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Das Tor

„Die Neugier ist eine Gabelung auf dem Weg des Lebens. Sie führt zu Weisheit und Wissen im Alter oder zu Tod und Verdammnis in der Jugend.“

- aus: Jaroon Bel’arthes, „Die Lehrsätze der Weisen“

Viele Poeten haben schon versucht, den einfachen und doch urgewaltigen Zauber eines Sonnenaufgangs, der Meeresbrandung oder des Schnees auf den majestätischen Gipfeln eines hohen Berges einzufangen, jenen Zauber, den nur die ewige Natur selbst zu weben vermag. Und so wie es einigen wenigen Auserwählten in den Sternstunden ihres schöpferischen Könnens vergönnt war, diese unsterblichen Augenblicke einzufangen, so ist die Zahl derer, die versagten, unendlich größer. Doch selbst jenen Großen, deren Lieder noch heute in den Hallen der Könige und Fürsten gesungen werden, war es nur selten gegeben, einen wahrhaft schönen Tag in einem Elfenwald zu verbringen; und wer weiß, ob sie auch die Schönheit dieser Augenblicke hätten einfangen können, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten.

Doch mit einiger Sicherheit hätte sie die Unbekümmertheit, die fast Blindheit zu nennen war, verwundert, mit der an diesem Morgen zwei für die Begriffe ihres Volkes noch sehr junge Elfen durch den Wald liefen. Denn diese beiden hatten nur Augen für einander, die unbezähmbare Kraft einer frisch entflammten Liebe hielt alle anderen Eindrücke von ihnen fern.

Glücklich schallte das Lachen der Elfe durch den morgendlichen Wald, während das fröhliche Flötenspiel ihres Gefährten sie umgarnte und er selbst in einem ausgelassenen Tanz um sie herumwirbelte. Das Lied, das er spielte, war unzweifelhaft elfisch, doch den Tanz hatte er sich bei einem menschlichen Gaukler abgeschaut. Der Kundige hätte vielleicht ein Singspiel darin erkannt, das derzeit im Kaiserreich sehr beliebt war, jedoch wenig mit einer romantischen jungen Liebe gemein hatte. Doch die Unschuld - und auch die Eleganz - mit der der junge Elf diesen Tanz aufführte, gaben ihm eine ganz eigene Note, die zu den Gefühlen der beiden Elfen passte.

Trotz seiner Jugend, er zählte sicherlich nicht mehr als 25 Menschenjahre, war der Elf schon eine sehr eindrucksvolle Erscheinung. Hochgewachsen und von schlankem Wuchs wie alle seines Volkes, wies er doch einige Ungewöhnlichkeiten auf. Einen Hauch blasser als die der meisten Elfen, stand seine Haut in auffälligem Kontrast zu seinem langen blauschwarzen Haar und den strahlenden goldenen Augen. Seine Kleidung war typisch für einen Hochelfen; Grün- und Brauntöne dominierten, doch er trug echte Elfenseide, die auch unter den Elfen selbst selten und kostbar ist, was für eine vornehme Herkunft sprach. Sowohl auf den leichten Schuhen, der knöchellangen Hose und dem kurzärmligen Hemd waren überall unauffällige Ornamente angebracht, welche die Verehrung des jungen Mannes für die Sonne zeigten, der seine Familie besonders verbunden war und der sie ihren Familiennamen gewidmet hatte.

Ja, Feodali Sonnenkind war eine interessante Persönlichkeit. In einer Menschenstadt hätte er sicherlich keine zehn Schritte gehen können, ohne bewundernde oder gar verlangende Blicke von Frauen jeden Alters zu ernten. Wäre er dort gewesen, hätte er diese Blicke wahrscheinlich sogar genossen. Doch er war, wie die meisten Hochelfen, nie in einer Stadt gewesen. Und selbst wenn, seine Blicke, sein Tanz und sein leidenschaftliches Flötenspiel verrieten, dass es für ihn derzeit nur ein Wesen gab, was ihn wirklich bezaubern konnte, nämlich die Elfe an seiner Seite.

Dalewina Buchenherz vereinte das Beste ihrer Eltern in sich. Die verführerischen großen Augen, die unschuldig und doch geheimnisvoll violett in die Welt blickten wie geschliffene Amethyste, ließen die Neugier und Abenteuerlust Feylarions, ihres Vaters, erkennen. Der zierliche Wuchs, die schönen Züge und ihr Talent für Kunst, Magie und Sprachen jedoch stammten unzweifelhaft von ihrer Mutter Aitharana. Das kurze grüne Kleid, das die Mutter für sie angefertigt hatte, schien wie aus unzähligen Buchenblättern zusammengefügt, denn auch Dalewina liebte den Baum, den ihre Familie verehrte.

Besonders die rätselhafte Blutbuche hatte es ihr angetan, so wie überhaupt alles, was ein wenig rätselhaft und ungewöhnlich war. Wahrscheinlich hatte es auch daran gelegen, dass sie sich so schnell in Feodali verliebt hatte. Alle Mitglieder der Sippe Sonnenkind hatten diese leicht blasse Haut, die dunklen Haare und die goldenen Augen. Ein Nichtelf hätte sich wohl gefragt, wieso eine Sippe, die rein äußerlich offenbar so wenig mit der Sonne zu tun hatte, sich ihr so nahe fühlte, dass sie den Namen Sonnenkind gewählt hatte, doch die Hochelfen aus Dalewinas Wald hatten solche Fragen natürlich nicht gestellt und ihre Brüder und Schwestern freundlich aufgenommen.

Seit nunmehr knapp drei Wochen verbrachten Dalewina und Feodali jede freie Minute miteinander, und ihre Eltern sorgten dafür, dass sie davon so viele bekamen, wie es ihre Pflichten zuließen. Der heutige Morgen hatte so strahlend begonnen, dass sie unabhängig voneinander sehr früh erwachten und sich zu ihrem geheimen Treffplatz aufmachten, an dem sie auch fast gleichzeitig ankamen.

Beide hatten den Wunsch verspürt, den Tag zusammen zu genießen, und die Kristallfälle, die ein Juwel der Natur und der Lieblingsort aller Verliebten des ganzen Waldes waren, sollten heute ihr Ziel sein. Die jungen Liebenden spürten an diesem Morgen das unsichtbare, aber sehr starke Band, dass sie mit jedem Tag fester aneinander zu binden schien, und sie genossen dieses Gefühl. Unausgesprochen hing der Gedanke wie ein Versprechen zwischen ihnen in der Luft, dass sie eines Tages eine Seelenhochzeit feiern würden, jenes feierliche Ereignis, mit dem sich zwei Seelen bis in den Tod vereinigen würden und das auch unter Elfen eine Seltenheit war.

Minuten verflogen wie Herzschläge, als sie ausgelassen und fröhlich durch den Wald tanzten, sie hatten weder Gefühl noch Sinn für die Zeit und die Umgebung. Sie sahen, hörten und spürten nur die Nähe des anderen. So war Dalewina zunächst überrascht, als das Spiel ihres Gefährten plötzlich abbrach und er mit einem staunenden, ehrfürchtigen Ausdruck auf dem Gesicht innehielt. Mit einem Male drang ein majestätisches Rauschen an ihre Ohren und sie wandte sich um.

