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Torturen vor Tortona

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Genua, addio. Walo fährt voraus – und schüttelt uns gleich nach der Hafenausfahrt ab. Wir wundern uns. Wie hingezaubert, steht eine Q8-Tankstelle gleich außerhalb der Hafenanlage. Warum hat Walo nicht hier haltgemacht, wo die gesuchte Diesel-Zapfsäule förmlich auf ihn zu warten scheint. Warum will er weiter nach Tortona? Er wird sich in den Ruhevorschriften verstricken und hängen bleiben. Markus sagt: »Verschiebe die Dinge nur mit triftigen Gründen. Natürlich kommt immer wieder eine Tankstelle. Aber weißt du, wann das ist?« Doch Walo setzt seine Prioritäten anders. Er liebt den Nervenkitzel: Reicht es bis zur nächsten Tankstelle? Schafft er es doch noch über den Zoll? Wenn ja, feiert er einen Sieg. Wenn nicht, freut er sich, was Meister Zufall ihm beschert.

Leer oder voll, das ist wie der Unterschied zwischen einem scharfen Messer und einem stumpfen Messer. Wie Tanzen und Kriechen. Leer sind wir weich wie Butter dem Horizont entgegengefedert. Es ist eher ein Summen als ein Brummen, eher wie das intensive, geschäftige Treiben der Bienen im Mai. Voll beladen, schlägt das Gewicht hart auf die Achsen, der Motor singt nicht, er knurrt und keucht die Hügel hinauf. Die Leeren schweben mit ihren 89 km/h links an uns vorbei, dafür haben wir mehr Zeit, uns der Betrachtung der toxischen Wäsche zu widmen. Nun kriegt sie auch von uns ihr schwarzes Teil ab.

Wenn Sattelschlepper Elefanten wären, könnten sie brummen und schnurren wie Raubkatzen, und wenn sie Raubkatzen wären, fragt es sich, warum sie Pferdestärken haben. Metaphern haben immer etwas Schiefes an sich, aber so langsam unterwegs auf die nächste Hügelkuppe, schleppen sich manchmal merkwürdige Gedanken ebenso träge dahin. Als Michi anruft, haben wir die Steigung hinter uns, den Abend vor uns. Es gibt eine kurze, effiziente Durchsage zum Notwendigen, wie einst am Ops-Tisch: »Salut Michi. Wir sind zurück Richtung Mailand. Werden noch heute verzollen. Tschüss Michi.«

Überraschungen vorbehalten. Kaum liegt die Poebene vor uns, verspricht eine Anzeigetafel quer über die Autostrada »2 km di coda«. »Coda« ist Stau. Nanu, wenns nichts Schlimmeres ist, kommen wir heute glimpflich davon. Von Stau weit und breit keine Anzeichen. Vorläufig. Auch das Navigerät zeigt nichts an. Ach, das ist doch vorbei. Diese Italiener. Die haben doch einfach die Tafel auszuschalten vergessen – bis wir doch auf eine stehende Kolonne auffahren. Mindestens drei Glimmstängel Waldluft lang. Stehen. Stehen. Stehen. Dann folgt eine Umleitung mitten durch die Reisfelder und Rapsfelder, die auf der Hinfahrt wie Kulisse ausgesehen haben. Die Landwirtschaft macht sich so breit, dass die Straße gerade noch knapp Raum für zwei Fahrzeuge lässt. Markus schaut auf die Uhr, aber gibt sich gelassen. Im nächsten Dorf winkt er einen Fußgänger über den Zebrastreifen. Es ist ein älterer Herr, der uns zuwinkt und sich höflich mit »Buona serata« bedankt. »Für einen Fußgänger warten, das tut hier sonst keiner«, sagt Markus. Warum sollten wir nicht. Es geht sowieso nicht voran. Markus ist in Gedanken versunken: »Lebensmittel sind gut«, sagt er halb zu sich, halb zu mir. »Sie sind nie giftig. Für Gefahrengüter sind manche Straßen gesperrt. Mit Gefahrengütern würden wir jetzt vollends stecken bleiben.«

