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LUDMILA

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(Tochter von Jan Antonín Bat’a)

Er war kreidebleich. Der wievielte Infarkt würde das jetzt sein? Dabei sah es erst gar nicht danach aus. Ich dachte, ihm sei nur übel geworden, irgendetwas Falsches gegessen oder wie schon so oft zu viel in sich hineingestopft. Ich rief Doktor Andrade an, dass er schnell nach Batatuba kommen solle, es sei ein Herzinfarkt. Verflixt noch mal, und nu, was jetzt? Da stehste und guckst, wie Großmama Gerbecová in Hradiště zu sagen pflegte, wie Doktor Gerbec zu sagen pflegte. Nix ist jetzt. Wir fuhren zu dem riesigen Krankenhaus Beneficência Portuguesa in São Paulo. Das ist jetzt fast einen Monat her. Auf dem Bett immer das hölzerne Klapptischchen, damit er schreiben kann. Dem Tod mit Arbeit trotzen. Unsere emsige Arbeitsfamilie. Mit nutzbringender, fleißiger Arbeit wird allem getrotzt. Dem Tod und dem Leben. Stets ein Papier und einen Kugelschreiber zur Hand. Einen Füller mag er nicht benutzen, denn wenn er länger nachdenkt, trocknet ihm die Tinte aus. Mutter und ich wechseln uns ab, sie sieht müde aus. Sie, er, wir alle sehen müde aus. Er macht sich dauernd Notizen. Trifft ständig irgendwelche Entscheidungen, übernimmt Verantwortung. Schlüpft in sie hinein wie in das tägliche frische Hemd. Und zieht die Krawatte der Arbeit fest. Immer denkt er über etwas nach, immer ist er da. Wacht schon frühmorgens auf und bittet uns, das Fenster zu öffnen, damit er freier atmen kann, damit er den Sonnenaufgang sieht. Er blickt in die Dämmerung, aber ich sehe ihn im Geiste all die Fabriken durchwandern, die er überall auf der Welt ausgesät hat und die wie Pilze aus dem Boden gewachsen sind, wie Champignons auf gut gedüngter Erde. Fabriken, die von allen bewundert wurden, ihre ansehnliche Erscheinung, ihre Zweckmäßigkeit, ihr einwandfreies Funktionieren, ihre Leistungsfähigkeit, ihre Möglichkeiten. Fabriken, die allen ein Dorn im Auge waren. Den Kapitalisten und den Kommunisten. Ich sehe ihn, wie er herumfährt und alles genau begutachtet, sehe ihn überlegen, wo etwas einzukaufen ist, wo jemand ausgebildet werden muss, wo etwas zu erfinden, zu verwerten, zu verbessern, zu veräußern, zu besiedeln ist … Und jetzt, da bin ich mir sicher, jagt er gerade mit den Viehtreibern auf staubigen, rotsandigen Wegen den weißen Stierherden nach. Reitet mit ihnen die Ufer des Rio Paraná entlang und isst abends am Lagerfeuer geröstetes Büffelfleisch mit den Fingern, ohne sich dafür genieren zu müssen, ohne das Fett abzuschneiden oder auf anständige Manieren achten zu müssen. Er blickt auf die gewaltige Strömung des trüben Paraná und träumt davon, das umgebende Sumpfland trockenzulegen. Diesen Fluss zu bändigen! Es genügt ihm nicht, dass sich dort auf den toten Baumstümpfen jeden Abend Schwärme von Silberreihern niederlassen, dass dies ihr Königreich ist. Er will, dass aus den schlammigen, brodelnden Tümpeln etwas Nützliches entsteht, eine Zukunft, etwas für Menschen Gemachtes, nicht für Reiher. Er möchte diesen gewaltigen, stolzen Fluss bezwingen, will dessen Stolz und Gewalt für den Fortschritt nutzen, für etwas Besseres als das, was die Schicksalsgöttinnen für diese Landschaft vorgesehen haben, in der die Arbeits- und Landlosen keine Chance haben. Schon sieht er hier anstelle der Wildnis moderne Häuser und Fabriken entstehen, Kinos und Kais, gepflegte Gärten statt Dschungeldickicht. Er möchte die wilde Arroganz der Natur besiegen, sie mit der größten Brücke bändigen, die Brasilien je gesehen hat, ein wenig Karl IV. sein, er möchte überall sein, nur nicht hier, diesen weißen Mauern und dem steifen Laken ausgeliefert, und einem Herz, das unzuverlässig ist und schmerzt.

