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LUDMILA

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Augen und Briefe

Rudi hat mir gestern geschrieben. Einen Brief, der so resigniert wie gefasst klingt. Ich bin außer mir. Wie kann er nur so wenig kämpfen? Wie kann er solche Briefe schreiben!? So voller Liebe, hinter der ich Gleichgültigkeit spüre. Ich spüre sie auf wie ein Jagdhund den Fuchs, der zitternd im Dunkel des Holunderbuschs kauert und nicht weiß, in welche Richtung er fliehen soll. Auch Rudis Schrift sieht danach aus. Klein, zusammengedrängt, schwer leserlich, und auch der Schmerz lässt sich nur schwer herauslesen, über den er so ergeben und gefasst schreibt, dass er papieren wirkt. Ist das überhaupt wahr oder nur eine verfeinerte Art von Höflichkeit? Warum kann die Weltbegabung Rudolf Firkušný nicht der Räuber Nikola Šuhaj sein, der mich entführt, der sich durch Flüsse und Meere, Ozeane und Kontinente hindurchschlägt, um sich mit mir in einer kalten Höhle zu verstecken, wo wir über einem Feuer Fladen rösten und das noch rohe Fleisch des Wildes verzehren, das wir über Berg und Tal gehetzt und dann mit bloßer Hand erlegt haben?

Rudi ist ein Künstler. Ein berühmter, auch wenn sein Stern noch im Aufgehen ist. Er schreibt mir auf dem feinen Briefpapier teurer amerikanischer Hotels. Und ich bin die Tochter eines Großunternehmers im Exil, des Pioniers eines weltweiten Schuhimperiums, den die Welt langsam, aber sicher vergisst. Noch schreibe ich auf ähnlichem Briefpapier wie Rudolf, aber mit der Zeit werde ich damit aufhören. Und mein Vater braucht mich, Vater liebt mich und liebt mich mehr und inniger, als Rudi das je vermocht hat. Ganz gleich, dass es eine väterliche Liebe ist – sie ist einfach stark. Gebieterisch zwar, aber ich kann mich auf sie stützen, sie bricht nicht einfach wie die von mir gemalte, misslungene Birke unter dem Ansturm der Schneeflocken. Darum schreibe ich Rudi, was ich schreiben muss. Ich schreibe ihm, dass unser Versprechen nicht mehr gilt. Wir haben es uns gegeben, als ich noch ein junges Mädchen war und er ein Wunderkind am Klavier, das so sehr dem jungen Mozart glich. Und er? Er protestiert nicht. Nimmt es ergeben an. Voller Demut! Ich bin so wütend! Ich dachte, er würde mich umzustimmen versuchen, mit einem Satz wie »Liebste Lidka, tu das nicht«. Stünde dort doch nur: »Lidunka, ich beschwöre dich bei der Liebe Gottes, überlege es dir noch einmal!!!« Aber es steht nicht da. Das ist so demütigend. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist unser gemeinsames Musizieren. Unser gemeinsames Lied, unsere Melodie. Das ist womöglich etwas Stärkeres als Vaters Liebe, als die Tatsache, dass Vater mich hier braucht, hier, im tropischen Exil, wo ich einen Mann heiraten soll, der sich bestmöglich um den Verkauf kümmert. Vielleicht muss ich ja noch nicht einmal heiraten, ich könnte auch das Unternehmen selbst leiten, wenn ihm die Kräfte dafür ausgehen. Das spricht Vater zwar nicht aus, aber ich bin mir dessen gewiss, bin mir gewiss, dass er sich sicher ist, dass ich seine wahre, die einzig wahre Erbin bin. Das spricht er freilich ebenfalls nicht aus. Aber er muss es wissen, denn mein Bruder Jan ist als männlicher Nachkomme zwar der rechtmäßige Erbe, aber letztlich hat er nichts von ihm geerbt. Ich meine, was die Begabung angeht. Immerhin kenne ich mich außer mit der Musik auch mit Zahlen, mit Menschen und mit Schuhen aus. Ich bin im Zeichen des Merkur geboren, des Gottes der Fülle und des Handels. Ich bin die Tochter meines Vaters, woran auch die Musik nichts zu ändern scheint. Vater muss es schon deshalb wissen, weil ich in Batatuba die Produktion gerettet habe. Es war ein schlechtes Jahr, Vaters Betriebe standen weiterhin auf der schwarzen Liste der Alliierten, und mein Cousin Tomík, der Sohn von Onkel Tomáš, dem Firmengründer, begann in Kanada seine Hörner zu zeigen und gegen Vater zu prozessieren … Es sah gar nicht gut aus. Da dachte ich mir aus den bunten Lederresten, die Vater eines Tages aus der Fabrik mitbrachte und wegwerfen wollte, diese Blümchensandalen aus. Sandalen, deren Riemchen oben verschlungen waren und eine kleine Blume bildeten, mehrfarbige Sandalen, die vor allem unglaublich günstig waren, da man sie aus Resten anfertigen konnte. So etwas hatte es in Brasilien vorher nie gegeben. Ich war so stolz auf mich! Die Sandalen gingen weg wie geschnitten Brot, und die Produktion war gerettet. Und damit wir alle! Auch Vater war stolz, wenn er mich auch eigentlich nie gelobt hat. Das mag mich gegrämt haben, nun gut, aber es war nicht so schlimm wie diese windelweichen Briefe von Rudolf.

