Trieb in ihr nicht würde unterdrücken können, aber er konnte wenigstens dafür sorgen, dass sie besser vorbereitet sein würde als er.

Deshalb ging er heute diesen wohlbekannten Weg. Es gab da zwar noch diese unbestimmte Hoffnung... aber nein! In Gedanken nannte er sich einen alten Narren, dem das Wunschdenken die Sinne vernebelte. Auch die frisch entflammte Liebe seiner Tochter zu diesem Neuankömmling würde sie nicht ewig Zuhause festhalten, nicht, bevor sie ihrem Fernweh nicht wenigstens ein wenig nachgegeben hatte. Dafür, so wurde ihm schmerzlich klar, dafür hatte sie zu viel von ihrem Vater.

Einen Augenblick verweilten seine Gedanken bei den drei philosophischen Grundprinzipien, die das Leben der Elfen bestimmten: S’abraana und Revellia, Anfang und Ende aller Dinge, sowie Nirva, der Zustand des perfekten Ausgleichs. Wie jedes Wesen würde auch seine Tochter die Wahrheit der ersten beiden Prinzipien unvermeidlich kennenlernen, doch wenn sie tatsächlich nach ihm kam, wäre ihr Nirva wohl für immer verwehrt – Abenteuerlust und Ausgleich vertrugen sich einfach nicht.

In diesem Augenblick bemerkte er, wie weit ihn seine Füße getragen hatten, während er noch in Gedanken versunken gewesen war, denn die Lichtung, die das Ziel seines morgendlichen Ganges war, lag direkt vor ihm.

Fast kniehohes Gras bedeckte den Boden der Lichtung, zahlreiche Blumen und Wildkräuter besprenkelten den grünen Teppich mit allen denkbaren Farbschattierungen in Blau, Rot, Gelb, Orange und Violett. Das Summen unzähliger Insekten lag in der Luft, die in emsigem Tanz von Blüte zu Blüte eilten; Schmetterlinge flatterten wie fliegende Spiegelbilder der Blütenpracht am Boden herum und das allgegenwärtige Vogelkonzert tauchte die Szene in einen lebendigen musikalischen Hintergrund.

Den Elfen überkam das gleiche Gefühl von Frieden und Geborgenheit, das ihn jedes Mal überkam, wenn er diese Lichtung betrat. Hier war er wirklich willkommen und würde es auch immer sein. Sein Blick wanderte zu dem einzigen Baum, der auf der Lichtung stand.

Es war eine riesige, uralte Buche. Sie war schon riesig und uralt gewesen, als er ein kleines Kind gewesen war und sein Vater und Großvater vor ihm. Die Buche war der unumschränkte Herrscher dieser Lichtung und, wie er heimlich glaubte, auch des ganzen Teils des Waldes, in dem er sich jetzt befand. Alle bekannten Völker kannten die Sagen von den Grünen Ahnen, den ersten Pflanzen, die zu Beginn der Zeit aus der Erde gesprossen waren und die Gabe der Unsterblichkeit gehabt haben sollen. Wenn er diese Buche sah, mochte der alte Elf an die Legende glauben.

Überhaupt schien sie ein lebendigeres Wesen zu sein als alle normalen Bäume, man musste den Eindruck haben, dass sie von ihrer erhabenen Position auf dem kleinen Hügel inmitten der Lichtung aus die Welt beobachtete und sich ihren Teil dazu dachte. Ein fremder Beobachter hätte sicherlich geglaubt, ein magisches, intelligentes Wesen vor sich zu haben. Der alte Elf glaubte es nicht. Er wusste es. Langsam ging er auf den gewaltigen Baum zu.


Das leichte Kitzeln der ersten Sonnenstrahlen eines herrlichen Tages auf ihrer Nase weckte die junge Hochelfe.

Das einzige Fenster ihres kleinen Zimmers im elterlichen Haus ging direkt in Richtung Sonnenaufgang und sie hatte ihr Bett so gedreht, dass die Sonne so früh wie möglich ihre Aufwartung machen konnte. Einen kurzen Augenblick genoss sie das noch kühle Licht auf ihrer Haut, dann sprang sie behände aus dem Bett.

