Читать книгу Mit Baťa im Dschungel - Markéta Pilátová - Страница 9

EDITA

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(Tochter von Jan Antonín Bat’a)

Es fühlt sich an, als säße ich immer noch in diesem Zug. Seit damals erscheint mir das ganze Leben wie eine endlose Zugfahrt. Vor dem Fenster zieht die Landschaft vorüber und es herrscht ein anhaltendes Dämmerlicht. Auf dem Bahnsteig wartet wohl jemand auf mich, aber ich weiß nicht, wer, und bin mir auch nicht ganz sicher. Überall ungarische Schilder. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Habe dünne Storchenbeine mit großen Knien, an denen ich Angorastrümpfe trage, obwohl es Juni ist. Sie kratzen furchtbar, rutschen dauernd die Waden hinunter und rollen sich an den Knöcheln zusammen, weshalb ich sie ständig hochziehen muss. Aber Großmama Hrušt’áková aus Hradiště hat sie gestrickt, und die lässt nichts auf ihre Angorakaninchen kommen. Sie hat die Tiere mit den rubinroten Augen kahl geschoren, und aus irgendeinem Grund verwandelt sich ihr feines, seidiges Fell in kratzige Wolle. Wir Bat’a-Kinder müssen die grässlichen Strümpfe und alles, was Großmama strickt, tragen. Mir kommt es vor, als hätte dieser Zug nie angehalten. Im Grunde sitze ich immer noch darin. Als wäre ich nie am Budapester Bahnhof ausgestiegen, sondern würde immer noch krampfhaft die Hand von Vaters Sekretär festhalten, obwohl ich doch schon groß war und sich das nicht gehörte. Durch das schmuddelige kleine Fenster sah ich ihm dann nach, wie er am Bahnhof von Brünn stand. Bis heute habe ich sonderbare Träume von Zügen. Immer noch bringen sie mich nachts von Zeit zu Zeit weg. Nachts bin ich eine Flüchtende.

Aber ich wusste, ich würde das hinkriegen, ich sagte mir, es würde nicht lange dauern, eine Art Mutprobe, die ich ganz sicher bestehen würde. Ich hatte so oft gehört, was für eine mutige und schlaue Schülerin ich sei. Ich hatte fleißig gelernt, Sprachen fielen mir leicht, Deutsch, Englisch, Französisch, ein reines Kinderspiel. Doch als ich den Zug bestieg und Vaters Sekretär mir erklärte, dass ich nicht verschlafen dürfe und am Budapester Hauptbahnhof aussteigen müsse, bereute ich, dass ich kein Ungarisch gelernt und auch nie daran gedacht hatte. Ich trug nur eine kleine Stofftasche bei mir, denn mit einem richtigen Koffer wäre es offensichtlich gewesen, dass ich für länger verreiste. In dem Täschchen befanden sich Taschentücher, eine Lederbörse mit dreißig tschechischen Kronen und Mutters Kölnischwasser, das sie zu Hause vergessen hatte, als sie mit Jan und Marie schon vor mir über eine andere Strecke aufgebrochen war, damit unsere Flucht nicht auffiel. Vor dem Haus hatten zwei SS-Männer Wache gestanden, aber keiner der beiden war auf die Idee gekommen, dass hinten im Garten ein überwuchertes kleines Törchen direkt zum Schulgarten führte. Vater hatte es dort anbringen lassen, als wir drei Mädchen und Jan zur Volksschule gingen, damit wir es näher hatten. Meine persönlichen Sachen waren zu Hause geblieben. Ich hatte meine Lieblingspuppen, das Puppengeschirr, den Plüschhund, den Bären und Knibbel, den Hasen, in den Eichenschrank eingeschlossen – ich weiß auch nicht warum, immerhin war ich schon fünfzehn, drehte mir die Haare mit dem Lockenstab ein und malte mir eine dünne schwarze Linie unter die grünen Augen, und mit Puppen spielte ich schon lange nicht mehr. Ich hatte den Schrankschlüssel an einer Wollschnur befestigt, die ich um den Hals trug. Noch heute trage ich diesen kleinen Silberschlüssel in einer Tasche bei mir. Wenn ich nervös bin, nehme ich ihn in die Hand, umfahre mit den Fingern seine Kanten und presse ihn in die Handfläche, bis es wehtut. Manchmal denke ich an die Sachen in dem Schrank – ob sie wohl noch dort sind oder wie es wäre, wenn sie zum Leben erwacht und geflohen wären und ebenfalls einen Zug bestiegen hätten, der sie zu mir gebracht hätte. Ich hätte im abendlichen Budapest am Bahnsteig auf sie gewartet, hätte sie während der Überfahrt auf dem großen Dampfer gesäubert und nach unserer Ankunft an ihrem neuen Platz aufgestellt, ihnen die Sprache des neuen Landes beigebracht, und sie hätten niemals Heimweh empfunden. Womöglich aber hat jemand den Schrank aufgebrochen und meine Spielsachen in den Müll geworfen. Oder haben andere Kinder damit gespielt? Wessen Kinder? Die Kinder der SS-Leute oder die Kinder der kommunistischen Bonzen, die sich jeweils in unserem Zlíner Haus breitmachten? Vater hat sogar ein kleines Gedicht darüber geschrieben. Es stammt vom 10. Januar 1941 und lautet