Karels Briefe waren ganz anders. Roh und voller männlichem Trotz und Schweiß. Er erzählte von dem japanischen Konzentrationslager, in dem er gesessen hatte. Berichtete, dass alle ihm bekannten Bat’a-Leute es überlebt hätten. Karel Aster, meine erste Liebe. Schon in Zlín hatte ich eine Schwäche für ihn, und nicht nur ich. Als wir uns dann in Amerika wiederbegegneten, folgte eine Zeit, die ich insgeheim »große amerikanische Verwirrung« genannt habe und aus der ich schnell wieder nüchtern hervorging, denn Karel war ein ausgemachter Frauenheld, ein Schürzenjäger, wie er im Buche steht. Es war in seinen Augen zu lesen, an seiner Körperhaltung zu erkennen, daran, wie er gleich und sofort alles wollte. Karel, der Eroberer. Trotzdem denke ich gern an ihn zurück. Er war ein famoser Kerl. Famos – ein Wort, das ich mit zwanzig fortwährend verwendete. Aber Karel war wirklich famos. Er war wie frisches Frühlingsgras, in das man sich nur hineinlegen musste, er roch nach Luft, dem Staub der Prärie, dem aufgewühlten Meer. Vielleicht als Einziger hat er daran geglaubt, dass ich großes Talent besitze und Konzertpianistin sein könnte. Alle anderen versuchten es mir eher behutsam auszureden, und nachdem ich Rudi auf Konzerten hatte spielen hören, redete ich es mir ebenfalls kleinmütig aus. Niemals würde ich so sein können wie er. Und mein Perfektionssinn – angeboren oder Ergebnis der Bat’a-Erziehung – gebot mir natürlich, nichts zu tun, was nicht vollkommen ist. Nur Karel sah in mir die Pianistin, die professionelle Musikerin, und als wir in Amerika waren, versuchte er für mich eine Musikhochschule zu finden. Aber auch seine Briefe waren verräterisch, die selbstbewusste Handschrift, die heißblütige Leidenschaft, die er mehr gekonnt stilisierte als wirklich empfand. Ich witterte hinter dieser Schrift den Herzensbrecher. Nicht dass ich so eine großartige Graphologin wäre, aber man sah es einfach. Wenn ich die Briefe nebeneinanderlegte, war es geradezu frappierend, wie Karels großspuriges Anpreisen seiner selbst neben der schmalen, fast unleserlichen Handschrift des genialen Pianisten ins Auge stach. Auch Karels Briefe waren in teuren Hotels und auf erstklassigem Briefpapier geschrieben worden. In der Garage hatte er ein teures Auto, im Bett eine schöne Frau. Und ich war weit weg, von beiden.