Vor ihnen lagen die Kristallfälle. In ihrer Verliebtheit hatten sie nicht bemerkt, dass sie die weite Strecke von ihrem Treffplatz zu den Fällen schon zurückgelegt hatten. Fast hundert Meter hoch und etwa zwanzig Meter breit fielen hier die Wassermassen einer hochgelegenen Gebirgsquelle aus den Coriolysbergen in das Tal, in dem der Elfenwald lag. Gischt spritzte wie Nebel weit in das Tal hinein. Die Strahlen der Morgensonne brachen sich in diesen Nebeln und zauberten zarte Regenbogenbrücken in die Luft, von feinstem Gelb bis zum dunkelsten Violett, so wie es auch die reinen Kristalle vermochten, von denen dieses Wunder der Natur seinen Namen hatte. Dalewina erinnerte sich an ihre Gefühle, als ihr Vater ihr das erste Mal die Kristallfälle gezeigt hatte. Sie konnte Feodalis Überraschung gut verstehen. Er erblickte sie heute zum ersten Mal.

Schweigend nahmen sich die beiden Elfen bei den Händen und sahen dem gewaltigen Schauspiel ergriffen zu, nahmen die Schönheit der Szene vor ihnen in ihre Herzen auf. Immer wieder veränderten Windstöße oder der Zug der Wolken das Bild, das die Sonne in die Gischt malte wie ein großer Künstler mit einem überirdischen Pinsel. Und während sie dort so standen, verspürten sie einen tiefen Frieden.

Frieden mit sich selbst, mit der Natur und allem Leben darin. Sie waren eins mit all diesen Dingen, waren das Wasser und die Sonnenstrahlen, waren die Regenbögen und alle Farben und blieben doch sie selbst, sahen die Welt so, wie es unter den sterblichen Wesen nur die Elfen vermögen.

Schließlich war es Feodali, der sich als erster aus dem Zauber löste. Mit sanftem Druck zog er Dalewina ein Stück beiseite, bis sie den Wasserfall nur noch hören konnten. Mit einem leisen Seufzer setzte er sich in das hohe Gras. Dalewina spürte, dass er ihr etwas sagen wollte und ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um die rechten Worte zu finden.

„Das war einfach wundervoll“, begann er schließlich. „Da, wo wir früher gelebt haben, gab es nur einen stillen See, aber kaum bewegtes Wasser. So ein Schauspiel habe ich noch nie gesehen.“ „Ja, die Kristallfälle sind sehr schön. Ich erinnere mich, dass mein Vater sie mir zeigte, als ich noch ein kleines Kind war, gerade alt genug, um dieses Wunder verstehen zu können. Feylarion hat immer gewusst, was er mir wann zu zeigen hatte.“

Dalewinas Blick schweifte bei diesen Worten in die Ferne. Unbewusst begann ihre rechte Hand, die schmalen Linien der auf ihrem Kleid gestickten Blätter entlang zu fahren. Feodali musterte sie in diesem unbeobachteten Moment. Wie schön sie doch war! Sein Leben hatte einen ganz neuen Sinn bekommen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. In diesem Augenblick wusste er, dass sie wahrhaft füreinander bestimmt waren, was es ihm leichter machte zu tun, was er sich vorgenommen hatte.

Abwesend wischte er einige Gischtspritzer von seinen Lederstiefeln, während er die Knie zum Körper zog und seinen Mut sammelte. „Mein Herz“, begann er langsam und mit der bedächtigen, weichen Stimme, die Dalewina so liebte, „ich habe lange und gründlich über das, was ich jetzt tun werde, nachgedacht. Ich möchte dir etwas schenken. Etwas, das mir und meiner ganzen Familie sehr viel bedeutet.“ Er holte das kleine Beutelchen aus grüner Seide hervor, das er immer an einer dünnen Lederschnur um seinen Hals trug, öffnete es und ließ den Inhalt auf seine Handfläche fallen.

Dalewina war mit einem Mal sehr neugierig. Schon lange hatte sie wissen wollen, was in diesem Beutel war. Als sie den Gegenstand erblickte, hielt sie unwillkürlich die Luft an und ihre Augen weiteten sich. Auf der Handfläche ihres Geliebten lag ein vollkommener Feueropal, das Licht der Sonne, das er einfing, ließ ihn von innen erstrahlen wie einen vom Himmel gefallen Splitter der Sonne selbst. Er war perfekt kugelförmig und atemberaubend schön.

Mit einem schüchternen Lächeln ließ Feodali den Stein in ihre Hand gleiten. Dalewina konnte sich gar nicht erinnern, diese ausgestreckt zu haben, aber der Stein schien über eine ganz eigene Anziehungskraft zu verfügen.

„Wenn du es gestattest, soll dies mein sih’ladaya sein“, flüsterte Feodali. Der Opal schien in Dalewinas Hand plötzlich zu brennen, als ob er wirklich aus Sonnenglut wäre. Ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Freude, fast schmerzhaft spürte sie es gegen ihre Rippen hämmern. Sih‘ladaya! Das traditionelle Geschenk eines Elfen an die Frau, mit der er sein Leben verbringen möchte!

„Oh Feodali! Du machst mich zum glücklichsten Wesen dieser Welt. Nicht“, fügte sie mit einem kecken Augenaufschlag hinzu, „nicht, dass ich das nicht auch ohne dieses wunderbare Geschenk gewesen wäre. Aber es tut sooo gut, einen Teil deines Herzens in meinen Händen zu halten.“ Hier stahl sich ein spitzbübisches Lächeln auf das Gesicht der Elfe, als sie den Opal in eine kleine Tasche ihres Kleides steckte. Feodali setzte eine übertrieben finstere Mine auf und warf sich mit einem gespielten Knurren auf sie. Augenblicke später rollten sie ineinander verschlungen über das Gras, und ihr plötzliches ausgelassenes Lachen scheuchte Dutzende von Vögeln von den nahen Bäumen auf.

Doch noch etwas anderes bemerkte ihre Heiterkeit. Eine Blume drehte mit einem Male ihre Blüte den beiden Liebenden zu. Es war ein merkwürdiges Gewächs, kaum größer als ein Löwenzahn und auch so ähnlich gewachsen, doch mit einer Blüte wie eine Lilie. Helles Violett, Gelb und Schwarz bildeten ein verwirrendes Muster, das kein Pflanzenkundiger Dorimars erkannt hätte, denn eine solche Blume hatte noch niemand gesehen. Wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, die Blume zu fragen, hätte sie geantwortet, dass es eine Blume wie sie eigentlich auch nicht gab, wenn sie sich denn überhaupt zu einer Antwort herabgelassen hätte. Doch so begnügte sie sich damit, die beiden Elfen, die nun wieder still lagen, mit verborgenen Sinnen zu beobachten. Noch nicht, dachte sie bei sich.

Lange Zeit lagen die Elfen schwer atmend nebeneinander im Gras, violette Augen blickten tief in goldene, zwei Seelen versuchten, einander zu erforschen. Jeder erblickte tiefe, ehrliche Liebe in den Augen des anderen, ein unausgesprochenes Versprechen und ein Verlangen nach Nähe, sowohl nach körperlicher als auch nach seelischer. Langsam wuchs eine Spannung zwischen ihnen, als die Blicke tiefer drangen, das Entgegenkommen des anderen spürten und das Kribbeln im Bauch, das bei allen Wesen, die zur Liebe fähig sind, ein Zeichen für wachsende Erregung ist. Schließlich, als die Spannung schier unerträglich zu werden schien, entlud sie sich endlich in einem langen, zärtlichen Kuss.

Während dieser Kuss immer länger und leidenschaftlicher wurde, rollte dicht neben den Liebenden die Blume gedanklich mit den Augen. Liebe und Zärtlichkeit waren Dinge, die ihr nichts bedeuteten und die sie nicht einmal wirklich begreifen konnte. Doch ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, denn schließlich lösten sich die Lippen der Elfen voneinander.

