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DOLORES

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(Enkelin Jan Antonín Bat’as, Tochter von Ludmila Bat’ová und Ljubodrag Arambašić)

Babonky

So nannten wir sie, die kleinen gelben Klößchen aus Eiern und Mehl. Großmutter Maja tat sie in die Suppe, in die Rinderbrühe, die von unseren weißen Kühen stammte. Jeder durfte sich nur zwei nehmen, das war Großmutters Regel. Nur zwei Babonky. Wir rangelten um sie, an unserem Kindertisch im Wintergarten, wo die Kinder bis zehn Jahre aßen. Das wiederum war eine Regel von Großvater. Wenn wir am Kindertisch gelernt hatten, uns anständig zu benehmen, uns nicht mehr um die Babonky rauften und auf der Geburtstagstorte zehn Kerzen ausgeblasen hatten, dann durften wir feierlich in die Welt der Erwachsenen hinüberwechseln und an ihrem Tisch im richtigen Esszimmer sitzen. Ich wollte aber nie vom Wintergarten weg. Ich liebte die verglaste Terrasse und den Pingpongtisch, an dem ich immer alle Cousins und manchmal auch Großvater besiegte. Ich raufte mich gerne mit den Jungen um die Babonky und hatte gar nicht das Bedürfnis, mich anständig zu benehmen, das Besteck richtig zu halten, zu wissen, mit welchem Löffel man die Torte isst, und darauf zu achten, dass meine Bluse keine Soßenspritzer abbekam. Außerdem beobachtete ich die Erwachsenen gern vom Wintergarten aus und malte mir aus, worüber sie gerade sprachen. Ich konnte sie genau sehen – Großvater, zu seiner Linken Großmutter Maja, die am Tischende saß, rechts davon Onkel Jan, dann Onkel Nelson, Tante Edita, Tante Jena, die wir aus unerfindlichen Gründen Hana nannten, meine Mama Ludmila, die auch Lidka genannt wurde, dann ein serbischer Schnauzbart – mein Onkel Dragoslav – und mein geliebter Papa Ljubodrag. Nicht nur die Gerüche der Speisen vermischten sich dort miteinander, auch die Sprachen. Serbisch mit Tschechisch und Portugiesisch, mährische Kraftausdrücke mit Juristenenglisch, elegantes Literaturfranzösisch mit Papas serbischen Anekdoten oder den deutschjüdischen Witzen aus Wien, wo er Jura studiert hatte. Als mich anständiges Benehmen dann nicht mehr abschreckte und ich im Esszimmer meinen Platz neben Onkel Jan eingenommen hatte, trat ich trotzdem noch manchmal heimlich unter dem Tisch meinen Cousin Ljubo oder den langen Streber Æika, der mich immer verpetzte. Es war alles so ebenmäßig damals, all diese Tage und Ferien und Weihnachten in Batatuba. Das Klackern von Jan Antoníns Schreibmaschine, Großmutter, die in der Küche zugange war, Großvaters mächtige Pranke, die uns niemals schlug. Einmal reiße ich vor dem Apotheker Mario aus, ich habe Fieber und er ist extra aus Piracaia gekommen, um mir eine Spritze zu geben, aber weil ich weiß, dass es wehtut, kraxele ich lieber hoch in eine Fichte hinauf, und er klettert mir hinterher und Mama schreit: »Sobald du runterkommst, verhau ich dich, dass du dich umsehen wirst!« Und ich klettere hinunter, bekomme die Spritze und auch die Prügel.