Und dann sind hier, nach langen Jahren mit meinem starken Mann Ljubodrag, die Augen dieses Malers aufgetaucht. Schwarze Schlitze in Tälern von Falten. Ich spüre sie immer noch auf mir. Wie sie jede Linie meines Körpers erforschen, wie sie, nun ja, sich an mir ergötzen und, ja, wie angenehm mir das ist. Zweimal die Woche hat er mich vor meiner minderjährigen Tochter mit den Augen ausgezogen. Es war schön, wieder einmal verehrt und vergöttert zu werden. Ich weiß, Ljubodrag verehrte und vergötterte mich, aber auf eine wilde, raue, wenn auch zärtliche Weise. Als würde er das ganze Leben mit mir leidenschaftlich Tango tanzen. Es gab gleichsam nichts daneben. Seine Liebe war Liebe, und fertig. Ljubodrag wollte mich nicht auf einem Gemälde verewigen, er hatte kein Bedürfnis nach Erinnerung und Ewigkeit. Ljubodrag liebte und lebte voller Intensität und kannte keine Feinheiten der Verführung, keine Zweifel, nicht die Raffinesse künstlerischer Betörung. Er mochte mich am liebsten nackt oder in Reithosen auf dem Pferd. Freilich hat der Maler kein Wort geäußert, obwohl er es gekonnt hätte, denn wir sprachen Deutsch, damit Dolores es nicht verstand. Es war das erste Mal nach langer Zeit, dass ich wieder gerne mit jemandem Deutsch sprach. Als Ljubodrag und ich uns in Batatuba kennengelernt hatten, hatten wir anfangs auch Deutsch miteinander geredet, wir hatten ja beide in Wien studiert und fanden auf diese Weise die österreichische Art der Aussprache, die weichen, abgerundeten Laute wieder, doch als Ljubodrag dann kühner wurde, wechselten wir ins sinnlichere Französisch mit seinen schmeichelnden Nasalen. Dieser Maler hier aber verkörperte das Wienerische selbst. Es war, als würde ich wieder in die Zeit vor dem Krieg eintauchen, als wir regelmäßig nach Brünn fuhren, wo in Geschäften und Restaurants Deutsch gesprochen wurde, in die Zeit, als Mozart und Beethoven für mich nur auf Deutsch existierten. Ich konnte dem nahezu perfekten Deutsch dieses Malers nicht widerstehen, obwohl ich mir hundertmal gesagt hatte, wie sehr ich diese Sprache hasste und was die Deutschen unserer Familie und ganz Europa angetan hatten. Auch wenn ich wusste, dass eine Sprache nichts dafür kann. Nun, da wir so fern von Europa waren, hatte ich das Gefühl, dass dieser Malermund und das Deutsche, das so weich und ein wenig lispelig aus ihm herausperlte, mich Europa näherbrachte.

Ich erinnere mich, wie er mit ernster Miene murmelte, für meine Augen gebe es keine passende Blaunuance, denn so ein Blau habe er noch nie gesehen. Er müsste dafür eigens einer Siamkatze die Augen herausholen und zur Farbe anrühren. So wie er ihr auch die Härchen ausreißen und neue Pinsel daraus binden müsste, um die Feinheit meiner Haut zu treffen. »Haben Sie zu Hause so eine Katze, die man auf dem Altar Ihrer Schönheit opfern könnte?« Ich schüttelte mich vor Abscheu und warf ihm vor, er würde Dolores Angst machen. Da lachte er nur.

Hätte ich ihm das Bild am Ende überlassen, dann wäre es so gewesen, als hätte ich mich ihm hingegeben. Als würde ich ihm gehören. Ich würde in seinem Zimmer hängen und mich von seinem gierigen Künstlerblick betasten lassen. Ich glaube, auch deshalb kam es zwischen uns zu diesem Kampf. Um mich und um das Bild. Natürlich hatte er bei mir nicht die geringste Chance. Er war ein halbes Jahrhundert älter als ich, und es gab nichts, was mich an ihm angezogen hätte. Bis auf diese Leidenschaft, die mich wie kaum etwas zuvor erregte. Bis auf seine Augen und diese Hände, die so schmal und zierlich waren wie die Krallen eines seltenen Vogels.

Mit Baťa im Dschungel

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