Читать книгу Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer - Markus Maeder - Страница 16
Der Traum vom großen Geschirr
ОглавлениеMarkus stellt den Motor ab. Die Sitze sacken hydraulisch zusammen. Es ist, als hätte man uns die Luft rausgelassen. Endlich Ruhe. Endlich schlappmachen dürfen. Rund um uns herum Asphalt und Beton, der gleiche wie gestern Abend, kein Strauch, kein Baum, und die Grillen sind auch wieder da, ganz in der Nähe. Nur zwei oder drei, gerade genug, um uns die Sinne zu öffnen für die Werte jenseits des Pannenstreifens. Markus knipst die Vierundzwanzig-Volt-Lämpchen in der Kabine an. Sie werfen ein fahles Licht auf die graue Plastik-Innenverschalung. Immerhin, wir sitzen nicht im Dunkeln, und auf eine fast abenteuerliche Weise wird es sogar gemütlich. Es hat noch Brötchen und Camembert im Kühlschrank, und wenn man tiefer greift, gelangt man zum Bier. Markus schnappt sich ein Fläschchen und sagt: »Ich hatte immer gesagt, 2003 ist der Studer nicht mehr am Herzzentrum. Ich hatte meinen Traum vom großen Geschirr. Katharina war es, meine Frau, die mir den Anstoß gab: Nicht nur reden davon, sagte sie. Jetzt tu es.«
Später sagt er: »Unterdessen habe ich das ganze Alphabet. Oder mindestens die erste Hälfte. Alle Fahrprüfungen von A bis F. Als Letztes kamen der Lastwagenbrief, der Anhängerbrief und der Brief für den Sattelschlepper und den Bus. Ich fragte mich: Was ist gut für einen älteren Knaben wie mich. Flüssiges fand ich prima. Das musst du nicht selber auf- und abladen. In flüssigen Lebensmitteln sah ich meine Zukunft. In Hygiene kannte ich mich schon aus. Was wollte ich lieber als ein Tankfahrzeug. Heute Fruchtsaft, morgen heiße Schokolade und übermorgen … Immer etwas Flüssiges halt. – Möchtest du einen Schokoriegel? Die habe ich letzthin in Broc bei Cailler gekriegt.«
Aber gerne doch. Bettmümpfeli nennen wir diese süßen Nachspeisen vor der Nachtruhe. Wir lassen die Schokolade zergehen. Dann sagt Markus: »Natürlich bin ich ein Exot in der Branche. Uns Schweizer kannst du bald an einer Hand abzählen.«
»Und Frauen?«, frage ich dazwischen, »ist Lastwagenfahren immer noch Männerdomäne?«
»Genau wie die Herzchirurgie«, sagt er, »die lange, unregelmäßige Arbeitszeit fast rund um die Uhr schließt Frauen von vornherein aus. So wie sie von klein auf lernen, mit Nadel und Faden umzugehen, wären sie prädestiniert für die Arbeit am offenen Herzen – aber außerstande, sich dazu auch noch um ihre Kinder zu kümmern.
Als bei uns die Kinder draußen waren, fühlte ich mich endlich frei – und bereit zum großen Sprung. Um mir als selbstständigem Camionneur die Existenzgrundlage zu sichern, suchte ich einen Spediteur, bei dem ich unter Vertrag fahren konnte. Ich hatte die Wahl zwischen dreien: Einer ging unterdessen kaputt, einer liegt in der Westschweiz, und der dritte, Transfood, in der Ostschweiz. Erst teilte ich die Aufträge mit meinem Partner Bruno Bopp, einem ehemaligen Swissair-Piloten. Ich wollte vier Jahre fahren und schloss mit ihm einen Vertrag ab. Wir kauften diese Sattelzugmaschine und mieteten den Auflieger von Transfood dazu. Der Vertrag sah vor, vier Jahre gemeinsam zu fahren. Wer vorher ausstieg, dem sollte es wehtun. Bopp stieg trotzdem aus. Er wurde Gemeinderat und privatisiert. Nun fahre ich seit bald zwei Jahren allein. Das werde ich auch weiterhin tun. Das Geschäft läuft gut. Aber die Preise sind tief. Immerhin: Zwanzig Tage nach Monatsende habe ich das Geld auf dem Konto. Immer. Das ist in der Branche nicht selbstverständlich.«
Das Brummen von Dieselmotoren und die hellen Lichtkegel eines Konvois von fünf Sattelschleppern unterbrechen das Gespräch. Sie kommen auf unser Gelände und parken uns gegenüber. Auf den Aluminiumtanks steht »Tatratrans«. »Siehst du«, sagt Markus, »aus Ungarn. Fünf von Tausenden, die uns die Marge verderben.«
Er zieht die Gardinen und sagt: »Gerade als ich anfing, suchte die Schweizer Detailhandelskette Migros einen Partner für ihre Straßentransporte. Fast dreißig Spediteure bewarben sich um einen Vertrag. Transfood kam zum Zug. Es war ganz einfach. Der günstigste Bewerber gewann. Fast ein Drittel unter den bisherigen Preisen. Das war ein Erfolg für Transfood. Aber es schlägt aufs Einkommen jedes einzelnen Fahrers durch. Von den rund dreißig Autos von Transfood machen rund die Hälfte sogenannte Hauseckenfahrten. Sie fahren kürzere Strecken, oft täglich dieselben. Die andere Hälfte macht die internationalen Transporte. Oft erfahre ich erst am Montagmorgen, wann es losgeht, wohin es geht und wie es danach weitergeht. Irgendwie komme ich immer zurück. Ja, bis jetzt bin ich immer zurückgekommen. Auch das ist nicht selbstverständlich.