Wir schauen der Sonne beim Sinken und Rotwerden zu. Zurzeit kommen wir auch mit unseren Lebensmitteln nicht mehr weiter. Ich spüre, allmählich beginnt es sanft zu brodeln in Markus’ Brust. »In Holland ist das besser«, sagt er, »bei jeder Unfallmeldung rücken Sanität, Polizei und Abschleppdienst unverzüglich im Dreierpaket aus. Wahrscheinlich neun- von zehnmal umsonst. Dafür steckst du kaum je in einer »coda«. In Deutschland gehören zehn und zwanzig Kilometer Stau zum Alltag eines Chauffeurs. Und hier?« Er presst die Lippen zusammen. Wir werden sehen. Das GPS zeigt uns, wo wir stehen. Vierzehn Kilometer vor der nächsten Einfahrt in die Autostrada. Der Name, der bisher bloß eine Folge von Buchstaben war und wie Tarragona klingt, bekommt unversehens Bedeutung. Tortona. Stehen, rollen, stehen, rollen im Schritttempo. Dafür können wir nach dem Flieder in den Vorgärten greifen.

Markus findet es zum Kotzen. Ob wir das Auto abstellen? Aber was du gefahren bist, bist du gefahren. Auf einem Ferienfährtchen kommt es auf ein paar Stunden nicht an. Da kannst du fahren, so lange du willst. Wir aber bleiben stehen, abends um zehn. Zack, ein Entscheid. Markus stellt den Motor ab. Schluss mit der Arschvibrationsmassage. Göttliche Ruhe. Bis zu den nächsten Metern durchs nächste Rapsfeld. Und ständig liegt eine andere Frage in der Luft: Wie lange wohl Walo der Diesel noch reicht? Das Navigerät schickt uns links auf eine Abkürzung. Höhe bis zwei Meter sechzig. Da kommt kein Vierzigtönner durch. Wir haben drei Meter siebenundachtzig.

Fast eine Stunde später stehen wir vor einem Rotlicht, das die Kreuzung mit einem unbefahrenen Schottersträßchen regelt. Es schaltet in kurzen, gleichmäßigen Abständen von Rot auf Grün und von Grün auf Rot. Markus entlädt seine Spannung mit einem Schlag auf den Mercedes-Stern auf dem Lenkrad: »Ein Polizist würde reichen. Ein einziger Polizist, der dieses dumme Rotlicht ausschaltet – und wir wären demnächst in Chiasso.« Aber es ist nicht nur dieser eine fehlende Polizist. Noch ein Lichtsignal und noch eins und noch eins. Markus sagt: »Gopferteckel, jetzt reichts. Wenn wir jetzt noch in die Ruhepausenvorschrift reinlaufen, hats uns erwischt.«

Dann ruft Walo an, grinsend: »Arschloch klingt so wunderschön auf Italienisch, nicht wahr?«

So, und jetzt. Gewonnen. Als wir die Autostrada wieder erreichen, steht die Sonne noch wenige Zentimeter über dem schnurgeraden Horizont. Großes Aufatmen. Es könnte uns noch reichen zurück in die Schweiz. Markus hatte erst kurz nach neun daran gedacht, die Scheibe laufen zu lassen. Das kommt uns nun zustatten. Es wird knapp, wenn wir noch vor Ablauf der zulässigen Arbeitszeit über die Grenze kommen, aber es könnte reichen. Sechs Tage fahren sind pro Woche erlaubt. An vier Tagen während insgesamt neun Stunden, an zwei Tagen während insgesamt zehn Stunden. An wahlweise drei Tagen haben elf Stunden Ruhezeit zwischen Abfahrt und Ankunft zu liegen, an drei Tagen pro Woche reichen neun Stunden.

