Читать книгу Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer - Markus Maeder - Страница 17
Dienstag San Bernardino
ОглавлениеWenn wir gestern Abend schon in Lugano stecken geblieben sind, soll es heute wenigstens bis zum Bodensee reichen. Über den San Bernardino hinüber nach Graubünden, und von dort dem Rhein entlang bis ans Ziel. Wir haben Walo versprochen, auf ihn zu warten, bis heute Morgen um acht. Wir könnten also ausnahmsweise ausschlafen – bis um sechs Uhr früh die fünf Sattelschlepper von Tatratrans aus Ungarn, die neben uns auf dem Gelände übernachtet haben, die Motoren aufbrummen lassen. Eine ganze Stunde lang. Besser als schlafen ist umladen. Einer unserer drei Tanks muss leer gepumpt und mit einer anderen Sorte Sonnenblumenöl wieder voll gepumpt werden. Los. Was zögern wir noch.
Danach gehen wir in die Tankstellenbar zu einem Cappuccino. Dass die Latzhosenmänner, ohne es zu merken, noch einmal in der gestrigen »Gazzetta dello Sport« blättern, behaupte ich nicht aus voller Überzeugung, aber es sieht ganz danach aus. Vielleicht sind es ja auch andere Latzhosenmänner.
Walo trudelt pünktlicher ein, als er es sich wohl selbst zugetraut hätte. Wie frisch geduscht. Der Star des Morgens. Aber Markus ist schon wieder einen Schritt weiter: »Ich setze jetzt auf meiner Scheibe eine Stunde Arbeitszeit ein.«
»Hm?«, fragt Walo und schaut weiterhin gleichgültig dem Girl an der Bar hinterher.
Markus sagt mit seinem klaren, ehrlichen Blick: »Ja, ich bin schließlich dran, einen Tank voll Sonnenblumenöl abzuladen und wieder Sonnenblumenöl aufzuladen.«
»Hm?«
»Ja. Einen Teil von dem, was ich über den San Bernardino schleppe, lade ich gerade hier und jetzt in Lugano.«
Walo fragt: »Schummelst du ein bisschen?«
»Aber nein«, sagt Markus. »Ich kann ja nichts dafür, dass ich umladen darf.«
Plötzlich erhellt sich Walos Gesicht: »Das S. Weil du umlädst, darfst du mit einem S über den San Bernardino.«
»So ist das.«
»Das möchte ich auch.« Er denkt einen Augenblick nach. »Kann ich nicht meinen Auftrag neu formulieren?«
»Kannst du schon«, sagt Markus. »Gilt aber als Urkundenfälschung.«
»Was solls. Ich machs.« Walo geht fast im Stechschritt zum Auto, stellt sich einen neuen Lieferschein aus und manipuliert seine Scheibe, um den Modus Arbeitszeit einzustellen. Dann hängt er wie Markus ein Täfelchen mit einem gelben S auf rotem Quadrat ans Heck.
Die strategische, ja fast philosophische Bedeutung von Walos Modifikation sollte mir erst am Fuß des Bernardino klar werden. Die Welt ist eine Scheibe. Diese bestimmt ein Truckerleben auf die Minute genau. Wehe dem, der sich nicht daran hält. So klein oder so groß wie eine CD, lässt die Tachograf-Scheibe keinen Raum für ein Alibi. Jeder Tag beginnt mit einer neuen, schneeweißen. Fahrzeit, Pausenzeit, Kilometerstand vorher und nachher, Geschwindigkeit, alles hinterlässt Spuren – und ist nicht mehr rauszuwaschen. Kein Einweichen, kein Weichspülen hilft. In der Schweiz genauso wenig wie in der EU. Neun Stunden sollst du fahren im Tag. Zwei Stunden darfst du anderweitig arbeiten, zum Beispiel warten. Von der elften bis zur vierundzwanzigsten ebenso. Und noch ein Gebot. Nach viereinhalb Stunden Fahren sollst du drei viertel Stunden pausieren. Du kannst sie auch auf fünfzehn und dreißig Minuten aufteilen. Zweimal pro Woche sind zehn Stunden Fahrzeit erlaubt. Über Nacht sind elf Stunden Ruhezeit Pflicht. Dreimal pro Woche reichen neun Stunden. Wer sich um diese und viele andere Vorschriften foutiert, wird nicht lange fahren. Die Bußen sind saftig, der Entzug des Führerscheins geht an die Substanz. Wehe dem, der glaubt, ohne Scheibe fahren zu können. Die Scheibe rausnehmen gilt in der EU als Urkundenfälschung. Doch wer niemals eine Fünf gerade sein lässt, bringt es als Fernfahrer kaum auf einen grünen Zweig.
