Читать книгу Mit Baťa im Dschungel - Markéta Pilátová - Страница 10

JAN ANTONÍN

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Ich überlege, wo ich anfangen soll. An welcher Stelle beginnt eine wirklich interessante Geschichte? Woran erkennt man, ob sie erzählenswert ist? Und ab welchem Punkt unterscheidet sie sich von einer ganz alltäglichen? Ich konnte das nie erkennen. Aber ich habe immer gerne geschrieben. Habe immerhin fast vierzig Manuskripte verfasst! Ich schrieb gern und viel, auch ein paar Romane sind dabei, die, nun ja, von mir selbst handeln. Was soll man machen, ich bin eben graphoman. Megaloman. Ein träumendes Kind. Das Schreiben hat mich immer gerettet, wenn ich nicht mehr aus noch ein wusste, wenn ich mich ohnmächtig fühlte, weil ich beinahe alles verloren hatte. Aber in meinen Texten steckt nicht, was ich wirklich sagen wollte. Es ist mir nicht gelungen, das Wesentliche zu berühren. Ich dachte immer, indem ich tagtäglich aufrichtig bemüht und fleißig schreibe, nachdenke, plane, arbeite und übe, dann würde mir das gelingen. Doch jetzt erkenne ich, dass es nicht gelungen ist. Damit meine ich nicht die künstlerische Qualität oder künstlerische Absicht, denn im Grunde ging es mir gar nie um Kunst – es ging mir um Wahrhaftigkeit! Um die ehrliche Schilderung meiner Erlebnisse, darum, meine Erfahrungen zu teilen. Etwas sollte nach meinem Tod von mir bleiben. Nun, ich weiß, das wünscht sich jeder, das ist nichts Besonderes. Aber ich war davon überzeugt, dass ich besonders war oder dass ich zumindest ein besonderes Leben hatte und alles festhalten musste, was mir begegnet war – das Glück und die Menschen, die mit mir gearbeitet, das Land verlassen, geträumt und meine Träume erfüllt hatten –, damit es nicht verloren ging. Am Lauf der Geschichte ließ sich nichts ändern, was geschehen war, war geschehen. Aber ich konnte meinen Blick auf die Dinge wiedergeben. Schildern, wie ich alles erlebt hatte – und nicht, wie später diese Verbrecher darüber schrieben, die eimerweise Dreck und Lügen über mir auskippten und mir alles stahlen. Und ich setzte um, was ich mir vorgenommen hatte, folgte meinen ganz persönlichen Plänen und Zielen. Ich wollte kein Schriftsteller sein, ich wollte nur ein Vorbild sein. Das mag unbescheiden klingen – na und? Ich pfeife auf Bescheidenheit, wenn sie nicht angebracht ist! Doch trotz all meinem Eifer habe ich mich nicht leichtgetan. Ich war nicht zufrieden. Und das nagte in mir. Das Bild, das ich entwarf und jeden Tag in die Maschine tippte oder jemandem diktierte, mit der Absicht, dass Tausende von Menschen es lesen würden, war irgendwie festgefahren. Es war kein Problem des Stils, immerhin waren meine Zeitungskolumnen und meine Reden deutlich besser als die von Tomi. Ich vermochte Menschen mitzureißen, sie für unsere Sache, unsere Ansichten zu begeistern. Doch wenn ich eine Geschichte zu schreiben begann und etwas Lehrreiches darin unterbringen wollte, geriet es hölzern. Als wären mir die Buchstaben in der Schreibmaschine erstarrt. Womöglich lag es daran, dass ich die Menschen, über die ich schrieb, nicht wirklich verstand. Ich konnte mir zwar einen Einblick in ihre Herzen und Leben verschaffen, aber was ich dort sah, darüber wollte ich gar nicht schreiben! Da war zu viel Belangloses, zu viel Angst und Kleinmut, Habsucht und Blindheit. Dabei wollte ich so gerne über Helden schreiben, über starke Menschen, kleine und dennoch große Leute. Denn genau das benötigte damals unsere Nation und benötigt sie im Grunde immer noch! Positive Vorbilder, große Geister für ein kleines Volk! Vermutlich war es das, was sich in meinem Schreiben im Konflikt befand: die meist doch recht armselige Realität und die Sehnsucht nach etwas Besserem, einem höheren und sinnerfüllten Ideal. Kurz und gut, ich moralisierte etwas viel und bog die Menschen, über die ich schrieb, zu sehr nach meinen Zwecken zurecht. Jetzt, mit dem Abstand der Ewigkeit, sehe ich das deutlich, aber zu jener Zeit konnte ich das noch nicht. Ich wusste nicht, dass man, wenn man übers Leben schreibt, auch von den peinlichen, kleingeistigen und schmutzigen Dingen erzählen muss, andernfalls kommen nur hochtrabende moralische Traktate dabei heraus. Die wollte ich freilich nicht schreiben, und doch schlüpften sie mir immer aus der Maschine. Es heißt, am besten sei ich als Satiriker gewesen. Wahrhaftig eine Ironie des Schicksals: Ich hatte unserer Nation Optimismus und Zuversicht einflößen wollen, aber die besten Kritiken gab es zu meinen verbitterten Satiren, die der Verzweiflung entsprangen. Nachdem mein eigener Verlag beschlagnahmt worden war, wurden meine Texte in ausländischen Zeitschriften und Exilverlagen gedruckt. Zum Beispiel in London, wo man im Jahr 1953 Satiren und Aphorismen von mir für vier Shilling kaufen konnte. Irgendein ominöser Rezensent mit dem Kürzel J.J. schrieb dazu: »Der große Unternehmer erweist sich als nachdenklicher Mann, dem es nicht allein ums Geld ging, sondern um die Leistung, die Lebensaufgabe, die Erfüllung selbstgesteckter Ziele. Bat’a wurde gleich mehrmals der Boden unter den Füßen weggezogen, und wenn er dies mit Seelenruhe annahm, sich darüber erheben konnte und nicht seinen Glauben an eine vernunftbestimmte, humane Zukunft verlor, so zeugt dies von einer außerordentlichen Persönlichkeit. In seinen Satiren zeigt er sich eher als treuer Anhänger der Volksliedtradition denn als Verfechter der kunstvollen Satire, er lässt jedoch niemanden darüber im Zweifel, was er sagen möchte. Bat’a glaubt an den Menschen und an die freie Entfaltung von dessen Fähigkeiten und Kräften, in seinem schmalen Büchlein steckt viel bejahender Glaube an die Menschheit und ihre Mission. Die Lektüre verschafft uns einen Einblick in die geistige Werkstatt eines Unternehmers, der sich dem Schicksal und den Zeiten nicht ergab.«