Das beschlagnahmte Haus

Unser Haus und unser Garten, von unserm

Schweiß benetzt,

sind in der Hand von Fremden, die unser Land besetzt.

Die Schritte ihrer Stiefel auf unserm Boden dröhnen,

so wie auch ihre Stimmen im Radio vorlaut tönen.

Sie poltern am selben Orte, wo meine Töchter, mein Sohn

in glücklichen, freien Zeiten taten den ersten Ton.

Die Heimat zu verteidigen blieb schnöde uns verwehrt,

das hat uns unvermeidlich dies Golgatha beschert.

Immer wenn ich jetzt irgendwohin mit dem Zug fahre, vergewissere ich mich beim Einsteigen, wie weit es zur nächsten Toilette ist, denn ihr habe ich es zu verdanken, dass ich damals einem Soldaten mit Hakenkreuz auf dem Ärmel entkam. Als ich hörte, dass man an der Grenze die Pässe zu kontrollieren begann, suchte ich eilig das nächste Klosett auf, schloss aber die Tür nicht ab. Kurz darauf stieß ein Soldat die Tür auf, und ich drückte mich dahinter gegen die Wand. Der Zug schwankte, und er zog die Tür mit einem Knall wieder zu. Ich stand dort in einen Schatten verwandelt, eine unscheinbare graue Wanze, und starrte auf das schmutzige Waschbecken und den gesprungenen Spiegel. Noch heute kann ich den leicht ranzigen Lavendelgeruch des Seifenrestes und das kleinteilige Muster auf dem knittrigen, ausgewaschenen Handtuch heraufbeschwören. Ich studierte jedes Detail, registrierte jedes Luftmolekül, jeden kalten Tropfen Schweiß. Noch immer könnte ich alle Risse auf der Oberfläche des angeschlagenen Spiegels aus dem Gedächtnis aufzeichnen. Beten tat ich nicht. Ich hatte das Gefühl, dass Gott mich in diesem Moment nicht hören würde. Vielleicht wegen des bevorstehenden Krieges, vielleicht wegen des Ratterns der Zugräder auf den Gleisen, vielleicht weil ich mich schämte, um mein Leben zu betteln. Denn hätte ich es getan, hätte das bestätigt, dass es um Leben und Tod ging, und das wollte ich nicht wahrhaben. Ich hatte einen Satz im Kopf, den ich aufgeschnappt hatte, als Vater sich mit František Muška, seinem Hauptbuchhalter, unterhalten hatte. Er hatte gesagt: »Wissen Sie, Frank, was das Schlimmste ist? Wenn einer ’n Hasenherz ist.« Und ich wollte auf keinen Fall ein Hasenherz sein. Stattdessen wollte ich mir alles fest einprägen, damit ich es Vater später erzählen konnte. Wollte mir alles in dieser Toilette merken, diesen schäbigen Ort auswendig lernen. Als mir schien, dass es nichts mehr gab, was ich mir noch merken konnte, kehrte ich in das Abteil zurück. Dort drückte ich die Nase gegen die kalte Fensterscheibe, draußen wurde es dunkel, der Zug fuhr in die ungarischen Ebenen und keuchte, bebte vor Unwillen, dröhnte in meinem Kopf. Er war ein unruhiges Tier, den Bauch voller Schicksale, die er dem Unbekannten entgegenbrachte. In diesem Zug jedenfalls begann mein so völlig verändertes Leben. In Budapest stieg ich aus, setzte mich auf eine Bank am Bahnsteig und wartete ab. Keiner hatte daran gedacht, mir etwas ungarisches Geld mitzugeben. Ich hatte Hunger und Durst, und inzwischen war ich schon mehr als hasenherzig. Mit zunehmender Finsternis spulten sich vor meinem inneren Augen lauter Bilder davon ab, wie Jan, Marie, Mutter und ich wieder von der SS abgefangen werden, so wie beim ersten Mal, als wir aus Zlín zu fliehen versucht hatten und die Sache misslang. Merkwürdigerweise bleibt mir nach all den Jahren immer nur diese Zugfahrt in Erinnerung und nicht jener erste Fluchtversuch. Vielleicht weil er so unrühmlich endete.