Mit einigen wenigen geübten Griffen angelte sie sich ein kurzes grünes Kleid mit kunstvollem Blattmuster aus dem Kleiderschrank neben ihrer Tür, schlüpfte in ihre liebsten Wanderschuhe aus weichem, leichten Leder und bürstete mit schnellen Zügen ihr prachtvolles, langes schwarzes Haar in Form. Vor allem die kecken Strähnen, die ihr tief ins Gesicht fielen und einen geheimnisvollen Kontrast zu den in einem dunklen Amethystton schimmernden Augen bildeten, mussten heute besonders gut sitzen.

Als sie fertig war, warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr: eine junge Elfe von 19 Jahren mit hübschem Gesicht und schlanker, wohlgeformter Gestalt, welche die Unschuld der Kindheit mit dem beginnenden Glanz der jungen Frau verband. Sie war nicht eitel, aber sie wusste um ihr Aussehen und dass sie keinen anderen Schmuck brauchte als den, den ihr die Natur mitgegeben hatte. Da machte es auch nichts, dass ihre Kleidung schlicht und recht farblos war – die leichte Bräune ihrer Haut, das schwere, samtige Schwarz ihrer Haare und die leuchtende Kraft ihrer Augen genügten ihr. Und vor allem genügten sie ihm.

Sie hatte trotz ihrer angeborenen und nicht geringen Neugier in ihrem heimatlichen Wald nicht viel erlebt, denn alles, was es zu sehen und zu lernen gab, hatte sie in wenigen Jahren wie ein trockener Schwamm in sich aufgesaugt. Sie hatte eine große Begabung sowohl für den Kurzbogen als auch für die Zauberei und auch das Erlernen fremder Sprachen, wie die der Menschen, war ihr leicht gefallen. Doch es hatte sie lange betrübt, dass sie von ihren Fähigkeiten keinen Gebrauch machen konnte: Wild zu jagen brachte sie nicht über ihr Herz und Feinde gab es nicht oder sie waren so gefährlich, dass man ihnen aus dem Weg ging, also nutzte sie den Bogen nie. Ähnlich verhielt es sich mit der Magie. Und einem Menschen war sie erst recht nicht begegnet, die nächste menschliche Ansiedlung war mehrere Tagesmärsche entfernt.

Doch dann wurde sie in den Augen ihres Vaters alt genug, um von der Welt jenseits des Waldes zu erfahren. Mit großem Staunen hatte sie vernommen, was er ihr von seinen mehr als 170 Jahren der Wanderschaft in den Weiten Dorimars zu berichten hatte. Er erzählte von Dingen, die sie kaum glauben konnte und von Taten, die sie ihm nie zugetraut hätte. Sie hatte ihren Vater schon immer sehr geliebt, doch ab jenem Tag verehrte sie ihn. Auch wenn sie jetzt die manchmal etwas reservierte Hochachtung der anderen Elfen ihrer Sippe ihm gegenüber besser verstehen konnte, war ihr Vater für sie in ihren Augen gewachsen. Seine Geschichten lieferten ihrer Neugier für Jahre genügend Nahrung und mit jeder Geschichte und jeder Lektion wuchs ihr Wunsch, diese Dinge selbst zu sehen und zu erleben.

Natürlich war ihr auch nicht verborgen geblieben, wie ihre Eltern wissende Blicke tauschten, wenn sie begeistert von ihren Plänen sprach. Und einige Male hatte sie starke Schuldgefühle verspürt, wenn sie den traurigen Blick der geliebten Mutter sah, wenn diese sich unbeobachtet glaubte. Sie wusste, ihre Mutter war einerseits froh über ihre Begeisterung, andererseits kannte sie die Gefahren, die in den Fußspuren ihres Vaters auf sie warteten.

Doch auf eines hatte ihr Vater sie nicht vorbereiten können: auf den heißen Stich ins Herz und den gleichzeitig eiskalten, aber angenehmen Schauer auf ihrem Rücken, als er in ihr Leben trat.

