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Ungarn und dieser Zug sind nur noch dunkle, ferne Träume. Sie bleiben zwar immer ein Teil von mir, doch tagsüber kann ich sie verdrängen und vergessen, vielleicht weil wir schließlich alle glücklich in Paris zusammentrafen und später auf dem riesigen Luxus-Überseedampfer an Bord gingen, der Île de France. Unser Ziel war zunächst Nordamerika. Wir hatten noch keine Vorstellung davon, wie radikal sich unser Leben verändern würde. Mit uns ging auch Frau Waldesová an Bord, der die Flucht gelungen war. Ihren Mann hatte die Gestapo gefasst. Sie war eine sehr liebe Frau. Der Waldes-Familie gehörten die KOH-I-NOOR-Werke. Sie erinnerte mich an die weiße Frau aus den Sagen, war etwas füllig, aber doch rätselhaft, wanderte nächtelang wie ein Spuk durch das Schiff und war traurig. Sie redete überhaupt nicht, und vielleicht aß sie auch nicht, denn im Speisesaal sah man sie nur selten. Manchmal grüßte sie mich leise und unterhielt sich kurz mit mir, wollte wissen, ob ich gerne zeichnete, welche Sprachen ich gelernt hätte und ob ich mich auf Amerika freute. Sie selbst freue sich nicht darauf. Ich freute mich auch nicht. Sie hatte merkwürdig schillernde, wie gläserne Augen, die Augen einer Frau, die sich leergeweint hat. Bei unserer Verabschiedung im Hafen von New York reichte sie mir eine schlaffe Hand im schwarzen Lederhandschuh. Nie werde ich ihr trauriges Lächeln vergessen. Ich war frei, ich war jenem Zug entkommen, sie aber würde niemals frei sein, das würde ihre Trauer nicht zulassen.

Und dann, nach einiger Zeit, als wir schon dachten, dass wir langsam, aber sicher zu Amerikanern würden, als wir uns an die Hochhäuser, die verrückte Geschwindigkeit vor Ort und die pathetische, etwas großspurige Art der Menschen gewöhnt hatten, verkündete Vater, dass wir weiterreisen würden, nach Lateinamerika. Wir schifften uns in Los Angeles ein und fuhren zunächst nach Mexiko. Unter anderen Umständen hätte ich das Leben, das für uns begann, sicher aufregend gefunden, aber so empfand ich diese ganze Reiserei, das Kofferpacken, Abschiednehmen, die jeweils neuen Unterkünfte, die neuen Gesichter, das neue Klima, den veränderten Himmel und den unendlichen Horizont nur als bedrückend. Ich sprach es jedoch nie aus, verstellte mich wie die anderen und redete mir ein, dass ich mich eben darauf einlassen musste. Es galt, bloß nicht zu klagen, nicht auf der Stelle zu treten, sich nicht vor der Zukunft zu scheuen und sich nicht mit dem zu quälen, was man hinter sich ließ. So erklärte es uns Vater immer wieder. Eine tausendfach heraufbeschworene Begeisterung wird Wahrheit. Manchmal aber auch nicht. Manchmal gerät sie zur Heuchelei.

An einem Tag hielt unser Schiff in einer schönen Küstenstadt. Ich weiß nicht mehr, ob es Acapulco war oder Puerto Vallarta, ich habe auch keine Lust, auf einer Karte oder im Tagebuch nachzuschauen – so als wollte ich diese Erinnerung im Ungewissen belassen, den Nebel in ihr bewahren, der sich am Morgen über dem Meer erhob, als diese kleinen Jungen wie glänzende braune Aale von den hohen Felsen herabsprangen. Sie mussten warten, bis der Schwall des Wassers bis zum Rand der Klippe rauschte, und aus größtmöglicher Höhe abspringen. Ihre Körper glänzten schokoladig in der Sonne, das Spritzen der salzigen Tropfen, das Getöse der Wellen. Sobald das Wasser sich ins Meer zurückzog, zog es auch sie zu einem anderen Felsen, und von dort kletterten sie über die kantigen Vorsprünge wieder zu der gleichen Stelle hinauf. Wie Raubvögel warteten sie auf den geeigneten Augenblick, um sich kopfüber in die Wassermasse zu stürzen, aus der sie womöglich nicht wieder auftauchen würden. An diesem Tag aber tauchten sie immer wieder auf, und ich sah ihnen wohl den ganzen Nachmittag lang zu, bis die Sonne unterging und die dunklen Schatten der Wellen die bunten Streifen am Himmel verschluckten.