Dalewina strich Feodali spielerisch durch das dunkle Haar. Sie wusste, dass er sich so nach einer völligen Vereinigung von Körper und Seele sehnte wie sie, doch sie wussten auch beide, dass dies weder der rechte Ort noch die rechte Zeit war. Doch heute Nacht, wenn die Sterne am Himmel stehen würden, hätten sie immer noch genug Zeit für die Liebe. Jetzt aber musste sie noch auf sein Geschenk reagieren.

„Ich hatte im Stillen gehofft, dass du mir ein sih‘ladaya schenken würdest. Und so habe ich auch ein Geschenk für dich. Es hat keine tiefere Bedeutung außer der, dass meine Liebe darin steckt.“ Aus der gleichen Tasche, in die der Opal verschwunden war, zog sie eine kleine Lederkette hervor, an dem ein hölzerner Anhänger baumelte.

„Vater sagte mir vor Jahren, dass dies“ – sie deutete auf den Anhänger – „bei den Menschen ein Herz darstellt und ein Zeichen der Liebe, die im Herzen wohnt. Ich habe es immer bewundert, wie sie so große Dinge in so einfache Symbole kleiden können. Deshalb habe ich dieses Amulett für dich gemacht, noch am gleichen Abend, als ich dich das erste Mal sah. So, als hätte ich da schon gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde.“

„Du hast es gewusst, ganz tief in deinem Herzen, Dalewina. Wir haben es beide gewusst.“ Bewegt nahm er die Kette aus ihrer Hand und legte sie an.

Oh, wie ich dieses sentimentale Geschwätz verabscheue, dachte die seltsame Blume. Wenn das so weitergeht, ist es Nacht, bevor sie zum Wesentlichen kommen.

Ein weiterer Kuss besiegelte das gerade Gesagte, doch war dieser bei weitem nicht so lang und leidenschaftlich wie der erste. Noch war die Zeit des Redens nicht vorbei.

„Erzähle mir etwas über den Opal. Wieso bedeutet er deiner Familie so viel? Sicherlich ist es nicht sein Wert in Gold, nur die Menschen und die Zwerge binden sich so an materielle Dinge“, nahm Dalewina den Faden wieder auf.

Na also, Mädchen! Nun wird es endlich interessant, nicht wahr? Wenigstens auf die Neugierde der Frauen kann man sich noch verlassen! Das gedankliche Gegenstück eines bösartigen Lachens zuckte durch das Bewusstsein der Blume. Einige Käfer und andere Kleintiere begannen, von dem seltsamen Gewächs fortzukriechen.

„Dafür, dass du nie aus deinem Wald herausgekommen bist, weißt du eine Menge über andere Völker, das erstaunt mich immer wieder“, sagte Feodali. Er hatte sich wieder bequem ausgestreckt, als die starke Anspannung seiner Ankündigung abgeklungen war und ruinierte damit gerade seine Bluse im Wiesentau.

„Mach dich nicht über mich lustig“, gab Dalewina ein wenig schnippisch zurück. „Du weißt genau, dass ich mein Wissen von meinem Vater übernommen und es nicht selbst erworben habe.“

Feodali zog gekränkt eine Augenbraue hoch. Er hatte seine Worte ernst gemeint. Insgeheim bewunderte er Dalewina und auch Feylarion wegen ihrer „unelfischen“ Fähigkeiten. Sie mochte nicht so geschliffen Konversation betreiben oder außerordentlich kunstvoll musizieren können, aber er erkannte in ihr eine Stärke, die für ihr Alter ungewöhnlich war. Sie war stark im Willen, stark in der Magie und sogar körperlich stärker als jede andere Elfe, die er kannte – die ausgebildeten Kriegerinnen einmal ausgenommen. Und sie ahnte nichts von ihren Talenten.

„Schau nicht wie ein waidwundes Reh“, stichelte Dalewina, jetzt schon wieder mit einem kecken Lächeln auf den Lippen. „Erzähl mir lieber die Geschichte des Opals.“

Feodali grinste, erleichtert, dass diese kleine Spannung so rasch wieder verflogen war. Er atmete tief ein und begann. „Die Großeltern meines Großvaters bekamen diesen Stein von einem Freund, dem sie einmal das Leben gerettet haben. Er war ein Magier.“

„Ein Mensch?“ unterbrach Dalewina ihn verwundert. Er nickte.

„Sie fanden ihn eines Morgens bei einem Spaziergang, mitten im Wald. Niemand hatte ihn kommen sehen oder hören, weder die Wachen noch die Schutzzauber hatten ihn gehindert. Es schien fast so, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Wie sich später herausstellte, war es auch so. Er hatte einen irren Blick, und obwohl er noch sehr jung war, durchzogen bereits weiße Strähnen sein schwarzes Haar. Und seine Augen! Sie waren schwarz wie die Nacht! Das ist bei Menschen sehr selten, glaube ich. Es schien, als hätte er mehr gesehen, als ein einzelner Geist verkraften konnte.“ Feodali schwieg einen Moment.

Wie wahr, wie wahr. Aber für das Leid anderer hattet ihr Elfen ja schon immer viel Mitgefühl. Das ist eure tödliche Schwäche, nur weißt du es noch nicht, mein törichter Freund! höhnte die seltsame Blume.

„Er war iriflaya, verdorben an Seele und Verstand, ganz ohne Frage. Doch wie er da so wimmernd und völlig verängstigt vor ihnen im Gras lag, brachten sie es nicht über ihr Herz, ihn einfach davonzujagen. Sie brachten ihn zu den Ältesten der Sippe, damit diese ihm helfen konnten. Doch die Ältesten beschlossen, dass er gefährlich sei und deshalb den Wald verlassen müsse. Sie wehrten sich gegen diesen Beschluss, konnten aber nicht verhindern, dass der Unglückliche am nächsten Morgen von einigen Wächtern zum Waldrand geführt wurde. Doch als sie ihn schon zurücklassen wollten, wurden sie plötzlich hinterrücks von Orks überfallen. Sie wurden völlig überrascht, offenbar waren die Grünhäute mit Hilfe eines ihrer Schamanen unbemerkt näher geschlichen. Die Hälfte der Elfen war bereits schwer verwundet, als der Zustand der Umnachtung mit einem Male von dem Magier abfiel. Mit nur einem einzigen Zauber verwandelte er die Hälfte der Orks in Stein. Drei weitere zerfielen zu Asche, von feurigen Strahlen getroffen. Der Rest floh in hellem Entsetzen. Danach umhüllte der Wahnsinn seinen Geist wieder, doch keiner der Elfen war gestorben, was sie ausschließlich ihm verdankten. So kam es schließlich, dass meinen Vorfahren doch noch erlaubt wurde, dem armen Menschen zu helfen.“

„Haben sie es geschafft? Wie konnten sie eine solch schwere Krankheit heilen?“ Dalewina war sprachlos, die Geschichte hatte sie gefesselt. Fast meinte sie, den Schrecken des Orküberfalls oder die Not des Menschen spüren zu können.