Er war mit seiner Familie aus einem anderen Wald gekommen. Sie waren die letzten Überlebenden nach einem ungeheuren Überfall der Orks auf ihr Dorf. Die Erzfeinde der Elfen hatten einen hohen Blutzoll für ihre Tat bezahlt und waren fast bis zum letzten Krieger vernichtet worden, doch das Überleben der Sippe war in der alten Heimat nicht mehr gesichert. Und so waren sie zu ihren Verwandten geflohen.

Sie war ihrem Vater gefolgt, als der Älteste ihn zu einem Treffen mit den Neuankömmlingen bat – und da hatte sie ihn gesehen. Er war der Sohn des Sippenführers und einige wenige Jahre älter als sie. Ein einziger Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, genügte, um ihr Innerstes in Flammen aufgehen zu lassen. Der eisige Schauer der Freude folgte, als sie die gleichen Gefühle in seinen Augen wiederfand.

Die jungen Elfen, die bei den Beratungen der Älteren nicht viel beizutragen hatten, hatten sich bald unter einem Vorwand entfernt. An jene ersten Stunden erinnerte sie sich kaum, es war ein Rausch der Gefühle gewesen, die noch von den Regeln von Anstand und Fremdheit in Zaum gehalten wurden. Doch nicht für lange. Bald schon waren die jungen Elfen ein Paar.

Mit einem leisen Seufzen ließ sie den Atem entweichen, den sie unbewusst angehalten hatte, als sie an ihre erste Begegnung dachte, und kehrte in die Gegenwart zurück. Sie hatten sich für heute Morgen nicht verabredet, doch sie würde ihn an ihrem geheimen Treffplatz vorfinden, so wie gestern und den Morgen davor, da war sie sich sicher. Heute würde sie ihm die Kristallfälle zeigen, ein Wunder ihres Waldes. Sie war früher gern lange im Bett geblieben, doch seit sie ihn kannte, schien ihr der Tag einfach nicht genug Stunden zu haben und ohne jede Spur von Müdigkeit war sie Morgen um Morgen aus dem Bett gesprungen, erfrischt von mehr als nur Schlaf.

Auf leisen Sohlen schlich sie aus ihrem Zimmer und die Treppe hinab. Ihre Eltern hatten ihr den Umgang mit dem Neuankömmling nicht verboten, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass diese Heimlichkeit den Kitzel noch steigerte. Außerdem war es immer wieder eine echte Herausforderung, den scharfen Sinnen ihres Vaters zu entkommen.

Doch als sie die Eingangstür öffnete, erlebte sie eine Überraschung: in dem taunassen Gras führten Spuren vom Haus in den Wald. Der Größe nach konnten sie nur von ihrem Vater stammen und noch nicht sehr alt sein. Einen Moment lang rang ihre Neugier mit der Vorfreude auf das Treffen mit ihrem Liebsten. Und verlor. Sie nahm sich vor, ihren Vater über seinen ungewöhnlich frühen Ausflug zu befragen, sobald sie – irgendwann spät abends – wieder nach Hause kommen würde.

Leise schloss sie die Tür hinter sich. Ihre Mutter hatte einen viel tieferen Schlaf als sie und ihr Vater (wenn er sie necken wollte, behauptete er, weil sie nie die Dinge im Leben erlebt hatte, die einem den Schlaf rauben könnten), aber sie wollte nichts riskieren. Doch kaum war die Tür ins Schloss gefallen, verfiel sie in einen fröhlichen, hüpfenden Lauf und eilte dem Treffen mit ihrem Liebsten entgegen. Sie war noch nicht aus der Sichtweite ihres Elternhauses entschwunden, da dachte sie schon nicht mehr an die Spuren des Vaters, die tief in den Wald hineinführten - zu einem Ort, der ihrer Familie ungemein wichtig war.


Eine leichte Brise wehte über die Lichtung und die Blätter der Buche raschelten. Der Elf kannte dieses Zeichen, wusste, dass der uralte Baum gleich in seinen Gedanken zu sprechen beginnen würde. Das Wehen des Windes und das Rascheln der Blätter war Teil eines uralten, nur ihm und dem Baum bekannten Rituals.

Feylarion, erklang es in diesem Moment in seinem Kopf. Du bist traurig, mein Freund. „Ja, das bin ich wohl“, antwortete der Elf, dem es leichter fiel, die gedankliche Botschaft mit gesprochenen Worten zu beantworten. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass der Baum ihn so auch besser verstand.