Der Disponent ist die Schlüsselfigur. Michi hats in der Hand, welchem Fahrer er die Jobs der ersten Wahl zuteilt. Offenbar steht er auf verlorenem Posten. Nie kann er es allen Fahrern recht machen. Weil Irren menschlich ist, trifft er nicht immer die beste Entscheidung, und weil er menschlich entscheidet, hat er Sympathien für einzelne Fahrer. Klar, dass die eigenen Leute in der Regel besser wegkommen als die Vertragsfahrer. Motzen und den Disponenten vergraulen wäre trotzdem nicht klug. Es gibt zwar tausend Möglichkeiten, ihn zu verarschen, doch hat er immer noch eine Möglichkeit mehr, sich zu rächen. Besser, man redet mit ihm, oder wenn sich nichts ändert, sucht man Unterstützung beim Chef. Aber Michi ist prima. Ich kann mich nicht beklagen über das Los, das er mir zuteilt. Immer wieder etwas Neues. Es gibt Fahrer, die Tag für Tag, gleichsam im Linienverkehr, Zucker von Rupperswil an der gleichen Rampe abladen. Stell dir vor, jeden Tag Rupperswil, jeden Tag Zucker, hin und zurück. Traumstrecken sehen anders aus. Die Route Sixty-Six zum Beispiel. Get your kicks on Route 66! Oder from San Diego up to Maine. Das sind ganz andere Dimensionen.«
Die fünf Tatratrans-Fahrzeuge stellen endlich ihre Motoren ab. Markus stiftet noch mal einen Schokoriegel und holt ein zweites Bier aus dem Kühlschrank. Es fühlt sich sehr kalt an und weckt noch einmal die Lebensgeister. »Stell dir vor, im Service-Center am Highway im San Bernardo Valley in Kalifornien stehen tausendeinhundert Plätze bereit. Für Autos, von denen wir nur träumen können. Die Zugmaschinen sind fahrende Einfamilienhäuser. Diese langen Kabinen hinter den langen Motorhauben mit dem vielen Chromstahl und den Auspuffs, die wie die Kamine von Dampflokomotiven in den Himmel ragen, mit diesem Deckelchen drauf, das unermüdlich auf und ab hüpft, solange das Triebwerk läuft. Aber diese Einfamilienhäuser sind nur in Amerika möglich, weil dort nicht die Fahrzeuglänge, sondern nur die Länge des Aufliegers begrenzt ist. Das sollte auch bei uns erlaubt sein. Allein schon aus Sicherheitsgründen. Ein Meter Knautschzone vor dem Kopf reicht einfach nicht aus. Aber seit ich meinen Sohn Christoph im Silicon Valley besucht habe, will ich nicht mehr nach Amerika. Habe ich es nötig, mir die Fingerabdrücke nehmen zu lassen, meine Iris vermessen und Hunde an mir rumschnüffeln zu lassen, um das Land als Gast zu betreten?«
»Wenn du wählen könntest, wohin würdest du fahren?«
»Hier, im guten alten Europa, hinunter in die Toskana, oder ins Burgund und weiter zu den Châteaux von Bordeaux, um Wein nach Hause zu bringen. Am liebsten aus Spanien. Aus dem Rioja. Aber Transfood wird nicht erlauben, für Dritte zu fahren, solange der Auflieger nicht mir gehört. Wäre es mein eigener, ich hätte ihn schon lange litrieren lassen. Denn anders als alle anderen Flüssigkeiten, die nach Gewicht transportiert werden, reist Wein per Liter. Und dafür braucht es eine geeichte Skala im Tank. Ja, Weinfährtchen bleiben ein Traum. Aber auch von Fahrten in den Norden träume ich hie und da. Schweden wäre schön. Oder der ganz hohe Norden. Finnland. Diese endlos langen Strecken durch die Wälder, wenn die Sonne um Mitternacht schräg zwischen den Stämmen durchblitzt. Aber dieses Geschäft haben baltische Spediteure an sich gezogen. Zu konkurrenzlosen Preisen. Ja, Finnland bleibt mein Traum. Aus Nostalgie.«