Jetzt, am San Bernardino, hat Walo neue Wege und ein Mittel gefunden, den Paragrafenreitern ein Schnippchen zu schlagen. Es geht darum, den sogenannten S-Verkehr zu beanspruchen. Der S-Verkehr begünstigt die Fahrer im Schweizer Binnenverkehr. Wer wie Markus heute Morgen in der Schweiz geladen hat und auch wieder ablädt, bleibt nicht an den Ausstellplätzen vor den Pässen hängen. Indem Walo mithilfe der Scheibe glaubhaft macht, in Lugano geladen zu haben, braucht er am Fuß des Passes nicht zu warten, bis sie uns alle zwei Stunden einmal in einer langen Kolonne zur Anfahrt durch den San-Bernardino-Tunnel winken.
Damit alles mit scheinbar rechten Dingen zugeht, zaubert Walo einen Umlad in seine Papiere, und um diesen Umlad mit den Angaben auf der Scheibe in Einklang zu bringen, schaltet er seine Scheibe auf den Modus Arbeitszeit. »Kreative Gesetzesinterpretation«, sagt Markus, »das würde ich nicht riskieren.«
Ich sage: »Ihr werdet gepiesackt und wollt wenigstens euren Spaß daran haben.«
Aber Walo widerspricht grinsend: »Nein, nein, die Gesetze dienen allein unserem Wohl. Wir können ihnen nicht besser dienen, als wenn wir sie so interpretieren, dass sie diesen Zweck auch erfüllen.«
Im Bündelchen der Zeitungen, das wir uns für eine ruhige Minute aus der Bar mitgenommen haben, fällt mein Auge auf die Zeile: »Was für ein Land, das die Menschen dazu zwingt, sich mit illegalen Mitteln durch den Alltag zu schleppen.« Mein naheliegender Gedanke, die Geschichte drehe sich um Trucker in Deutschland und in der Schweiz, erweist sich auf den zweiten Blick als falsch. Es geht um Pedro Gutiérrez’ »Schmutzige Havanna Trilogie«, um diese literarische Dauererektion, die dem Helden Pedro Juan über vierhundert Seiten das Überleben in der täglichen kubanischen Katastrophe gestattet. Markus dreht das Radio an, und wir hören:
I’ve been all around this great big world To Paris and to Rome And I’ve never found a place that I Could really call my own But there’s a place where I know The sun is shining endlessly And it’s calling me across the sea So I must get back to San Bernardino
Well I’m older and I’m wiser And I’ve seen the light of day And I think it’s time to realize My dreams have gone astray But I tried so hard to reach that star That was so far away
Truckerfreuden, dass einem fast die Tränen kommen. Wieder mal führt der Zufall Regie. Auf unseren Hochsitzen schwelgen wir in der Stimme aus dem Radio, schauen durch den Mückenfriedhof auf der Frontscheibe hinab aufs automobilistische Niedrigwild um uns herum und fressen Asphalt, um bei Bellinzona in die sich verengende Ritze des Misox Richtung San Bernardino einzurollen.