Was ist es? drang die Buche sanft aber bestimmt in seine Überlegungen ein. „Meine Tochter.“ Ah, das Kind hat den alten Fluch deiner Familie geerbt, den Drang nach Ferne und Abenteuer. Und jetzt will sie ihr Erbe ausleben und der Vater erkennt sich in ihr wieder. Das gedankliche Gegenstück eines heiteren Lachens durchströmte Feylarions Gedanken. Wenn du wüsstest, wie oft ich das jetzt schon erlebt habe!

„Du meinst...“ begann Feylarion erstaunt. Ja! So war es bei deinem Vater, als du in jenes Alter kamst und mit deinem Großvater vor ihm. Ich kenne eure Herzen, die eurer ganzen Linie, so wie ihr das meine kennt. So ist es schon immer gewesen, seit Jahrhunderten. Deshalb hat der Urvater deiner Sippe den Namen Buchenherz gewählt! Ungewöhnlich ist nur, dass der Drang der Ferne dieses Mal auf eine Tochter übergegangen ist. Wenn die Zeit kommt, wird sie es sein, die deinen Platz an meiner Seite einnehmen wird. Es wird auch für mich eine völlig neue Erfahrung sein.

Feylarion dachte über das Gehörte nach, während er die wenigen Schritte zurücklegte, die ihn von der Buche trennten. „Wenn du das alles schon erlebt hast, dann weißt du, weshalb ich hier bin.“ Ja, kam die schlichte Antwort.

„Aber dieses Mal möchte ich nicht nur irgendeinen Ast, ein Stück Rinde oder einen guten Rat“, begann der Elf, doch die alte Buche unterbrach ihn.

Hast du dir je die Mühe gemacht nachzusehen, aus welchem Holz der Bogen war, den dein Vater für dich anfertigte, als du in die Ferne ziehen wolltest und den du aus Übermut ausgeschlagen hast? „Ja, viele Jahre später“, antwortete der Elf mit belegter Stimme. „Er war aus dem Holz, das aus dem tiefsten Inneren einer Buche stammt. Aus dem Buchenherz. Ich dachte damals, Vater hätte eine Buche geschlagen, um den Bogen herzustellen. Ich habe ihn verachtet dafür, doch als ich die Wahrheit erkannte, konnte ich mich nicht mehr bei ihm entschuldigen.“

Natürlich nicht. Denn du hast meine Stimme ja erst nach seinem Tode vernommen, so wie deine Tochter sie erst nach deinem Tode vernehmen wird. Die Lösung mancher Geheimnisse kommt eben auch für euch Elfen zuweilen zu spät. Aber gräme dich nicht, dein Vater wusste, dass du eines Tages verstehen würdest. Nun tu, was zu tun dich heute hierher geführt hat.

Feylarion wusste, dass die Buche nun nicht weiter mit ihm sprechen würde, bis er sein Werk vollbracht hatte. Er schloss die Augen und begann, seinen Geist von allen störenden Sorgen und Eindrücken zu reinigen. Er hatte dies schon oft getan, aber noch nie hatte er ein so wichtiges Stück lebenden Holzes zu gewinnen versucht, hatte sich bisher stets mit Ästen oder etwas Rinde begnügt. Doch heute sollte es etwas Besonderes sein. Nein, heute musste es etwas Besonderes sein, für seine geliebte Tochter. Seine Dalewina.

Feylarion begann, mit leiser Stimme die uralte Melodie zu summen, die das Erste gewesen war, was er von der Buche gelernt hatte. Er war der einzige, der die Melodie kannte, so wie sein Vater und alle anderen vor ihm, die den Seelenbund mit dem Baum eingegangen waren. So wie es seine Tochter einst auch tun würde. Die Melodie war alt, lang, ohne Worte und zeitlos. Sie war der Name des Baums, der geheime Name, den alle wahrhaft mächtigen Wesen haben und den sie nur ihren engsten Vertrauten offenbarten. Die Buche hatte viel von Feylarion gefordert in den vergangenen Jahren, aber in solchen Augenblicken war ihm bewusst, dass sie ihm unendlich mehr zurückgegeben hatte: die absolute Macht über ihre Existenz.