Für mich begann der Krieg mit einem Strauß samtig roter Rosen. Mutter erhielt sie von der SS nach deren Ankunft in Zlín. Die SS-Männer waren auf widerwärtige Weise aufdringlich und höflich zugleich. Ganz schwarz und bedrohlich herausputzt, stanken sie nach Seife und einer fremden Rasierwassermarke, die an Naphthalin und unverdünnten Spiritus erinnerte. Es hatte nichts wirklich Frisches, verströmte Tod. Sie klingelten und drückten Mutter, ohne überhaupt nur eine Frage zu stellen, den Strauß in die Hand. »Für die Frau Chefin«, sagte einer von ihnen mit süffisantem Lächeln. Es war wie in einem düsteren Märchen. Eine schwarze Uniform mit Totenköpfen, dazu rote Rosen. Mutter sagte nichts, nahm den Strauß steif entgegen, ohne an den Blumen zu riechen. Sie nickte nur und verabschiedete die Männer sogleich wieder. Den Strauß warf sie anschließend auf den Mist. Doch jemand musste die Rosen auf dem Misthaufen bemerkt haben, irgendjemand begann uns aufmerksam zu beobachten.

Darauf erfolgte dann unsere erste, schlecht durchdachte und zu übereilte Flucht. Im Auto der fiebernde kleine Jan, in Pelze und Decken gemummelt, die verschneiten Straßen, das Schneegestöber, am Fenster feine Eiskristalle. Vater befand sich in Polen, und wir wollten zu ihm über die Grenze gelangen. Es war nicht sehr weit, aber der Fahrer konnte die Straße nicht gut sehen und fuhr nur im Schritttempo. Und plötzlich war unser Wagen von Soldaten umringt. »Halt« und »Wohin fahren Sie?« und »Warum bei diesem Wetter?!« Diesmal hatten sie keine roten Rosen in der Hand, sondern Maschinengewehre. Mutter brachte keinen Mucks heraus, aber der Fahrer fasste sich schnell wieder und behauptete, wir wären mit dem kleinen Jan auf dem Weg zum Krankenhaus, hätten uns aber im Schneegestöber verfahren und wüssten nicht, wo wir genau seien. Der Soldat bellte, wir sollten zurückfahren, in Zlín gebe es auch ein Krankenhaus. Anschließend warteten wir erst den ganzen Frühling ab, um einen neuen Versuch zu unternehmen. Dieser Frühling kam mir jetzt so lange her vor, als ich auf dem Budapester Keleti-Bahnhof saß, Jahrhunderte schienen seither vergangen. Es war kurz vor Sonnenaufgang, am blassen Himmel zeichnete sich eine Andeutung von Wolken ab. Ich war jetzt froh, dass ich die kratzigen Strümpfe hatte, zog meine Knie ans Kinn und fragte mich, was wohl Großmama Hrušt’áková tun würde, wenn keiner sie abholen käme. Was würde sie sich für die dreißig tschechischen Kronen kaufen? Würde sie sich auf die Stufen vor dem Bahnhof setzen und Strümpfe stricken? Würde das Geklapper der Stricknadeln sie beruhigen? Würde sie betteln gehen? Würde sie in einen Zug steigen und zurückfahren? Oder würde sie auf dem Postamt ein Telegramm aufgeben? Aber an wen? Wohin? Ins Protektorat oder an die Nummer in Polen, die ich hatte auswendig lernen müssen, die ich nirgendwo notieren und nur im Falle echter Lebensgefahr anrufen durfte? Die verschiedensten Ideen zogen mir durch den Kopf, eine unsinniger als die andere. Als ich schon von der Bank aufstehen wollte, um alle Bahngleise einmal abzulaufen, tauchte unter dem großen Bogen mit den Skulpturen, die wie Riesen aus einem Märchen aussahen, Vaters Chauffeur auf. Er trug nicht die übliche Uniform, sondern einen unauffälligen Anzug, aber ich erkannte ihn an seinen breiten Schultern und dem nervösen Gang. Bevor er auf mich zusteuerte, sah er sich vorsichtig um. Langsam hob ich meine Hand und winkte ihm. Ich musste an mich halten, um nicht auf ihn zuzurennen, ihm um den Hals zu fallen und vor Erleichterung loszuheulen. Doch noch bevor ich mich von der Bank erhob und auf ihn zuging, zog ich Großmamas fürchterliche Kniestrümpfe aus, ballte sie zu Kugeln zusammen und stopfte sie in meine kleine Tasche.

Mit Baťa im Dschungel

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