Die Befreiung aus dem Blechkorsett des Staus motiviert uns, Beethovens Sechste in den CD-Schlitz zu schieben. David Zinmans Zürcher Tonhalle-Orchester klingt so frisch und scharf wie das Aftershave heute Morgen. So feiern wir die heiteren Gefühle bei der Ankunft in Tortona und das lustige Zusammensein der Landleute auf den Reisfeldern beidseits der Pannenstreifen. Auf der Hülle ist Beethoven zitiert: Die Szene am Bach haben die Goldammern da oben, die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum mitkomponiert. Gerade als nach Gewitter und Stau der Hirtengesang beginnt, ruft der Werkstattchef von Mercedes in Schlieren an. Nun sei klar, warum beim manuellen Schalten der Gang manchmal rausfalle. Es hapere bloß an einem elektronischen Teil, nicht größer als eine Zigarrenschachtel, sehr teuer, aber schnell montiert. Er habe sich im Werk in Deutschland erkundigt. Markus solle vorbeikommen, wenn er mal in der Nähe sei.

Markus hängt ein und schüttelt den Kopf: »Nach über vier Jahren! Wieso haben die sich nicht schon früher schlaugemacht? Wie oft haben wir deswegen Tempo verloren und Diesel verschwendet, um wieder auf Touren zu kommen. Vor allem auf langen Steigungen irgendwo in den Ardennen oder den Pyrenäen.« Oft ist Markus deswegen in der Werkstatt gewesen, wo aufs Geratewohl und erfolglos dieses und jenes ersetzt wurde. Ein Telefon nach Wörth hätte ihm viel Ärger erspart. Der Servicevertrag verpflichtet Mercedes zur Übernahme sämtlicher Kosten.

Ich gebe mich den frohen und dankbaren Gefühlen nach dem Sturm und Stau hin. Markus kommt noch nicht von Rotlichtern und »der Zigarrenschachtel« los: »Die Lässigkeit ist es, die mangelnde Neugier, die einen angurkt«, sagt er, »nur Bosheit gurkt einen noch mehr an.« Er hat ja recht. Vollkommen recht. Ein Polizist pro Rotlicht würde reichen. Die vierhundertsechzig Pferde in der Raubkatze des Elefanten schnurren wieder wie eh und je, als ginge sie das alles nichts an. Sie laufen ihre neunundachtzig, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht haben Motoren doch keine Seele.

Markus sagt: »Ich möchte einfach noch über diese Grenze heute Abend. Das Puff morgen früh in Chiasso will ich mir partout nicht antun. Schon lange vor sechs Uhr stehen sie kreuz und quer.«

Wie Walo wohl das Puff vermeiden will? Warum hat er die Q8-Tankstelle gleich am Hafenausgang ausgelassen? Nun wird ihm die Zeit fehlen, die er dort eingespart hätte. Er hat Stress, weil er auf der Autobahn eine Möglichkeit finden muss. Wenn er Pech hat, geht ihm der Diesel aus, oder er muss einen Zwischenhalt einschalten, um woanders etwas Reserve zu tanken. Auch Walo weiß doch, dass Unterlassungen sich rächen können.

So ist das eben, und es beginnt schon morgens früh. Markus hat das mit der ersten Tankfüllung als Sattelschlepperfahrer gelernt. Man rasiert sich etwas zu lang, der Kaffee kommt zu heiß aus dem Automaten: Fünf dumme Minuten verplempert, und man steht eine halbe Stunde vor einem Autobahnkreuz. Der Frühverkehr kann innert Augenblicken von praktisch null auf Maximalstärke anschwellen. Lieber kommt man zehn Minuten zu früh und muss dann warten, bis die Schranke oder das Fabriktor aufgeht, als dass man sich wartend hinter zwei oder drei Klügere, Diszipliniertere einreihen muss.

Über der Poebene schwebt eine Akazienduftwolke, süß wie Honig, intensiver als Diesel und reiner als der Schweinetransporter, der uns auf dem Weg in den Schlachthof bei einem Elefantenrennen vernaschte. Wären wir nicht zur Blütezeit unterwegs, es wäre mir nie aufgefallen, wie viele Akazien in Italien wachsen, aber jetzt, da ich es schreibe, tippe ich eher auf Robinien, die ähnlich blühen, mindestens so stark duften und sich gerne an Straßenrändern, Bahndämmen und trockenen Wäldern ausbreiten, aber nicht über einen so verklärten Namen verfügen. Wer kauft schon Robinienhonig, und wer weiß, ob er auch wirklich Akazienhonig bekommt, wenn Akazienhonig draufsteht. So drehen sich die Gedanken mit den Rädern.