„Mein Vorfahr verstand sich ausgezeichnet auf die Wege, eine Seele zu heilen, und seine Frau gab ihm ihr viraya, um ihn zu unterstützen. So heilten sie ihn mit vereinten Kräften von seinen furchtbaren Erinnerungen.“

„Was waren das für Erinnerungen?“fragte Dalewina bestürzt. Feodali schüttelte den Kopf. „Sie werden es wohl gewusst haben, aber soweit ich die Geschichte kenne, bat er sie, das als Geheimnis zu bewahren, und sie erfüllten ihm diesen Wunsch. Es ist der einzige Teil der Geschichte, den sie nicht an meinen Großvater weitergaben.“

Dalewina war ein wenig enttäuscht, Feodali konnte es ihr ansehen. „Manche Fragen sollten besser unbeantwortet bleiben“, sagte er. Sie seufzte. „Vielleicht hast du Recht. Wie ging es weiter?“

„Sie heilten den Magier nicht nur. Durch die viele Zeit, die sie mit ihm verbrachten, lernten sie ihn auch gut kennen und schätzen. Er muss wohl ein sehr außergewöhnlicher Mensch gewesen sein, denn es entstand bald eine tiefe und innige Freundschaft, was ja nicht gerade häufig vorkommt zwischen unseren Völkern.“

Glücklicherweise, kam der trockene, doch ungehörte Gedanke von der Blume, die dem Gespräch mit stetig wachsender Anspannung folgte. Ein unangenehmer Duft nach Fäulnis stieg von ihr auf und ihre violetten Blätter glänzten kränklich, während sie sich immer mehr konzentrierte. Selbst die geistlosesten Geschöpfe des Waldes eilten jetzt so schnell sie konnten von ihr fort.

„Jedenfalls verbrachten sie viel Zeit miteinander. Fast ein Jahr blieb der Mensch bei ihnen, und als es für ihn Zeit wurde zu gehen, gab er ihnen diesen Opal zum Geschenk. Damals war er noch in ein feines Schmuckstück aus Silber eingefasst und bildete mit diesem zusammen eine vollkommene Feuerlilie.“

„Oh, das hätte ich schrecklich gerne gesehen! Ich wusste gar nicht, dass menschliche Magier so etwas herstellen können!“ Dalewinas Staunen amüsierte den weniger gelehrten, aber wesentlich welterfahreneren Feodali sehr.

„Menschen lassen sich nicht so einfach einordnen. Sie können einen auch nach vielen Jahren noch überraschen und tun unerwartete Dinge. Warum sollte es also nicht einen begabten Kunstschmied unter ihren Magiern geben? Und, wie ich sagte, war dieser eine wohl ein sehr außergewöhnlicher Mensch.“

In der Tat! Aber wenn du jetzt endlich zum Kern der Sache kommen könntest, dann müsste ich hier nicht länger Wurzeln schlagen. Einen Moment lang amüsierte sich die Blume über ihr Wortspiel.

„Wieso ist der andere Teil des Schmuckstücks nicht mehr da?“ wollte Dalewina wissen.

Mädchen, du spielst hervorragend mit! kam erneut ein bösartiger Gedanke aus der Nähe, doch wie alle anderen verhallte er von den Elfen ungehört. Die Blume war sich ihrer Sache inzwischen sicher: dieses Gespräch würde die Ereignisse in Gang setzen. Sie sandte einen konzentrierten Gedanken in eine Richtung, in die kein Sterblicher folgen konnte. Wenige Augenblicke später erhielt sie Antwort: Noch nicht. Die Kraft hinter diesem Gedanken war so stark, dass einige Gräser neben der Blume auf der Stelle verdorrten. Auswirkungen auf anderes Leben gab es nicht, denn außer den Elfen und den Gewächsen des Waldes, die sich nicht fortbewegen konnten, gab es inzwischen keine Lebewesen mehr in der Nähe der widernatürlichen Blume.


Der Mann erwachte mit einem schmerzhaften Keuchen. Für einen Moment fühlte er sich orientierungslos, bis seine Sinne ihm die vertraute Umgebung seines Schlafgemachs zeigten. Unwillig wischte er mit der rechten Hand die feinen Schweißperlen von der Stirn, während die Linke die Herzgegend massierte. Er hatte tief und traumlos geschlafen, doch mit einem Mal hatte er eine Schwingung verspürt, die ihn aus dem Traumland gerissen hatte. Er kannte diese Schwingung, doch noch konnte er sich nicht erinnern, woher.

Rasch prüfte er geistig die verschiedenen Schutzzauber, Barrieren und Wächter, die sein Heim umgaben. Sie waren alle intakt, bereit und nicht ausgelöst worden. Was immer ihn geweckt hatte, musste mehr auf einer instinktiven als auf einer materiellen Ebene gewirkt haben. Und zu so einem Effekt gehörte große Kraft. An Zufälle, schlechte Träume oder einen verdorbenen Magen glaubte er in Zusammenhang mit solchen Vorkommnissen schon seit langer Zeit nicht mehr.

Grüblerisch schlüpfte der Mann in einen schlichten Morgenmantel. Dieses unerwartete Ereignis machte ihn blind für die Schönheit des gerade angebrochenen Tages. Er mochte keine Geheimnisse, wenn sie ihn so unvorbereitet ansprangen.

Langsam ging er die Wendeltreppe neben seinem Schlafgemach nach oben, bis er den Raum erreicht hatte, in dem er die zahlreichen Andenken seines langen Lebens hortete. Er hatte in dem kurzen Moment, als der Stich durchs Herz ihn geweckt hatte, etwas Vertrautes gespürt. Eine unangenehme, unwillkommene Vertrautheit. Prüfend glitt sein Blick über Gemälde, Bücher und zahllose kleine Gegenstände. Wenn etwas die entscheidende Erinnerung wachrütteln konnte, dann war es in diesem Raum.


„Er hat sich die Einfassung aus Silber wieder zurückgeholt“, beantwortete Feodali Dalewinas Frage. „Aber der Reihe nach. Als er ging, versprach der Magier, er würde alles tun, um einen Teil seiner Schuld bei ihnen zu begleichen. Wenn sie also jemals seine Hilfe bräuchten, sollten sie die Feuerlilie benutzen, um ihn zu finden. Er hatte wohl irgendeinen Zauber auf das Schmuckstück gelegt. Einige Jahre später war dieser Zeitpunkt gekommen, denn ein verhängnisvolles Übel hatte unseren friedlichen Wald heimgesucht. Eine grausame Ter’caala, die des Nachts umging, um das Blut der Lebenden zu trinken!“

Ein kalter Schauer lief Dalewina über den Rücken. Wenn sie sich auch zuweilen nach Abenteuern sehnte, dies war eine Kreatur, der sie sicherlich nicht begegnen wollte!

„Meine Vorfahren riefen schließlich ihren menschlichen Freund herbei, nachdem viele Mitglieder unserer Sippe der Ter’caala zum Opfer gefallen waren und auch die Ältesten keinen Rat mehr wussten. Er kam, wie er es versprochen hatte und vernichtete sie innerhalb einer einzigen Nacht. Er muss wahrlich mächtig geworden sein in der Zwischenzeit. Als er einige Tage später wieder ging, sagte er, dass die Hälfte seiner Schuld beglichen sei, und nahm die silbernen Blätter der Lilie wieder an sich. Doch die Freundschaft meiner Vorfahren zu dem Magier dauerte noch lange an, auch ohne den Rest des Schmucks, den niemand von uns je wiedergesehen hat. Er soll sie bis ins hohe Alter so oft besucht haben, wie es ihm möglich war. Sie haben nie erfahren, wann er gestorben ist, doch schließlich kam er nicht mehr. Sie benutzten den Stein nie wieder seit jenem ersten Mal, und auch kein anderer unserer Familie. Doch er war für uns stets ein Zeichen für unverbrüchliche Treue und Liebe, sogar über die Grenzen unserer Rasse hinaus. Diese Bedeutung hat der Stein immer noch und wird sie auch immer behalten, selbst wenn seine wahre Magie inzwischen längst verloschen ist.“