Er behauptet, er würde den Duft der Dama da Noite riechen. Ich will es ihm nicht ausreden, auch wenn wir August haben und die Dame der Nacht im März blüht. Was spielt es schon für eine Rolle, wann dieser dumme Baum blüht – er sehnt sich jetzt nach seinem süßen Duft. Und nach Torte. Zuckerbaisers. Nach geräucherter Rinderzunge. Gestampften Kartoffeln mit Röstzwiebeln. Nach Butter. Eis. Nach einem starken schwarzen Kaffee. Nichts davon darf er zu sich nehmen. »Warum soll ich überhaupt leben, wenn ich doch nichts essen darf?«, sagt er vorwurfsvoll. »Aber Vater«, protestiere ich, »so etwas dürfen Sie nicht sagen!« Ich weiß nicht, warum ich ihn sieze. Er schaut mich fragend an und lächelt. »Siezen wir uns, Liduška? Was ist das denn für ein Unfug, ich bitte dich!« – »Nein, das war nur … ich weiß nicht. Es ist mir so herausgerutscht.« – »Nu, so was«, sagt er und denkt schon nicht mehr daran. Er notiert sich etwas. Er schreibt Gedichte. Schlechte Gedichte, schöne Gedichte, seine Gedichte. Und dieser große mährische Körper passt fast nicht in das Bett hinein, das für einen zierlichen Brasilianer gedacht ist. Er ist stämmig wie die Eichen in unserer Heimat, wie Bäume, die hier nicht wachsen. Hier haben sie zu weiches Holz, das jederzeit nachgibt und allerlei Krabbeltiere in sich aufnimmt, die unzählige Löcher hineinnagen und es in seine Kleinteile zerlegen, noch ehe es in den Himmel wachsen kann. Er aber ist eine Eiche, und die kann nur ein Blitz fällen, oder ein achter Herzinfarkt.

»Lidka, notier mal einen Menüplan. Schreib dir auf, was ich essen möchte, wenn ich aus dem Krankenhaus komme, ja? Damit ich mich auf was freuen kann!« Er lächelt selig, während ich mitschreibe. »Also, Liduška, am Montag … hast du’s?« – »Ja, ich hab’s.« – »Rindersuppe mit Einlage, mit feinen Nüdelchen. Geschmortes oder gegrilltes Kalbfleisch. Zum Abendessen gehackten Schinken mit Kartoffelbrei. Am Dienstag passierte Erbsensuppe und überbackenes Huhn mit Gemüse, zum Abendessen Fleckerlnudeln mit Schinken. Und dann vielleicht noch etwas Süßes, etwas Leichtes, aber Süßes. Ein Zitronensoufflé oder ein Kaiserschmarrn mit Kirschkompott, was meinst du? Lidka, wollt ihr mir dieses Zitronensoufflé machen?« Ich nicke, nicke wie der unglückliche Hurvínek mit dem großen, viel zu schweren Puppenkopf. Werde ich machen. Alles werde ich für dich machen.

Wenn ich nachts neben seinem Bett sitzend eindöse, kommt in meinen Träumen eine verschneite Welt zu mir. Erinnerungen daran. Ein Bild, das ich gemalt und mit hierhergebracht habe. Darauf ist eine Hütte zu sehen, irgendwo bei uns im Hügelland, und zwei schneebedeckte Birken. Bäume, die nicht in die Berge gehören. So wie ich nicht hierher gehöre. In das tropische Licht. In die Hitze. In die Vergessenheit und das ewige schlechte Gewissen derer, die fortgegangen sind, der Emigranten. Ich kann ganz gut zeichnen, habe angeblich Talent, aber diese Birken kommen mir trotzdem komisch vor. Es sind Taugenichtse von Birken. Auch musikalisches Talent habe ich, und das fürs Gehorchen. Ich bin immer gehorsam gewesen, wer weiß warum. Warum gehorcht ein Mensch? Um seine Ruhe zu haben. Und ich wollte immer meine Ruhe haben. Ruhe, um Klavier zu spielen, Ruhe für die zarten und die stürmischen Töne, die mein Flügel hergibt. Und wenn ich gehorcht habe, herrschte immer Ruhe.