Warum hält Markus diesem Bock so unverbrüchlich die Treue?

Alles in allem dürfte es ihm kaum an etwas fehlen. Nötig hat er die Fahrerei kaum, nach zehntausend Operationen am offenen Herzen – Bypässe, Geburtsfehler, Klappenfehler – Stück für Stück, zwei bis drei jeden Tag, vorwiegend an bestens versicherten privaten Patienten, gut und gern zwanzig Jahre lang, und das in den goldenen Börsenjahren der letzten Jahrzehnte, als die günstigen Winde der Wirtschaft auch kleineren Vermögen tüchtig unter die Flügel griffen. Nein, nötig kannst du es nicht haben, denke ich, aber ich frage nichts, und er sagt nichts. Ein Steckenpferd gönnt er sich, könnte man sagen, wenn er in seinem Sattel säße, als Herrenreiter, und nicht als Kutscher fremder Herren auf dem Bock eines fünfachsigen Vierzigtönner-Sattelschleppers Autobahnen polierte.

Walo hat unterdessen schlappgemacht. »Ich gebe auf«, hat er übers Handy kurz vor Mailand gesagt, etwas frustriert, aber wohlgemut. Bis er endlich getankt hatte, wies ihn die Scheibe in die Schranken. »No trespassing«. Gesetzlich mögliches Tagessoll erfüllt. Er parkt beim nächsten Autogrill und steht an der Kaffeebar, während wir nun schon bald zwölf Stunden in Italien sind und noch nicht mal einen Espresso gerochen, geschweige denn getrunken haben, nur diesen Automatenkaffee auf Sonnenblumenölbasis. Also denn, Walo, genieß es, bis morgen in Lugano. Espresso hin oder her, für heute gilt: The winner is … Markus Studer, Internationale Transporte.

Walo wird morgen früh vor fünf Uhr aufstehen, um Markus wieder einzuholen, doch selbst wenn er das schafft, wird Markus schon wieder eins weiter sein mit seinen Gedanken. Er sagt, er fahre strategisch: »Beim Operieren muss man immer zwei, drei Schritte vorausdenken. Alle möglichen Situationen antizipieren und für jede Möglichkeit verschiedene Szenarien entwickeln. Das ist auch das Geheimnis am Lenkrad. Voraussicht ist die beste Vorsicht.«

Das ist wohl eine Tugend, der einige seiner Herzpatienten ihr Leben verdanken. Und die uns jetzt gebührenden Vorsprung eingebracht hat. »Wir ziehen es durch«, sagt Markus, »Scheibe hin oder her. Weit ist es nicht mehr bis Lugano, und auf einem Autobahnparkplatz übernachten, das geht mir gegen den Strich.« Nein. So was tut Markus nicht. Stilfrage. Noch eine halbe Stunde einer Doppelkette von Rücklichtern hinterherfahren, rund um Mailand, in die Abenddämmerung hineinfahren, das Lucky-Luke-Gefühl mit einem Waldluftstängel intensivieren – et voilà. Chiasso by night. Es riecht nach Pisse, irgendwo in der Nähe schlägt laut Metall auf Metall. Kaum sonst irgendwo wirkt die Schweiz so gespenstisch international wie an den bald letzten Zollübergängen innerhalb Europas. Die düsteren Asphaltwüsten, die uniformierten Gestalten, die im Flutlicht ihre Schatten werfen und ihre Pistolen vom Gurt baumeln lassen, so selbstverständlich, als wäre das ihr Gehänge, aus dem sie pinkeln. Der Ort wirkt so unwirklich und doch so bedrohlich, fast als wäre unsere Frontscheibe eine Cinemascope-Leinwand für einen Agentenfilm aus dem Kalten Krieg. Wie wir über die Grenze gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Es ist weggefallen aus dem Gedächtnis, wie die Film-Enden beidseits eines Schnitts. Als Nächstes sind wir wieder dort, wo wir heute Morgen, vierhundertfünfzig Kilometer früher, begonnen haben. Beladen mit Sonnenblumenöl roh in Lugano-Manno.

Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer

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