Es sind Zeiten, die ich nicht vergessen kann. Die ich überall suche, mit mir herumtrage und doch nirgends finden kann. Manchmal glaube ich sie in der Heimat zu entdecken, die nicht meine Heimat ist, in Zlín, wo ich mich nicht in jedem Schaufenster, jeder Straße und jedem Backstein der puppenhaften Häuser selbst wiedererkenne. Bilder aus der Kindheit. Du schüttelst das Kaleidoskop, und jedes Mal sind da immer wieder neue geschliffene Glaskristalle eines tschechischen Glücks. So oft habe ich mir gesagt, ich sollte diese Zeiten aus meinem Kopf bekommen, weil ich sonst nicht meine eigenen perfekten, schönen, ebenmäßigen und harmonischen Zeiten finden kann, an die sich wiederum meine Töchter erinnern werden. Aber es geht nicht. Alles ist verloschen, hat sich aufgelöst und ist verschwunden, und ich bin die Einzige, die noch die guten alten Zeiten heraufbeschwören kann. Denn ich bin die Einzige, die noch fließend Tschechisch spricht. Es ist, als hörte ich die alte Gerbecová und die alte Hrušt’áková sagen: »Es hängt alles an der Sprache, Mädel«, ein Ausspruch, den ich nie persönlich von ihnen gehört habe, der zu Hause aber immer zitiert wurde. Der lange Streber Æika lebt schon nicht mehr, und Ljubo oder Rodolfo wissen von damals allenfalls noch, was für Streiche sie ausgeheckt und wie sie sich einmal an der Weihnachtsschokolade überfressen haben. Sonst ist diese Zeit für sie passé. Ihre Mütter, Tanten und Onkel sind entweder tot oder haben die tschechische Sprache verloren wie etwas, was gleichzeitig mit der Fabrik in Batatuba verschwunden ist, mit Großvaters und Onkel Jans Tod, etwas Schönes, aber zu weit Entferntes, jetzt eher Unbrauchbares, Veraltetes, wie die Babonky, von denen man nur zwei haben durfte, und mehr kriegte man eben nicht.

In meinem Wohnzimmer hängt ein Gemälde, das so groß ist, dass es eigentlich nicht wirklich hierher passt, sondern besser in einem Museum hängen würde. Aber mit diesem Bild verbinde ich nun mal alles, was ich nie vergessen möchte. Nur meine Mutter Ludmila und ich sind darauf zu sehen, ihr einziges Kind Dolores. So ein großes Gemälde, das sich gut in einem Schloss ausnehmen würde, klingt ein wenig nach adligen Damen und Königinnen, die Porträts von sich malen lassen, doch wir wären damals gar nie auf die Idee gekommen, uns malen zu lassen, vor allem nicht in so einem Format, wenn Mama in ihrer Liebenswürdigkeit nicht diesem alten Ungarn hätte helfen wollen. Ich weiß nicht einmal, wer er eigentlich war. Aber ihn umgab so eine künstlerische, europäische Aura, als habe er in seinem nach Terpentin riechenden Koffer nicht nur Farben und Pinsel mit ins Exil genommen, sondern die ganze Melancholie der Flucht, diese zynische Intelligenz der Gescheiterten, die jenseits des Ozeans keinen Neuanfang mehr hinbekamen. Jemand hatte Mama erzählt, er sei ein großer ungarischer Künstler, ein Emigrant wie wir, und würde Geld brauchen. Es hieß, er habe in Budapest auf der Akademie gelehrt und Gott und die Welt porträtiert, sei dann aber wie unsere Familie vor den Deutschen geflohen. Ich hatte mir einen temperamentvollen Bohémien mit Malerkittel und Barett vorgestellt, doch zur Tür hereingeschlurft kam ein knochiger, braungebrannter Schlaks in einem zottigen Pullover mit mottenzerfressenen Ärmeln, und statt eines Baretts leuchtete im dunklen Zimmer nur seine spiegelglatte, gefleckte Glatze, auf der ein spärlicher Rest grauer Kraushaare wuchs. Er stellte sich als Stevan Kis vor, allerdings hatte ich immer das Gefühl, dass das nicht sein echter Name war. Manchmal trug er eine dicke Brille, dann wieder lief er ohne sie herum oder suchte nach ihr, während er ungarische Flüche ausstieß. Er grüßte nie richtig, sondern brummte nur irgendetwas. Mama und ich setzten uns gehorsam auf die Stühle, die er für uns arrangiert hatte, ich auf den höheren, Mutter auf den niedrigeren. Hinterher tat mir jedes Mal der Rücken weh, trotzdem gefiel es mir, von dem kauzigen Kerl gemalt zu werden. Mir gefiel, wie er die Augen zusammendrückte, leise etwas vor sich hinmurmelte, den Mund spitzte. Manchmal fertigte er nur ein paar Skizzen von uns an, aber er wollte uns nie etwas zeigen. Ungefähr einen Monat lang gingen wir zweimal wöchentlich zu ihm. Vorher wusch ich mir jedes Mal meinen Bubikopf mit Kamillenshampoo, drehte mir die Haarspitzen ein, legte die Perlenkette um und zog mir das rosa Chiffonkleid an, an dem ich noch eine Brosche befestigte. Außerdem trug ich einen Ring mit einem Aquamarin, einem Diamanten und Platin an der Hand, den Mama mir zum fünfzehnten Geburtstag gekauft hatte. Ich kam mir wunderschön vor, aber heute erkenne ich peinlich berührt, was für einen leeren Gesichtsausdruck ich hatte, finde auf dem Bild statt eines verträumten Blicks nur große Augen, die nichts anderes als sich selbst sehen. Dafür hat Mama in ihrem schwarzen Dior-Kleid mit der Diamantspange, die sie von Großmutter zur Hochzeit bekommen hatte, etwas von einer vornehmen Aristokratin. Was für einen wunderschönen Anblick sie bot! Und auf diesem Bild wird es immer so bleiben. Wenn wir zu unseren Sitzungen bei dem Maler aufbrachen, hatte ich jedes Mal Sorge, jemand könnte uns unterwegs überfallen und uns all diese Kostbarkeiten rauben. Das passierte aber erst zwanzig Jahre später, als in unser Haus eingebrochen wurde und die Diebe die Brosche und den Ring mitnahmen. Ich fand es aber nicht so schlimm, denn im Wohnzimmer hing immer noch das Bild, auf dem die Schmuckstücke zu sehen sind. Und Mama sieht immer noch so schön damit aus. Während der Porträtsitzungen fühlte ich mich in meinem rosa Kleid und mit den perlenfarben lackierten Nägeln wie das Dornröschen aus dem tschechischen Märchenbuch. Vielleicht war ich es auch, und der Ungar war in Wahrheit die gekränkte böse Fee, die mir eine Rose reichte, an deren Dorn ich mich stach, denn ich bin bis heute nicht aus der Sehnsucht nach dieser Zeit aufgewacht. Mama trug über dem Kleid ein schwarzes Samtcape und hatte ihr kastanienbraunes Haar aus der Stirn gekämmt, was ihr ein stolzes und majestätisches Aussehen gab. Ihre blauen Katzenaugen schauen mich noch immer unverwandt an.