Zlín und der Krieg lagen unendlich weit weg, hinter diesem Vorhang aus Ozean, der sich nach jedem neuen Tag wieder absenkte, als sollte das Theater nie eine letzte Vorstellung erleben.

Meine lebhafteste Erinnerung habe ich jedoch von Panama. Von einer Nacht in Panama. Wir wohnten in einem Hotel mit erbärmlichen Betten, über denen grau gewordene, löchrige Moskitonetze hingen, die keinerlei Schutz boten vor den vielen Mücken und Kakerlaken. Genau genommen war es kein richtiges Hotel, mehr eine Art Landhaus auf Stelzen, das irgendwelchen Dänen gehörte. Zum Abendessen grillten sie für uns am Strand Fisch in Salzkruste. Die Fische hatten scharfe Schuppen, die Haut ließ sich nicht gut vom Fleisch entfernen, und ich hatte Sorge, ich könnte so eine Schuppe verschlucken und daran ersticken. Auf meinem Grabstein würde dann stehen: Erstickt in Panama. Jan lachte mich nur aus. Nachts herrschte eine schreckliche Hitze, tagsüber war es noch heißer. Vater war mit Herrn Šváb, dem Leiter der panamaischen Betriebe, unterwegs, um die Bat’a-Verkaufsstellen zu kontrollieren und sich mit den jeweiligen Geschäftsführern zu treffen. Ich verbrachte den ganzen Tag mit Lesen oder lernte Spanisch und Portugiesisch aus englischen Lehrbüchern. Wenn ich keine Lust mehr darauf hatte, wanderte ich am Strand entlang, oder besser gesagt humpelte, denn die feuchte Luft tat meinen Hüftgelenken nicht gut, die höllisch wehtaten – es war der Auftakt für weitere Tage, von denen kein einziger schmerzfrei sein würde. Der Strand mit seinem schwarzen Sand war auf triste Weise wunderschön. Über mir flogen Pelikane, die auf der Jagd nach den Fischen mit den scharfkantigen Schuppen waren. Sie schwebten eine Weile über die Wasseroberfläche hinweg, senkten dann ihren Schnabel nach unten und schossen pfeilschnell ins Wasser. Wenn sie wieder auftauchten, flogen sie schwerfällig davon, so voll war der Hautsack unter ihrem Schnabel mit Fischen und Wasser. Meist setzten sie sich auf die morschen, salzverklebten, mit Muscheln und Algen behangenen Holzpfähle, und das Wasser floss zu beiden Seiten des Schnabels wie aus einem Sieb heraus. Dann rissen sie den Schnabel jäh nach oben und die gefangenen Fische glitten ihren Schlund hinab. Ich fragte mich, ob die scharfen Schuppen sie nicht auch beim Schlucken störten, aber es machte nicht den Eindruck. In dem Moment kam mir die ganze Natur mit ihrem ewigen Kreislauf der Nahrungsketten widerwärtig kalt und berechnend vor. In den Tropen war alles ständig am Fressen oder am Gefressenwerden. Zum Abendessen bekamen wir große schwarze Bohnen mit Reis und zum Nachtisch in Palmöl gebackene grüne Bananen. Mir wurde schlecht davon, mehr als von den Fischen. Jan und die anderen vertilgten alles ohne Probleme, und das kam mir ungerecht vor. Ich fühlte mich schwach, kränklich, schlaff, meine Hüftgelenke schmerzten, und mir fehlte jener gesunde Geist und Körper, auf den Vater doch so angewiesen war. Gleich nach Sonnenuntergang, als die Stechmücken und Tausende aufdringlicher kleiner Fliegchen zu schwärmen begannen, legte ich mich ins Bett, unter das kaputte Moskitonetz und hörte im Dunkeln zu, wie sich das Tosen des gegen die Klippen schlagenden Meeres mit dem Wehklagen einer jungen Frau vermischte. Es war nicht der leise, traurige Kummer der Frau Waldesová, sondern ein herzzerreißendes Schreien, ein Schluchzen und verzweifeltes Wimmern. Es handelte sich um die Frau eines amerikanischen Flugoffiziers, die im Haus nebenan wohnte. Sie hatte am Abend erfahren, dass der Bomber ihres Mannes ins Meer gestürzt und alle Insassen umgekommen waren. Und auf einmal war der Krieg überall, man konnte ihm nirgends entkommen. Der trennende Vorhang des Meeres hatte sich gehoben, nur dass keiner klatschte. Der Krieg fletschte seine Zähne und flüsterte mir in dieser Nacht ins Ohr, dass mein Glück in dem Zug reiner Zufall gewesen war, nur ein kleiner, kläglicher Zufall.

Mit Baťa im Dschungel

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