„Ist sie das denn wirklich? Ich dachte, ich könnte die Kraft fast spüren, die auf ihm liegt.“ Dalewina machte ein ängstliches Gesicht. „Ist es etwa etraya?“

„Nein“, beruhigte Feodali sie. „Es ist immer noch Kraft in dem Stein, das ist wahr. Aber ich glaube nicht, dass es etraya ist, denn schließlich hat sie Gutes gebracht. Ich meine nur, dass sie ihren Sinn verloren hat, denn der Magier, den meine Vorfahren mit dem Stein rufen konnten, ist nunmehr seit mindestens 400 Jahren tot. Ich habe allerdings herausgefunden, dass ich meinen Vater, der diesen Stein sehr lange trug, jederzeit mit Hilfe des Steins finden kann, wenn ich mich darauf konzentriere. Es scheint, dass seine Kräfte noch immer dazu gut sind, jeden vorherigen Träger des Steins zu finden. Es ist nur so ein Gedanke, aber wenn es so sein sollte, dann soll niemand anders als du diesen Stein haben, denn nichts wünsche ich mir mehr, als dass du jederzeit weißt, wo ich bin, damit wir uns nie verlieren können!“

Bei diesen letzten Worten war Feodali ein wenig rot im Gesicht geworden, als würde er sich über seine eigenen Gedanken wundern. Auch auf Dalewinas Gesicht zeigte sich eine leichte Röte, die aber von ihrer Rührung über die schönen Worte und das von Herzen kommende Geschenk stammte, denn kaum etwas liebt ein Elf so sehr, wie ein Geschenk von einer geliebten Person mit einer wahren und tiefen Bedeutung.

Endlich ist alles gesagt, dachte die Blume finster. Nun also können wir mit dem wirklich interessanten Teil beginnen! Erneut verließ ein konzentrierter Gedanke das merkwürdige Gewächs wie ein Pfeil, eine Botschaft mit einem unbekannten Ziel. Für einen winzigen Augenblick verblasste ihre Tarnung, durch die Anstrengung überfordert, und sie zeigte ihr wahres Gesicht: Es war das eines uralten, bösartigen Wesens, das keinen Platz in der Schöpfung hatte und sich deshalb vor deren Wächtern in der Gestalt einer harmlosen Pflanze versteckte, ein grimmiger Geist, seinem finsteren Herren treu ergeben, dem die Botschaft galt.

Der angstvolle Schrei eines Falken hallte aus nicht allzu großer Entfernung herüber. Es ist getan, dachte das Wesen. Nun kann ich wieder ruhen. Die seltsame Blüte wandte sich wieder von den Elfen ab, die kommenden Ereignisse mit Gleichgültigkeit erwartend.


Erneut entfuhr dem Mann ein schmerzhaftes Keuchen. Ohne Vorwarnung hatte ihn der Schmerz in seiner Brust erneut angefallen und wieder war er von einem Gefühl der Vertrautheit begleitet worden. Rasch eilte er zu einem schmalen, aber mannshohen Spiegel in einer Ecke des Raums und flüsterte seinem Spiegelbild einige Worte zu. Kurz darauf glomm eine kirschgroße Stelle im Spiegel auf, etwa in der Mitte seiner Brust. Es wirkte, als würde er unter seinem Morgenmantel einen kleinen Stern tragen.

Der Mann hatte diesen kleinen Trick schon oft verwendet, um magisches Wirken auf sich selbst zu entschlüsseln, denn dort, wo es sein Spiegelbild anzeigte, wirkte die Magie auch auf ihn selbst. Die Stelle war nicht exakt am Herzen, aber doch nahe genug. Er runzelte die Stirn. Konnte es sich um einen magischen Angriff handeln? Wenn ja, dann war er so subtil, dass er die Schutzvorkehrungen seines Heims nicht auslöste, was ein beunruhigender Gedanke war. Jedenfalls war dieser zweite Stich stärker gewesen als der erste und es war nicht viel Zeit vergangen.

Wieder sprach der Mann einige leise Worte, doch dieses Mal zeigte sich keine Reaktion im Spiegel. Dennoch wusste er, dass sich schützende Energien um ihn gelegt hatten. Sein Zauber würde ihn nicht vor ernsthaften Attacken schützen können, dazu war er zu allgemein und einfach. Aber solange er nicht wusste, womit er es zu tun hatte, stand ihm kein besseres Mittel zur Verfügung.

Er dachte an das Leuchten auf seiner Brust. Es erinnerte ihn an etwas, genau wie das Gefühl des Stiches selbst und es nagte an ihm, dass sich nun schon zwei Geheimnisse seiner Kenntnis entzogen, obwohl er sich sehr sicher war, dass er die Antworten kannte. Es musste etwas sein, das einmal sehr wichtig gewesen, aber inzwischen einiges oder alles seiner früheren Bedeutung für ihn verloren hatte. Seine Gedanken kehrten wieder zu den Gegenständen um ihn herum zurück.

In einer Ecke des Raumes stand eine Staffelei. Er war im Laufe der Zeit ein recht passabler Maler geworden, weil er viele seiner besonderen Erinnerungen auf Leinwand bannte. Es war für ihn eine angenehme Abwechslung zu seinem alltäglichen Tun, etwas allein mit seinen Händen zu schaffen. Überall an den Wänden des halbrunden Raumes hingen auf Augenhöhe hinter kleinen Vorhängen, die sie vor dem Sonnenlicht schützten, kleine Bilder, die besondere Augenblicke seines Lebens zeigten. Bild für Bild ging er sie durch. Die ersten übersprang er rasch, da sie die jüngere Vergangenheit zeigten und er nicht glaubte, dass sich dort eine Antwort verbarg. Je älter die Bilder wurden, desto länger verweilte sein Blick.

Doch erst als er bei den letzten und ältesten Bildern angekommen war, begann sich seine innere Stimme zu regen, was ihm anzeigte, dass er auf der richtigen Spur war. Schließlich kam er zum ältesten seiner Bilder. Er hatte es lange nicht mehr betrachtet, da die Ereignisse, die es beschrieb, so unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt waren, dass er die bildhafte Erinnerung eigentlich nicht brauchte. Doch hier versteckte sich die Antwort im Detail. Und mit einem Mal sah er es.

Winzig klein in der Darstellung, doch mit einem Leuchten, wie er es gerade im Spiegel gesehen hatte. Eine künstlerische Freiheit, um die Bedeutung eines Gegenstandes herauszustellen, der aus eigener Kraft nicht leuchten konnte. Er wandte sich rasch zu einem Regal um, wo auf samtenen Kissen einige Schmuckstücke von auserlesener Schönheit lagen. Hastig wanderte sein Blick die Reihe entlang, bis… da! Ein silbernes Blitzen, ein Stück einfache Lederschnur.

Er griff in das Regal, holte die feingliedrige Silberarbeit heraus und hing sich das Schmuckstück um den Hals. Es kam genau an der Stelle zum Liegen, wo das Leuchten im Spiegel zu sehen gewesen war. Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf den Zügen des Mannes breit, als er die Lösung des Rätsels erblickte.