Der kraftvolle Rhythmus der Melodie begann, von ihm Besitz zu ergreifen. Feylarion sang; er sang von Wind und Wetter, welche die Rinde des Baumes gerbten, während er die Hände an sie legte. Er sang von vergangenen Sommern und Wintern, welche die Erinnerung der Holzschichten waren, die direkt unter der Rinde lagen. Er sang von vergangenen Taten, großen Ereignissen, wahren Begebenheiten, die heute nur noch Legende waren, und mit jeder Strophe versanken seine Hände tiefer im lebendigen Holz des Baumes, denn die Strophen waren aus den Erinnerungen der Buche gewoben, beschrieben ihr unendlich langes Leben.

Er kannte das Lied in seiner ganzen Länge, auch wenn er nie geglaubt hätte, es je ganz zu singen. Immer weiter zurück im ewigen Strom der Zeit trug ihn das Lebenslied des Baumes, bis er schließlich am Urgrund selbst angelangt war und von Leben und Geburt selbst sang, während seine Hände das Herz der Buche berührten, jenen innersten Teil des Stammes, in dem das Leben in seiner reinsten Form pulsierte.

Du bist am Ziel, wisperte die vertraute Stimme, ich gebe dir gerne, was du verlangst. Doch ich bitte dich, lass das Lied jetzt nicht verstummen, sorge dafür, dass auch in Zukunft neue Strophen hinzukommen können.

Feylarion nickte, obwohl er nicht wusste, ob die Buche diese Geste wahrnehmen konnte. Langsam, fast zärtlich, begannen seine Hände, ein Stück des kostbaren Holzes aus dem Herzen des Baumes herauszuschälen, während er immer wieder die Strophe des Lebens wiederholte. Seine Hände teilten die uralten Holzfasern leichter als die schärfste Axt, ein Zeichen dafür, dass der alte Baum ihm bei seinem Vorhaben half. Schließlich hatte er, was er haben wollte, fühlte, dass es genug war und er seinem Vertrauten auch nicht mehr zumuten konnte.

Feylarion sang weiter, doch dieses Mal wiederholte er die Strophen in umgekehrter Reihenfolge, und mit jeder Strophe glitten seine Hände weiter aus dem Stamm heraus.

Schließlich sang er wieder von Wind und Wetter und befreite seine Hände aus der Umarmung des Holzes.

Zum ersten Mal, seit er die Zeremonie begonnen hatte, wagte er es, die Augen zu öffnen. Was er sah, verschlug ihm den Atem. In seinen Händen lag ein Stück Holz, das für sein Vorhaben absolut vollkommen war: Hart, aber biegsam, völlig glatt, aber dennoch einen sicheren Halt ermöglichend. Magisch, schon durch die Art seiner Beschaffung, oder sollte er es besser eine Geburt nennen? Das perfekte Stück Holz für einen perfekten Kurzbogen.

Genauso perfekt wie der Bogen, den sein Vater ihm einst gefertigt und den er ausgeschlagen hatte. Erst jetzt, nachdem er wiederholt hatte, was sein Vater 170 Jahre zuvor ebenfalls getan haben musste, konnte er wirklich verstehen, was sein Vater für ihn zu opfern bereit gewesen war, und bei dem Gedanken stahlen sich heimliche Tränen in seine Augen.

Halte seine Erinnerung in Ehren, Feylarion Buchenherz, und er wird auf ewig unsterblich sein, drangen die Gedanken der Buche schwach in seine stille Trauer vor. „Habe ich zu viel genommen?“ fragte Feylarion besorgt. „Du hörst dich sehr schwach an. Soll ich...“

Du solltest jetzt gehen, mein Freund. Es wird gehen, so wie es bisher immer gegangen ist, aber ich brauche nun etwas Ruhe. „Natürlich“, murmelte der alte Elf schuldbewusst. Er streifte die alte Buche noch einmal mit einem dankbaren Blick, dann machte er sich auf den Heimweg.