Ich halte mein Bier, bis es warm wird, in der Hand. Markus sagt: »Vor vielen Jahren, ich war noch Schüler, verbrachte ich einen Sommer in einem Austauschprogramm auf einer Insel vor Helsinki. Es gab kein Wasser, keinen Strom, aber Batterien brachten ein Grammofon und einen Lautsprecher zum Lärmen. Es war gerade die Zeit, als die Beatles mit Michelle, ma Belle und I Wanna Hold Your Hand die Welt verzauberten. Nachts kam die Jugend des Camps in einer Lichtung am Strand zum Tanzen zusammen. Das heißt, die Mädchen kamen in Scharen. Die Boys waren zu faul, um Händchen zu halten, und die Mädchen nur allzu begierig, gehalten zu werden. So tanzten die Mädchen untereinander. Elfengleiche Geschöpfe von strohblond bis rabenschwarz. I wanna be your man. Alle sangen mit. Auch ich sang es jeder herzhaft entgegen: I wanna be your man. Nach Finnland möchte ich noch einmal, auf meine alten Tage. Finnland ist fast schon das Paradies. Auf einem siebenachsigen Sechzigtönner diesen zahllosen Seen entlang, wo die Elche mit ihren Geweihen am Straßenrand stehen, als wären sie ausgestopft und hätten schon immer genau so gestanden.«
Markus sagt nichts mehr. Ich schaue zu, wie seine Zigarette aufglimmt und wieder erlischt. Aufglimmt und erlischt. Als sie zu Ende ist, lassen wir die Sitze und die Lehnen nach vorne fahren, um etwas Raum vor den Kajütenpritschen zu schaffen, räumen unsere Reisetaschen und anderen Klimbim beiseite und breiten die Schlafsäcke aus. Einer steigt raus ins Freie, während der andere sich umzieht, und umgekehrt, nicht aus Scham, bewahre, sondern um uns nicht ins Gehege zu kommen. Die Kabine hat zwar Stehhöhe zwischen den Sitzen, aber für zwei bleibt nicht genügend Bewegungsfreiheit.
Als wir im Trainer dastehen, greift Markus nach dem Baseballschläger hinter dem Sitz und sagt: »Nur für den Fall. Die Tage im Auto sind lang, die Nächte kurz, der Schlaf tief, und wie die Straße zählt auch ein Parkplatz zur Risikozone.« Ich wiege den Schläger in der Hand und versuche mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn er einen Schädel zertrümmert. Markus sagt: »Ja, man muss schon aufpassen, dass niemand die Kabine mit Narkosegas füllt und einen ausplündert. Man hört immer wieder solche Geschichten. Am besten übernachtet man zu zweit oder zu dritt und passt aufeinander auf. So kann man auch an exponierten Plätzen mal vom Auto weggehen. Wo es irgendwie brenzelt, in schäbigen Quartieren, auf einsamen, unübersichtlichen Plätzen oder so, ziehe ich zwischen den inneren Türgriffen Spanngurten quer durch die Kabine. Die reißt einer nicht so leicht entzwei.«
»Da brauchst du den Baseballschläger gar nicht.«
»Schön wärs, zum Glück ist mir bis jetzt noch nie was passiert.«
Mir kommt es seltsam vor, einen Koloss von vierzig Tonnen Stahl mit einem Baseballschläger zu verteidigen. Markus ist um die Details bekümmert: »Musst ihn wieder passgenau in die Ecke legen, sonst verklemmt er die Kühlschranktür hinter dem Stehplatz.« Danach bilden wir ein Duett sanft schnarchender Baritone.
Hie und da klettert einer von uns über die Sitze, die Tritte runter und schifft ins Gras.