Glaube ich immer noch und nach allem, was war, an die Menschheit und ihre Mission? An eine vernunftbestimmte, humane Zukunft? Ich würde gerne Nein sagen. Denn nur ein Verrückter könnte nach den Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, noch an die Vernunft, die Gerechtigkeit und die Menschheit glauben, geschweige denn an eine vernünftige, humane Zukunft. Aber letztlich war ich immer ein Verrückter. Heute würde man sagen, ein »Freak«. Wie oft hat man mir das nicht vorgeworfen, wie oft haben nicht meine so rationalen Direktoren in den Fluren der Fabriken, über ihren Kaffeetassen oder geschliffenen Champagnerkelchen hinter vorgehaltener Hand über mich getuschelt oder sogar meine hehren Pläne verspottet.

Es gibt einen prägenden Moment, den ich nicht vergessen kann. Ich weiß selbst nicht, wie es genau kam, dass von damals an alles anders wurde. In der Folge konnte ich meinen eigenen Sturkopf nicht mehr ignorieren. Ich glaube, es war dieser Augenblick, als plötzlich mein Stiefbruder Tomi aus dem Gebüsch auftauchte, der mich dort beobachtet hatte, wie ich hinter den anderen Jungen herrannte, über meinem Kopf ein Seil schwingend, an das ich einen Stein gebunden hatte. Ich hatte damals meinen Arm gebrochen, der in einen schmutzigen Lumpen gebunden war, und die Jungs hatten mich deswegen verhöhnt. Mein Halbbruder Tomi war nach Hradiště gekommen, in unser ämliches Viertel Rybárny, um meine Mutter zu besuchen. Er wollte sie überreden, mich zu ihm nach Zlín ziehen zu lassen, zu ihm und seiner Frau Máňa, die auf vornehme Dame machte, damit ich dort die Bürgerschule besuchte. Meinetwegen war er in die mährische Provinz gekommen und hatte im Gebüsch versteckt beobachtet, wie ich mich gegen diese Jungen wehrte, wie ich ihnen mit dem Stein am Seil den Marsch blies. Ich selbst hatte diese Szene längst vergessen, aber er erinnerte mich später daran, und dabei klang aus seiner Stimme eine Anerkennung, die ich nicht mehr oft zu hören bekam. Ab dem Moment, als er mir das erzählt hatte, wollte ich ihn nie mehr enttäuschen, und erst recht nicht den kleinen Bengel, der einen Stein über seinem Kopf geschwungen hatte. Darüber hätte ich schreiben sollen, aber ich wusste nicht, wie. Und auf meinem Sterbebett kritzelte ich dann diese letzten Worte: Die Wahrheit wird zum Vorschein kommen wie Öl auf dem Wasser. Gleich darauf dachte ich: Aber wer interessiert sich schon für die Wahrheit?

Vielleicht sollte ich euch lieber eines meiner Gedichte vortragen. Sie waren nicht meine besten literarischen Erzeugnisse, trotzdem schrieb ich sie am liebsten. Sogar diesem Hasenfuß von Beneš schrieb ich eines zum Sechzigsten.

Zum Sechzigsten sei dem Heldenhaften,

das wünschen wir, Glück beschieden.

Er möge sein Werk der Weisheit vollenden,

dem Volk Freiheit schenken und Frieden.

Ich begreife nicht, welcher Teufel mich damals geritten hat! Offenbar glaubte ich vor dem Ende des Krieges, einem Staatsmann mit einer solch bewegten Geschichte dann doch gratulieren zu müssen, am besten mit einem schlappen Gedicht. Man möge diese Zeilen nicht nach dem Kriterium ihrer künstlerischen Bedeutung beurteilen, es war freilich nur ein typisches Gelegenheitsgedicht. Aber es war einfach so, dass mich das Verseschmieden jedes Mal in eine Hochstimmung versetzte. Mir wurde etliche Male gesagt, Schuster bleib bei deinem Leisten, aber auf solches Gerede habe ich nie etwas gegeben. Die Leute reden immer viel. Wenn ich Gedichte schrieb, konnte ich meine Flügel ausbreiten. Konnte mich aufschwingen und über das Meer zurück in die Heimat fliegen, wieder ein stolzer Patriot sein, auch Beneš war in meinen Gedichten ein Staatsmann, wie sie nur selten geboren. Nun ja, die Satire ist mir wohl wirklich am besten gelungen.

Mit Baťa im Dschungel

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