Doch die Zufriedenheit währte nur für einen Moment, als ihm klar wurde, dass das noch nicht die endgültige Lösung sein konnte. Er blickte das Schmuckstück an. Anmutig und perfekt geformt wie es war, war es doch nicht vollständig. Es fehlte ein entscheidender Teil – und dieser Teil war vermutlich die eigentliche Lösung, denn der in seinem Besitz befindliche Teil, so schön er auch war, besaß keinerlei besondere Fähigkeiten. Der andere jedoch…

Plötzlich weiteten sich die Augen des Mannes und ein Ausdruck tiefen Entsetzens, ja von Panik, erschien darin. Für einige kostbare Augenblicke konnte er keinen klaren Gedanken fassen, als eine ungeheure Vermutung in ihm hochstieg. Verzweifelt durchsuchte er die ansonsten so geordneten Regale seines Gedächtnisses, doch die Angst, die ihn mit einem Mal überfallen hatte, behinderte ihn schwer. Wie lange war die letzte Attacke – denn das es sich um eine solche handelte, stand für ihn nunmehr fest – jetzt her? War schon so viel Zeit verstrichen wie zwischen der ersten und der zweiten? Spielte das überhaupt eine Rolle oder war die zeitliche Abfolge nicht konstant, sondern von anderen Ereignissen abhängig?

Mit einer ungeheuren Willensanstrengung zwang sich der Mann, die Augen zu schließen und mehrere Male tief durchzuatmen, ohne an etwas zu denken. Langsam verebbte das panische Chaos in seinen Gedanken. Und kaum war wieder Ruhe in seinem Geist eingekehrt, erinnerte er sich an ein Schutzritual, das ihm hier möglicherweise helfen konnte. Rasch begab er sich in den Nebenraum, bewaffnete sich mit einem großen Stück roter Kreide und begann, eine mystische Figur auf den blankpolierten Marmorboden zu malen.


Mit einem Mal zeigte sich Besorgnis in Feodalis Miene. „Was hast du denn?“ fragte Dalewina verwirrt, der plötzliche Stimmungswechsel hatte sie überrascht.

„Hast du den Falkenschrei gehört?“ fragte Feodali. „Der Falke ist mein Seelenvertrauter wie du weißt, deshalb verstehe ich ein wenig von seiner Sprache, auch wenn ich in meiner Elfengestalt bin und nicht in meiner Falkengestalt. Dieser Falke flog sehr hoch, dennoch war sein Schrei voller Angst. Einen Falken in dieser Höhe beunruhigt nicht viel.“

Obwohl Feodali das Wesentliche nicht gesagt hatte, wurde Dalewina mit einem Mal von einer kalten Furcht ergriffen. Offenbar befand sich etwas Gefährliches in ihrem Wald, und es war nicht weit von ihnen entfernt. Sie blickte Feodali an und sah, wie ein dünnes Lächeln auf seinem Gesicht langsam breiter wurde.

„Oh nein! Nein, nein, nein!“ begann sie, doch er schnitt ihr das Wort ab. „Doch, wir müssen nachsehen, was den Falken erschreckt hat. Es könnte gefährlich für uns alle sein, deshalb müssen wir herausfinden, was es ist.“

„Du denkst doch nur an Abenteuer! Es geht dir doch nicht darum, die anderen zu warnen! Und wenn es zu gefährlich sein sollte?“ Dalewinas Stimme nahm einen hektischen Ton an. Dieser wunderschöne Morgen durfte nicht mit einer Katastrophe enden!

Feodalis Antwort war trocken: „Du bist doch diejenige, die dauernd von Abenteuern und fremden Dingen redet. Also, hier ist deine Gelegenheit, ein bisschen Abenteuer zu kosten.“ Mit diesen Worten erhob sich der junge Elf mit einer fließenden Bewegung, deren Eleganz Dalewina sonst vielleicht bewundert hätte, und lief in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.

„Warte“, rief die Elfe ihrem Gefährten hinterher. Eilig stand sie auf und lief hinter ihm her. Mit seiner Kleidung aus grüner und brauner Elfenseide würde er selbst für ihre scharfen Augen innerhalb weniger Herzschläge mit dem Wald verschmelzen, wenn sie ihm zu viel Vorsprung ließ. Für einen Moment ärgerte sie sich über ihre eigene Kleiderwahl. Es war ihr Lieblingskleid und für einen romantischen Augenblick gemacht. Es würde sie nicht beim Laufen behindern, aber es war fast so zart wie die Blätter, die es nachbildete und würde bei einem unachtsamen Lauf im Wald oder gar einer Konfrontation mit einer gefährlichen Kreatur unweigerlich Schaden nehmen.

Weit musste sie ihn nicht verfolgen. Nach nur etwa zwei Minuten blieb Feodali wie vom Blitz getroffen stehen. Als sie ihn eingeholt hatte, warf sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, doch seine Augen sahen sie gar nicht, sondern fixierten etwas anderes. Dalewina wandte den Kopf, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Ein gequältes Stöhnen drang an ihr Ohr; es dauerte einen Augenblick bis sie bemerkte, dass sie selbst es ausgestoßen hatte.

Vor ihren Augen lag eine kleine Lichtung, die Dalewina von einem früheren Besuch her kannte. Es war hier trotz der Nähe zu den Kristallfällen immer sehr still und friedlich, doch heute hatte die Stille etwas Bedrückendes. Gar nichts ist zu hören! schoss es der Elfe durch den Kopf. Kein Vogel, kein Insekt, kein Luftzug rief ein Geräusch hervor, es war, als hätte die Zeit selbst innegehalten und würde die Szene beobachten, die sich auf der Lichtung abspielte.

Denn trotz aller Stille war dort Bewegung. Geisterhafte, unnatürliche Bewegung. Genau in der Mitte der Lichtung hing ein schimmerndes Oval einige Fingerbreit über dem Boden. Es war so, als hätte jemand mit einem Messer ein scharf umrissenes Stück aus der Wirklichkeit herausgeschnitten und durch etwas völlig anderes ersetzt. Das Licht war sehr grell, aber es verbreitete keine Wärme, sondern nur Helligkeit. Es war ein grausames Licht, kalt und gefühllos.

„Ist es nicht wundervoll?“ flüsterte Feodali ehrfürchtig. „Wundervoll? Es ist erschreckend! Komm weg von hier, dieses... Ding macht mir Angst!“ erwiderte sie.

Doch Feodali schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben, sein Blick war starr nach vorne gerichtet. Seine Stimme war völlig ruhig, fast schon schlaftrunken, als er schließlich doch antwortete. „Ich muss mir das aus der Nähe ansehen.“

„Nein, Feodali! Bleib hier, bitte!“ flehte Dalewina, aber er schien sie nicht zu hören. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, doch er machte im gleichen Augenblick einen Schritt nach vorn und sie glitt von der weichen Elfenseide ab. Sie wollte ihm folgen, doch der kalte Glanz des fremdartigen Gebildes lähmte ihre Beine. Sie versuchte noch einmal, ihren Geliebten zur Vernunft zu bringen. „Komm zurück! Lass uns zu Vater gehen, er wird wissen, was zu tun ist. Dieses Ding ist gefährlich, kannst du es denn nicht fühlen?“

Feodali nahm entfernt wahr, dass Dalewina etwas zu ihm sagte, doch er konnte ihre Worte kaum verstehen. Sie erreichten ihn wie aus großer Ferne, obwohl sie dicht bei ihm sein musste. Doch das beunruhigte ihn nicht, denn sicherlich sagte sie nur etwas über diese wundervolle Musik, die er die ganze Zeit hörte. Sie kam aus dem schwebenden Oval. Und was war das? Ein betörender Duft lag mit einem Mal in der Luft, ein Duft wie Sonne, Blumen und Morgentau, und auch er kam aus dem Licht.