So now I gotta find that road That’s leading home to San Bernardino
Ob ich das auf der Blues Harp hinkriegte? Ich lege mir die Töne zurecht für meine Hohner in G. Nicht dass ich sie nach den Regeln der Kunst so zu quälen verstehe, dass die Herzen der Hörer zu schluchzen beginnen. Eher quäle ich damit meine eigenen Ohren – und treibe es heimlich. Wildwestmelodien sind nicht allzu schwierig. Blood in the Saddle zum Beispiel. Oder Spiel mir das Lied vom Tod. Diesen ersten Heulton in den Keller ziehen und wieder aufjaulen zu lassen, hatte ich in meinen Rucksackreisejahren ein paar Hundert Telefonstangen weit geübt. Bis die Drähte zu weinen begannen. Zu schade, habe ich dieses kleine Ding jetzt nicht dabei. Home to San Bernardino. Gerade, als der Refrain zum letzten Mal kommt, ruft Walo an. Er hat kalte Füße bekommen: »Du, Markus, ich glaube, ich habe Scheiße gebaut. Mein Tank ist doch plombiert. Wenn ich da erwischt werde, wirds teuer.«
»Nein, nein, lieber Walo, hast Glück«, sagt Markus nach kurzer Überlegung und freut sich für ihn: »Es ist ja keine Zollplombe. Sie ist von der Firma. Es ist alles okay.«
Kurz darauf, am Ende der Talsohle, hält uns ein Security-Mann an: »Wo haben Sie geladen?«
Beide: »In Lugano.«
Er sagt okay und winkt uns durch. Hat der Mann nicht einen traurigen Job? Muss sich immer wieder nach Noten belügen lassen. Eine Reihe roter Plastikzylinder auf dem Asphalt weist uns nach links auf die Durchfahrstrecke. Auf der rechten Spur steht eine Kolonne von mindestens drei Dutzend Sattelschleppern. Darunter die fünf ungarischen von Tatratrans. Und tschüss. Home to San Bernardino.
Fünfundzwanzig Tonnen Sonnenblumenöl über die Alpen zu ziehen, ist auch für vierhundertsechzig Pferde Schwerarbeit. Ich stelle mir Rudolf Kollers Gotthardpost vor und wie breit seine Leinwand sein müsste, damit man vierhundertsechzig Pferde anschirren könnte. Lostallo, Cabbiolo, Soazza … In der ununterbrochenen Steigung kriechen und riechen wir an den Dörfern vorbei, während sich die Kühe an den Bäumen den Nacken kratzen. Ich bin schon öfter über den San Bernardino gefahren, aber noch nie mit so viel Zeit, um den Blick schweifen zu lassen. Von so hoch oben. Keine Leitplanke versperrt die Sicht in die Ferne, hinauf in die Firne. »Mit der Viper ist das anders«, sagt Markus. Sein geliebter Sportwagen. »Der Blick auf die Straße ist beschränkt, du spielst dauernd mit dem Gas und verdrehst dir Hals und Augen um den nächsten Fels.«
Das Schweizer Radio, das Markus den Hirtensender nennt, gratuliert Frau Bertha Abächerli, die eben im Alters- und Pflegeheim Sonnenruh in Amsoldingen ihren Fünfundneunzigsten feiern darf und heute Nachmittag ein Bsüechli ihrer vier Kinder, elf Enkel und sechsundzwanzig Urenkel erwartet. Nach einer Reihe Sechsundneunzig- bis Neunundneunzigjähriger folgen zwei diamantene Hochzeiten und eine eiserne. Dann erklingt Im schönsten Wiesengrunde, passend zum Blick hinunter auf die Moesa, die zu unserer Rechten durch den saftig-grünen Talboden Richtung Adria perlt. Weiter oben führt uns eine Barriere weg von der Autobahn auf die alte Passstraße. Auf der schmalen, gewundenen Strecke streifen uns die Lärchen und die Arven am Rand wie eine Liebkosung aus der Hand der Natur, eine Geste des Verzeihens für den Lärm und die Abgase, mit denen wir sie belästigen. In den Haarnadelkurven muss ich bei heruntergedrehtem Fenster schauen, ob kein Niedrigwild im toten Winkel rechts nach vorne huscht, aber meistens sehe ich nur den keuchenden Walo, an dem ebenfalls kaum einer vorbeikommt. Er hat einen etwas längeren Auflieger als wir; er schafft die engsten Radien nur, wenn er bis auf die Grasnarbe ausholt.
Die fünfundzwanzig Tonnen Sonnenblumenöl haben ihren Preis. Wir fahren im Gang vier/hoch, das heißt im neunten von sechzehn, nicht ganz mit Vollgas, um die vierhundertsechzig Pferde zu schonen. Durstig genug sind sie ohnehin. Die Anzeige gibt einen Durchschnittsverbrauch von 86,4 Liter Diesel auf hundert Kilometer an. Seit heute früh haben wir einundsiebzig Liter verbraten – und sind noch nicht ganz oben. Allmählich begreife ich, wie viel Walo die freie Gesetzesinterpretation und das S einbringen. Wer im Konvoi raufmuss, wie unsere fünf Ungarn, lernt leiden, besonders, wenn er etwa einen Holländer vor sich hat, der sich, ausreichend für sein plattes Land, mit dreihundertachtzig Pferden begnügt. Er bremst in jeder Kurve die Stärkeren aus, man muss schalten, wieder beschleunigen, und wenn es genügend steil ist, kommt man gar nicht mehr weg.