Als Feylarion das Haus am Fuße einer anderen, weit weniger alten und mächtigen Buche betrat, in dem er mit seiner Familie wohnte, wusste er schon, dass er zumindest für heute zu spät gekommen war, denn seine Tochter war nicht daheim. Das konnte nur bedeuten, dass sie mit ihrer ersten großen Liebe unterwegs war und dass es spät werden würde. Wieder einmal. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich auf dem Platz nieder, auf dem er immer saß, wenn er seinem Handwerk nachging. Mit kundigem Blick suchte er die beste Sehne aus seinem Vorrat aus und begann, ein Meisterstück der Bognerkunst in Angriff zu nehmen.

Ein wenig wehmütig dachte er an seine schöne Tochter. Sie hatte die Anmut, die Leidenschaft und die Schönheit ihrer Mutter geerbt, von der Farbe ihrer Augen bis hin zu ihrem leichten, eleganten Schritt. Rein äußerlich hatte sie weniger von ihm als die meisten anderen jungen Elfen der Sippe, doch er wusste, dass sie in ihrem Inneren ganz nach ihm schlug. Das erfüllte ihn mit Stolz, aber auch mit Sorge, wenn er auf sein bewegtes Leben zurückblickte. Den Stolz würde er genießen, solange er lebte, doch gegen die Sorge würde er jetzt etwas tun. Entschlossen packte er sein Werkzeug, um eine Waffe zu schaffen, die einer Königin würdig wäre.

In diesem Moment betrat die einzige, die Feylarion bei der Arbeit stören durfte, den Raum. Aitharana Buchenherz war auch nach fast 30 Ehejahren mit einem der störrischsten, seltsamsten und interessantesten Hochelfen der ganzen Sippe noch immer die gleiche strahlende Schönheit wie an dem Tag, als sie sich kennengelernt hatten. Lang, voll und weich fiel ihr das schwarze Haar bis an die Hüften herunter, betonte unaufdringlich das schlichte Moosgrün ihres Kleides und den amethystfarbenen Ton ihrer Augen. Aitharana sagte immer, dass die Liebe zu ihrem Mann ihr besser stünde als der teuerste Schmuck der Menschenwelt, und Feylarion, der zu seiner Zeit mehr als genug von diesem Schmuck gesehen hatte, sah ihr um dieser Liebe willen alles nach.

„Wo ist Dalewina?“ fragte Aitharana ihren Mann nach einer kurzen, innigen Begrüßung. „Sie wird mit dem jungen Feodali Sonnenkind unterwegs sein. Ich hörte, sie wollten zu den Kristallfällen, aber ich wusste nicht, dass sie das heute vorhatten.“ Feylarions Blick wanderte zu dem Holz in seinen Händen. Seine Frau legte ihm zärtlich die Hand auf die Schulter.

„Ich hoffe noch immer, dass du dich irrst, was das Erbe deiner Familie angeht und Dalewina bei uns bleiben wird. Aber selbst wenn du Recht hast, wird sie vielleicht nicht zu schätzen wissen, was für ein Opfer du für sie gebracht hast.“ „Vielleicht doch“, antwortete Feylarion mit einem zaghaften Lächeln, die Erinnerung an seinen Vater noch frisch vor Augen, „vielleicht doch, eines Tages.“

Aitharana kannte diesen Blick. Er sagte ihr, dass ihr Mann Bilder aus seiner bewegten Vergangenheit vor seinem inneren Auge vorbeiziehen sah und wusste aus Erfahrung, dass er nicht gerne darüber redete. Also begegnete sie der Angelegenheit mit bewährter Elfentradition: Sie wich ihr aus und wechselte das Thema. „Buchenherz und Sonnenkind, was mag aus einer solchen Verbindung wohl entstehen?“ fragte sie.

Eigentlich hatte sie nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet und war deshalb umso überraschter, als sie trotzdem eine bekam: „Was daraus entstehen mag? Alles oder nichts. Ein erfülltes Leben oder ein zerbrochenes Herz.“ Zum wahrscheinlich tausendsten Male seit sie mit Feylarion verheiratet war, erinnerte Aitharana Buchenherz sich daran, dass es Fragen gab, von denen man sich wünschte, sie nie gestellt zu haben, wenn man die Antwort erfahren hatte.

Buchenherz

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