„Was immer auch das ist, es kann nichts Böses sein“, dachte der Elf bei sich. „Und diese herrliche Wärme! Wie zur Mittagszeit, dabei ist es noch lange nicht soweit. Was für ein Glück, dass wir das gefunden haben, hier können meine Liebste und ich einen wundervollen Tag verbringen.“

Dalewina war der Verzweiflung nahe. Ihre Worte erreichten den Geliebten nicht und ihre Beine wollten ihren Befehlen nicht gehorchen. Mit einem Mal kam ihr ein Verdacht, und hastig sprach sie die Worte jenes Zaubers, der ihr das Wirken von Magie aufzeigen würde: „Shálár fedorè, ima!“ Sie war sich bewusst, dass sie noch nie zu etwas anderem als zum Vergnügen oder zum Üben Magie eingesetzt hatte und fürchtete einen Fehlschlag.

Doch kaum hatte sie die letzte Silbe ausgesprochen, schlugen fremde Eindrücke mit Urgewalt auf sie ein.

Ein schrilles Kreischen durchbrach die scheinbare Stille, während gleichzeitig eine unglaubliche Kälte ihren Körper zum Zittern brachte. Das Oval sah nun nicht mehr aus wie ein schwebender Fleck aus Licht, sondern wie der riesige Schlund eines abscheulichen Wesens. Gelbliche Schwaden waberten aus dieser Öffnung und erfüllten die Luft mit einem ekelerregenden Gestank. Mit Entsetzen sah Dalewina in diesen zuckenden Schlund hinein, der sich bis in die Ewigkeit zu erstrecken schien. Im gleichen Augenblick verblasste ihre magische Sicht.

Sie taumelte, von dem Gesehenen bis ins Tiefste erschüttert. Was war denn das? rief eine Stimme in ihr. Sie wusste, dass der Zauber ihr eigentlich nur so etwas wie ein glühendes Leuchten hätte zeigen dürfen, wenn Magie im Spiel ist, auf ein derartiges Erlebnis war sie deshalb gänzlich unvorbereitet gewesen. Als sie sich wieder gefangen hatte, sah sie wieder zu Feodali und erlebte den nächsten großen Schreck. Er stand unmittelbar vor diesem Etwas und hob gerade die Hand, um es zu berühren!

„NEIN!“ brüllte sie aus Leibeskräften. Plötzlich merkte sie, dass ihre Beine ihr wieder gehorchten, und mit einer Kraft, wie sie nur größte Angst freizusetzen vermag, rannte sie auf Feodali zu. Wie in einem Traum, in dem die Zeit zähflüssig dahin tropft, lief sie auf ihn zu. Es schien ihr, als würde sie sich unendlich langsam bewegen, während die Hand ihres Geliebten dem Licht (Licht?) immer näher kam. Feodali hatte ein verklärtes, glückseliges Lächeln auf dem Gesicht, wie ein kleines Kind, das noch kein Übel kennt. Oder wie ein Besessener! Er ist verzaubert! Die Erkenntnis durchzuckte die Elfe wie ein Blitz.

In diesem Moment berührte Feodalis Hand das Licht. Dalewina sah, wie der Ausdruck auf seinem Gesicht innerhalb weniger Herzschläge von Überraschung und Schreck zu Grauen und Panik wechselte. Sie ahnte instinktiv, dass er jetzt ebenfalls wahrnahm, was ihr der Zauber gerade schon gezeigt hatte. Sie sah auch, wie sich der junge Elf aufbäumte und nach hinten warf, doch seine Hand schien an dem Gebilde festzukleben.

„Dalewina!“ schrie Feodali, seine Stimme von Schmerz und großer Angst verzerrt. „Hilf mir! Ich ka...“ ein gewaltiger Ruck lief durch Feodalis Körper, und mit einem grausigen Aufschrei wurde er von einer unsichtbaren Kraft in das schimmernde Oval hineingezogen, so als hätte jemand seine Hand von der anderen Seite ergriffen und ihn zu sich gezerrt.

Dalewinas Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Dort verschwand ihre große Liebe in einem teuflischen Gebilde, mit ihrem Namen auf den Lippen, Stimme und Augen von Pein und Furcht gezeichnet! Nein, das konnte, das durfte nicht sein! Die Ränder des Ovals begannen mit einem Mal, ihre scharfe Kontur zu verlieren, wurden durchscheinend und faserig, begannen, sich aufzulösen. Es verschwindet! gellte es durch Dalewinas Geist. Es verschwindet und nimmt mir alles, was ich habe!

Mit einem urtümlichen Schrei und der Kraft der Verzweiflung warf sich die Elfe nach vorne. Für einen furchtbaren Augenblick dachte sie, sie würde zu spät kommen, denn die Auflösung hatte bereits das ganze Oval erfasst. Doch dann trafen ihre Fingerspitzen auf einen Widerstand und sie stürzte mit dem Rest ihres Körpers hinterher.

Von einem Augenblick auf den anderen wurde es dunkel um sie herum, und sie hatte das Gefühl, in eine zähe, eiskalte Flüssigkeit gefallen zu sein. Sie spürte, dass sie hier nicht willkommen war, ein Eindruck von Feindseligkeit drang von allen Seiten auf sie ein, während etwas anderes sie zurückzustoßen schien, fort von ihrem Geliebten. Dalewina kämpfte mit allem, was sie hatte, gegen dieses Zurückdrängen an, spürte, dass sie sich jetzt nicht zu weit von Feodali entfernen durfte, wenn sie ihn jemals wiedersehen wollte. Es war, als wollte sie eine Tür aufdrücken, die jemand von der anderen Seite schließen wollte. Sie erinnerte sich an den Ruck, der Feodali in dieses Ding hineingezogen hatte. Vielleicht war da wirklich jemand!

Dalewina fühlte einen beklemmenden Druck in der Brust und bemerkte, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte, als sie in das Licht gesprungen war. Nun begann ihr Atem knapp zu werden.

Mit neuer Verzweiflung wühlte sie sich durch die Dunkelheit. Sie ahnte, dass Feodali nicht weit vor ihr sein konnte. Rote Flecken begannen vor ihren Augen zu tanzen, der Druck auf ihrer Lunge wurde unerträglich. Schließlich konnte sie den Reflex nicht länger unterdrücken und holte japsend Atem. Sofort drang etwas von diesem zähen, dunklen Etwas in ihre Lunge ein. Es war weder fest noch flüssig, sondern mehr wie dunkles Licht oder Rauch, obwohl es ihre Bewegungen hinderte wie Morast. Übelkeit wallte in ihr auf und ein unkontrollierbarer Husten schüttelte ihren Körper, wodurch sie noch mehr von diesem unwirklichen Stoff einatmete.

Die Flecken vor ihren Augen verwandelten sich in große Flächen, nahmen dann ihr ganzes Sichtfeld ein, wobei sie stetig dunkler wurden. Mit erlahmenden Kräften kämpfte Dalewina gegen die Bewusstlosigkeit an, spürte dabei, wie sie von der schiebenden Kraft aus diesem scheußlichen Medium herausgedrückt wurde. „Feodali!“ rief sie mit letzter Kraft, auch wenn sie dabei wieder etwas von dem rauchigen Licht einatmen musste. Sie glaubte noch, ein schwaches „Dalewina“ aus der Ferne zu hören, dann verlor ihr Körper den ungleichen Kampf. Vor den Augen der mutigen jungen Elfe wurde es schwarz und sie verlor das Bewusstsein.


Benommen rappelte der Mann sich auf. Für einen Moment war er ohne Orientierung und musterte seine Umgebung verständnislos. Dann erblickte er den fünfzackigen Stern aus roter Kreide, in dessen Mitte er saß, und die fünf Kerzen an den Spitzen des Sterns. Oder das, was davon noch übrig war. Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück.