Allerdings sah es damals so aus, als sollte dieses Bild niemals uns gehören. Der ungarische Maler wurde und wurde nicht damit fertig. Zuerst ließ er nicht von sich hören, dann behauptete er, die Farben müssten erst noch richtig fest werden, dann meinte er, er sei nicht zufrieden und wolle das ganze Bild noch einmal neu malen. Und schließlich erklärte er, er werde uns das Bild nicht geben, weil es sein Meisterwerk sei. Mama hatte ihn allerdings auch schon meisterlich im Voraus bezahlt, weshalb das Bild ihr zustand. Er weigerte sich jedoch hartnäckig und erklärte, er könne nicht auf sein Meisterwerk verzichten, dieses Gemälde besitze für ihn einen unschätzbaren Wert, das Geld könne er freilich auch nicht zurückzahlen, weil er es nicht mehr habe. Mama hatte nicht das Herz, mit ihm zu streiten, weshalb sie lieber meinen Onkel Dragoslav zu ihm schickte, diesen hochgewachsenen, gebildeten Serben und ehemaligen Partisanen, der mit seiner tiefen Stimme sehr langsam, sehr widerwillig und sehr eindringlich sprach. Niemand würde sich wünschen, ihm ins Gehege zu kommen. Ich weiß nicht, was mein serbischer Onkel damals zu Stevan Kis sagte. Aber vielleicht waren seine wuchtige Gestalt und seine mächtigen Schaufelhände Argumente genug, um den armen Ungarn zu überreden, ihm das Bild herauszugeben. Als es dann schließlich in unserem großen Haus in São Paulo hing, sah es so aus, als hätte die Wand, an der es befestigt war, nur darauf gewartet. Obwohl der Bildhintergrund und der schwere, goldgesäumte Rahmen dunkel waren, begann der ganze Salon zu leuchten. Heute habe ich ein etwas schlechtes Gewissen wegen der Sache und denke, ich sollte die Geschichte des alten Ungarn kennen, dem wir womöglich mit Gewalt das Bild abgenommen hatten, das uns gehörte. Kann einem überhaupt ein Gemälde gehören, darf man sich ein Meisterwerk aneignen, von dem sich der Künstler nicht trennen will? Hätten wir ihm das Bild überlassen sollen? Sollte Mamas Liebenswürdigkeit Grenzen gehabt haben?

Mit Baťa im Dschungel

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