Ein Schneesturm. Ich stapfe voran, der Wind pfeift um meine Füße, zerrt an meinen Beinen. Ich sinke in eine Schneewehe ein, stapfe aber weiter bergan in Richtung der kleinen Kapelle, wo ich dem verblassten Christusbildchen die Papierrosen zu Füßen legen will, die mein lieber Rudi für mich auf dem Jahrmarkt geschossen hat. Endlich habe ich es hinauf geschafft, mein Schweiß tropft in den schweren, feuchten Schnee, der Sturm lässt nach, der Wind braust nicht mehr und wimmert nur noch schwach. Ich stehe oben auf dem Hügel, aber die Kapelle ist nicht hier. Ich bin auf einem unbekannten, falschen Hügel. Das Krepppapier in meinen Händen wird feucht, die Farben rinnen herab und bilden zu meinen Füßen rote Pfützen. Ich wache schweißgebadet auf, der große, hölzerne Ventilator mit dem verblichenen Goldrand rattert, und ich ringe nach Luft. Vater, der Chef, schläft. Ich schalte den Ventilator ab, öffne das Fenster. Dadurch wird er wach. »Mach die Läden ganz auf«, bittet er mich, »und lass das Licht aus, wir wollen warten, bis die Sonne aufgeht.« Von draußen hört man das Gekrussel des Nachtgeziefers, das sich in die dunklen Winkel zurückzieht, in die kühlen Stellen zwischen Rinde und Laub. Die Sonne lässt sich heute Zeit. Ich schichte ihm noch mehr Kissen unter den Kopf, stütze ihn, damit er sich aufsetzen kann. Er sitzt da und schaut auf die blutrote Färbung im noch grauen Himmel. Gestern war es unangenehm neblig, aber heute ist der Himmel klar, ohne die klebrigen Fetzen kalter Feuchtigkeit, die im Krankenhauspark in den Spitzen der Farnsträucher hängen bleiben. Der August ist der Monat der schönsten Vollmonde, aber mit den Sonnenaufgängen ist nicht viel her. Doch jetzt ist die Sonne da – in all der rotglühenden Pracht, deren sie zu dieser Jahreszeit fähig ist, in der nichts blüht und man Blumen hauptsächlich auf Kirchfesten und aus Papier erhält. Mutter ist noch nicht gekommen, nur er und ich sind da, sind hier zusammen, und dieses Zusammensein ist so eng, dass ich weiß, was er denkt, dass ich seine Gedanken berühren, ihr silbernes Gewebe in meine Hand nehmen und direkt mit ihnen sprechen kann, ohne Umschweife und ohne den Umweg der Worte. Ich spreche mit ihm, als würde ich Klavier spielen. Als würde ich mit ihm durch die Musik reden, für die er immer Anerkennung hatte, aber nur als eine Dreingabe, die Glanz verleiht, niemals als eine richtige Arbeit, als fleißige Arbeit begnadeter Menschen, niemals als Selbstzweck.

Er richtet sich ein wenig im Bett auf. Denn jetzt kommt Mutter herein. Sie legt ihre schwarze Lackhandtasche mit dem leicht abgewetzten Goldverschluss auf das schneeweiße Bett, und der Kontrast tut mir in den Augen weh. Ich bin völlig gerädert und übernächtigt von dem Krankenhaussessel. »Ruh dich noch ein bisschen aus, meine Liebe, leg dich nebenan bei den Schwestern hin«, sagt Mutter. Ich widerspreche ihr nicht. Ich gehorche und stehe auf. Sehe ihn an, wie er die Augen zusammenkneift, weil die Sonne jetzt hoch am Himmel steht und seine morgendliche Andacht damit beendet ist. Ich gehe aus dem Zimmer. Mir ist nicht mehr nach Schlafen. Die Krankenschwester kocht mir einen kleinen starken Kaffee und bietet mir eine Beruhigungspille an. Aber die brauche ich nicht, ich bin ruhig. Ich habe seine Gedanken berührt, im Kopf Klavier gespielt und den Sonnenaufgang beobachtet. Ich sitze in einem Sessel des Schwesternzimmers, und anscheinend bin ich doch noch eingeschlafen, denn als ich aufwache, zeigt die nüchterne Krankenhausuhr fast Mittag an. Mutter schreit. Überall herrscht auf einmal Durcheinander, alle rennen irgendwohin. Das Wort reanimação, all diese Zischlaute fahren mir heftig durch den Körper. Ich beobachte die schwarzen Uhrzeiger, wie sie langsam ins Nirgendwo kriechen. Alle sind verstört, aufgeregt, hektisch. Ich nicht. Ich gehe ruhig zu seinem Bett, sehe ihn an. Seine großen Hände. Hände mährisch-walachischer Senner, Hände mongolischer Invasoren innerhalb der Bat’a-Sippe, Schuhmacherhände, Chefhände. Ein Zettel steckt in ihnen, der ihm ein wenig aus den Fingern geglitten ist, und ich nehme ihn an mich. Lese seine ausladende Handschrift, das letzte Wort lässt sich fast nicht entziffern, aber ich weiß, er hat geschrieben: Die Wahrheit wird zum Vorschein kommen wie Öl auf dem Wasser. Ich präge es mir ein. Präge mir diesen Sonnenaufgang, diesen Abgang ein.

Es ist ein schwerer Tag gewesen, alles hat sich lange hingezogen. Jan kniete neben dem Bett und wimmerte, dass Vater ihn nicht verlassen solle. Ich stand aufrecht da und sank dann wie immer auf mein linkes Bein ab, dieses linke Linke, das schon seit Ewigkeiten zu kurz ist. Nur wegen dieses Beines stehe ich so gerade. Nur seinetwegen halte ich mich jetzt aufrecht. Denn die fehlenden zehn Zentimeter meines linken Beines haben mich gelehrt, mich zusammenzureißen, unter allen Umständen aufrecht zu stehen.

Auf dem Weg von der Kapelle in Atibaia bis nach Batatuba sind, so weit das Auge blicken kann, frische Blumen ausgestreut. Wo haben die Leute die nur gepflückt, in diesem brasilianischen August, wo sich doch allenfalls Chrysanthemen auftreiben lassen?

Mit Baťa im Dschungel

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