Er hatte das Pentagramm und einige weitere Symbole in dessen Sektoren gezeichnet, die Kerzen aufgestellt, entzündet und sich in die Mitte gesetzt, wo die fünf Linien einen schützenden Raum bildeten. Dort wollte er in Ruhe nachdenken, wie er der möglicherweise drohenden Gefahr begegnen konnte. Doch noch bevor er zu mehr als einigen anfänglichen Überlegungen gekommen war, hatte er eine dritte Attacke verspürt und war ohnmächtig geworden. Er blickte zu der Sanduhr, die er zu Beginn des Rituals gewohnheitsmäßig umgedreht hatte. Er war kaum mehr als eine Minute bewusstlos gewesen. Als er sich die Überreste des Pentagramms ansah, wurde ihm klar, dass es seinen Zweck trotz der für ihn deutlich spürbaren Folgen erfüllt hatte.

Die roten Kreidelinien waren wie unter großer Hitze zu durchgängigen Linien verschmolzen und leuchteten sogar schwach. Die Kerzen waren regelrecht explodiert; überall außerhalb des Pentagramms waren Wachsspritzer zu sehen. Er war froh, dass er schon gesessen und das Schutzsymbol so groß gezeichnet hatte, denn so war er nicht aus dem Schutzbereich herausgefallen, als ihm die Sinne schwanden. Da er nicht mehr hatte beobachten können, wie sein Pentagramm genau auf die Attacke reagiert hatte, waren die Spuren der Verwüstung seine einzigen Informationsquellen.

Er berührte die nächstgelegene rote Linie. Obwohl das Leuchten große Hitze vermuten ließ, war die Linie kälter als eine Polarnacht. Der Mann nickte. Es bestätigte seine Vermutung über die Herkunft der fremden Kraft. Die Explosion der Kerzen deutete auf eine einzelne, spontane und sehr machtvolle Einwirkung hin und nicht auf eine Einwirkung über einen längeren Zeitraum. So subtil die Kraft bei den ersten beiden Attacken auch vorgegangen war, diese dritte war einfach nur brutal gewesen. Die ersten beiden Effekte waren vermutlich nur ein Sondieren gewesen, ein Ausspähen, bis das Ziel klar im Blick des Angreifers lag.

Der Mann seufzte. So naheliegend und logisch ihm diese Schlussfolgerungen auch erschienen, es gab dabei noch zu viele Ungereimtheiten. Warum hatte es überhaupt Anzeichen dieser Attacke gegeben? Die Schutzzauber seines Heims waren selbst nach diesem letzten, machtvollen Angriff nicht ausgelöst worden, der Angreifer wusste also, wie man so etwas umging. Aber trotzdem war er nicht in der Lage gewesen sein, seine Sondierung zu verbergen, obwohl das wesentlich einfacher war? Und dann das Leuchten auf seiner Brust, das er vorhin im Spiegel gesehen hatte. Es war mehr die Erinnerung an einen Zauber als echte Magieeinwirkung gewesen.

Der Mann stutzte, als ihm dieser Gedanke kam. Nur eine Erinnerung? Das passte zu der Art und Weise, wie er auf das Schmuckstück gekommen war. Was, wenn der Zauber, der ihn bewusstlos geschlagen hatte, gar nicht ihm gegolten hatte? Oder vielleicht schon ihm, aber jemand anderen getroffen worden war und er die Auswirkungen nur wie ein Echo erlebt hatte?

Er bewegte diese Idee eine Weile hin und her. Es machte mehr Sinn als eine direkte Attacke. Wer auch immer die eigentlichen Auswirkungen des Angriffs zu spüren bekommen hatte, hatte vermutlich die vorhergehenden Sondierungen nicht gespürt, da sie ihm gegenüber abgeschirmt waren. Doch er, der quasi nicht auf der Rechnung des geheimnisvollen Angreifers gestanden hatte, hatte es gespürt, aufgrund einer Verbindung, die nicht allein mit Magie zu erklären war und daher auch nicht allein durch Magie aufgehalten werden konnte, was ihm der Zustand seines Pentagramms deutlich vor Augen führte. Dennoch war er froh über seine Vorsichtsmaßnahme, denn er mochte sich nicht ausmalen, was die Kräfte des Angriffs ansonsten mit ihm gemacht hätten.

Langsam erhob er sich von dem verschmierten Marmorboden. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht mehr in Gefahr war. Was auch immer gerade passiert war, so etwas brachte niemand in kurzer Zeit ein zweites Mal zustande. Er hatte einige erste Anhaltspunkte, nun musste er vor allem mehr herausfinden und seinen Spuren folgen. Ohnehin musste er sich beeilen, um rechtzeitig zu seiner Verabredung zu kommen, bis zum Mittag war es nicht mehr weit.

Mit dem sicheren Wissen, dass die nächsten Tage oder sogar Wochen nicht so erfreulich werden würden, wie er es geplant und sich gewünscht hatte, ging der Mann daran, seinen Morgenmantel gegen standesgemäßere Kleidung einzutauschen und der unerwarteten Herausforderung zu begegnen. Wie schon so oft in seinem Leben hatte man ihm nicht die Wahl gelassen, ob er die Herausforderung annehmen wollte oder nicht. Doch wie ebenso viele Male zuvor würde er sich ihr stellen. Und er würde gewinnen.


Es gab keine Beobachter außer einigen Waldtieren, als in einem Wald fernab von Dalewinas Heimat ihr lebloser Körper plötzlich mitten aus dem Nichts etwa einen Meter über dem Waldboden in der Luft erschien. Schwer schlug sie mit einem dumpfen Geräusch auf, doch zu ihrem Glück war sie über einem dick bemoosten Stück Boden erschienen, so dass ihr Sturz gebremst wurde.

Ein Eichhörnchen, das in der Nähe auf einem Baum saß und von dem plötzlichen Auftauchen des Elfenmädchens erschreckt worden war, näherte sich der Elfe neugierig.

Es hatte noch nie eine Hochelfe gesehen, doch dieses Wesen hatte einen freundlichen, vertrauten Geruch an sich, der das Tier unwiderstehlich anlockte. Vorsichtig schnüffelte das Eichhörnchen an dem regungslosen Körper. Mit seinen feinen Sinnen spürte es den Lebenshauch, der sich regte, hörte den langsamen Herzschlag und den flachen, rasselnden Atem, der aus der geschundenen Lunge des Mädchens drang. Zutraulich setzte sich das Tier neben die bewusstlose Elfe und beschloss, Wache zu halten, bis der Zweibeiner wieder zu sich kommen würde.

Dalewina erwachte mit einem Ruck. Sie hatte sich schon aufgesetzt, bis ihr klar wurde, dass sie gellend geschrien hatte, ein Schrei, der sicherlich weithin zu hören war. Es raschelte neben ihr. Ein kleines rotes Pelzbüschel huschte ein paar Schritte fort und sah sie dann vorwurfsvoll an. Dalewina blickte sich um. Alles hier war ihr fremd. Sie sah zum Himmel und erkannte, dass die vertrauten Sterne noch da waren, aber ganz anders standen, als sie es gewohnt war. Sterne? Gerade war es doch noch früh am Tag gewesen! Die Erkenntnis brach über sie hinein. Sie war weit weg von Zuhause, allein und ohne ihren Liebsten. Daraufhin tat Dalewina das einzige, wozu sie in dieser Lage noch fähig war: sie wurde wieder ohnmächtig.

Buchenherz

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