Markus hängt in Gedanken immer noch dem Tropfenzählsystem im Talboden nach: »Noch schlimmer ists in Biasca, Gotthard-Südrampe. Da stehen oft über hundert und warten drauf, sich um die rot-weißen Plastikzylinder eines Parkplatzes zu schlängeln, oft über Stunden. Alle paar Sekunden wirds für ein Fahrzeug grün. Nur für eins. Auch wenn die Strecke frei und kaum befahren ist. Reine Schikane. Das Gemeinste daran ist für uns, dass die Stunden auf den Abstellplätzen als Fahrzeit gelten, obwohl man nicht wirklich fährt. Kaum ist man dann wieder auf der Strecke, bremst einen die Scheibe mit ihren Ruhezeitpflichten aus.«
Aber jetzt, da der Weg weit und breit und frei von Holländern ist und sich in der Ferne gerade eine farbenfroh segmentierte Brummerschlange vom Tunnel her uns entgegenwindet, erfasst uns ein Glücksgefühl, das mich an meine ersten Autoerfahrungen in den Fünfzigerjahren erinnert, als wir unterwegs zur Gotthard-Passhöhe im VW-Käfer auf den Rücksitzen standen, den Kopf durchs Schiebedach streckten und die alpenfrische Zugluft genossen. Freedom now. Mein Vater zelebrierte seine Allmachtsgefühle mit einem fast kultischen Wechsel der Gänge an der Stockschaltung, rauf und runter. Er konnte es kaum fassen, dass wir diese oder jene Steigung mir nichts, dir nichts im dritten schafften und dass wir einfach so, luftgekühlt raufruckelten über das Kopfsteinpflaster, während stolze Simcas, Panhards, Borgwards und Chevrolets zischend und dampfend an einem Bach standen und Wasser über den Kühler geschüttet bekamen, um für die letzten Kehren zum Hospiz Atem zu holen. Und jetzt. Im neunten Gang bei nicht einmal Vollgas. Da mögen Neider noch so behaupten, ein Stern gehöre an den Himmel und nicht auf die Straße. Doch für uns: Ist es nicht eine Gnade, seinem Zeichen zu folgen?
Oben auf dem großen Parkplatz vor der Tunneleinfahrt vertreten wir uns die Füße zur Feier des Höhepunkts der Woche, tausendsechshundertacht Meter über Meer, dem Himmel um über tausend Meter näher als heute früh. Für diese Augenblicke lohnt es sich, Tage und Wochen zu fahren, schwärmt Markus und schaut in die Runde wie Hannibal, der eben seine Elefanten über die Alpen führt. »Brav, brav«, sagt er und klopft mit der flachen Hand auf die warme Kühlerhaube. Ein Pferd oder ein Elefant hätte jetzt ein Stück Zucker bekommen.
Kaum haben wir uns umgeschaut, springt auch Walo vom Bock, ganz aufgekratzt vom Erlebnis. »Das war was«, sprudelt es aus ihm heraus: »Schschsch… Schschsch.« Dazu schwingt er die Arme in weiträumigen Kurven: »Hast du gesehen, wie der Gummi fetzte, und hast du gerochen, wie er auf dem Asphalt verbrannte. Rauchwölklein und schwarze Spuren in jeder Kurve, wie am Grand Prix von Monaco.«
Markus meint, das habe mehr Reifen gekostet als Amsterdam retour. Ich hätte gern ein paar Fotos von den beiden Helden und ihren Gefährten gemacht, aber um sie als Pärchen vor dem Panorama des Piz Pian Grand oder des Piz Tambo in Szene zu setzen, hätten wir umparken müssen. Überdies pfeift ein bissiger Wind. Fast noch lieber hätte ich einen heißen Kaffee gehabt. Aber es ist wie auf einer Bergtour. Kaum hat man mit letzter Kraft die Spitze erreicht, zieht einen die Schwerkraft wieder nach unten, dem Rhein entlang bis zur Mündung in den seichten, schmutzigen niederländischen Niederungen. Das S brauchen die beiden jetzt nicht mehr und hängen es weg. Markus freut sich für Walo: »Vergiss bloß nicht, deinen Scheinlieferschein verschwinden zu lassen.«