Читать книгу Klima Killer - Markus Palic - Страница 15
AUSKUNDSCHAFTEN
ОглавлениеEr schlenderte scheinbar gedankenverloren vom Karlsruher Schlossplatz aus in westlicher Richtung. Die jungen Bäume, die den Fußweg beidseitig säumten, begannen damit, ihr buntes Herbstkleid überzuziehen und verloren die ersten Blätter. Die welkenden Blumen auf den verstreut platzierten Beeten im benachbarten Park verströmten einen dumpfen Blumenduft. Auf der angrenzenden Straße fuhren immer wieder Autos aus einer Unterführung unter dem Schlossplatz herauf und bogen in einer scharfen Kurve nach links ab.
Ein Achtzylinder, dessen Auspuffanlage manipuliert zu sein schien, näherte sich röhrend, als wolle er die Schallmauer durchbrechen. Reflexartig steckte er seine rechte Hand unter das Jackett und drehte sich blitzschnell zu der Krawallkiste um. Der schwarze Pick-up schoss an ihm vorbei und bog, wie die anderen vor ihm, nach links ab. Ein Karlsruher Kennzeichen. Ein Einheimischer. Also wohl keine Gefahr.
Antonio Rosso hatte seine Kindheit in Hückelhoven verbracht, einem Provinznest am linken Niederrhein. Sein Vater, ein gebürtiger Italiener aus Palermo, hatte Ende der 60er als Gastarbeiter bei der Zeche Sophia Jacoba als Bergmann angeheuert und es nach einigen Jahren zum Steiger gebracht.
Er würde in die Fußstapfen des Vaters treten, das war allen klar gewesen. Auch ihm. Unter Tage auf sich gestellt, verantwortungsvolle und harte Arbeit, bei guter Bezahlung. Und über Tage eine Familie mit einer geliebten Frau und Kindern, die zu ihm aufschauten. Jedenfalls hatte er das gedachte. Es kam anders.
Als Anfang der 90er Jahre der Beschluss zur Schließung der damals modernsten Steinkohlezeche Europas fiel, verließ Antonio kaum zwanzigjährig seine Eltern, die in Deutschland blieben. Er ließ sich in Süditalien, gegen ihren ausdrücklichen Willen, von der Organisation anwerben. Der Kontakt zu seinen Eltern brach ab. Er blieb unverheiratet und kinderlos. Als Spezialist für das Ausspähen und Auffinden von Personen war er in den letzten Jahren mehrfach in Deutschland unterwegs gewesen. Er sprach Deutsch mit einem leichten niederrheinischen Einschlag, als wäre es seine Muttersprache. Er nannte sich gern Ermittler. Allerdings auf der anderen Seite des Gesetzes.
Der Weg führte ihn weiter, vorbei an einem Gebäudekomplex mit auffallend großen Fenstern. Offenherzig zeigte sich das Areal im herbstlichbunten Schloga, wie viele Karlsruher ihren Schlossgarten liebevoll nannten. Den Ende der 60er Jahre errichteten Zweckbau auf der Schlosswiese, einen Steinwurf vom Schloss entfernt, schloss eine kniehoch an mächtigen Steinpollern befestigte Kette ab. Lediglich ein schmaler Durchlass war zu erkennen. Die großzügig befensterten Flachbauten mit einer amorphen Aluminiumfassade schienen ineinandergesteckt zu sein. Ein Polizei-Kombi parkte neben dem Eingang, und eine Frau in Uniform stand rauchend vor einem kleinen Pförtnerhäuschen mit einem Schlagbaum über der Zufahrt.
Zwischen der Einfahrt zu einer Tiefgarage und einem mehrgeschossigen, repräsentativen Bau führte ihn der Fußweg über einen Parkplatz weiter in Richtung Schlossgarten.
Mächtige Zweige einer uralten Hängebuche, die hinter einem Gitterzaun emporragte, bogen sich bedrohlich über den Weg und bildeten einen grünen Tunnel. Auf der anderen Seite des Durchlasses, im südwestlichen Bereich des Schlossgartens, kam eine Gruppe aus mehreren stattlichen historischen Gebäuden mit schräg verlaufenden Glaswänden und Glaskuppeln zum Vorschein. Hinter ihnen schimmerten exotische Pflanzen durch angelaufene Scheiben hindurch. Ungewöhnlich, dachte er. Die Baumgruppe umschloss ein mannshoher Gitterzaun. Und das Gerichtsgebäude? Das hatte weder einen Zaun noch sonst ein Hindernis, das überwunden werden musste. Konnte das wirklich das Verfassungsgericht sein? Transparent und jedwedem Angriff schutzlos ausgeliefert. Es wäre kinderleicht, einen Sprengsatz zu deponieren, der alles in Schutt und Asche legte. In Palermo, von wo aus sie ihn wegen seiner guten Deutschkenntnisse und natürlich, weil er ein kaltblütiger Profi war, zu dieser Aktion abkommandiert hatten, schützten die Paläste der Justizbehörden die höchsten und sichersten Zäune. Stacheldraht inklusive.
Hatte er sich verlaufen? Im Stadtplan, den er mitgenommen und kurz zuvor auf dem Schlossplatz wie ein Tourist mit freiem Blick auf die beeindruckende gelb-weiße Schlossfassade aufgefaltet und studiert hatte, sprang das mit einem gelben Marker hervorgehobene Gebäude förmlich aus dem Plan. Es musste das Gericht sein. Daran bestand kein Zweifel.
Dann fiel ihm auf, dass sich in wenigen Metern Abstand zur Rückfront über die Länge des gesamten Gebäudekomplexes ein befestigter Pfad durch den Bewuchs schlängelte, der einem Wildwechsel ähnelte. Daneben ein blaues Schild mit dem Piktogramm einer Überwachungskamera. Aha, da patrouillierten wahrscheinlich auch Sicherheitskräfte. Sicherheit also, auch ohne Zaun.
Der Auftrag lautete diesmal, das Gerichtsgebäude und seine Umgebung sorgfältig auszukundschaften. Dabei sollte er das Sicherheitssystem erkunden und notieren, welche Personen das Gebäude regelmäßig betraten oder verließen. Die Personen sollte er fotografieren. Anschließend musste er seinem Chef im nordrhein-westfälischen Basislager Bericht erstatten. Wer der Chef war, wusste er nicht. Und wo er genau saß, auch nicht. Das war branchenüblich. Damit schützte sich die Organisation. Wer nichts wusste, konnte selbst unter Folter nichts ausplaudern.
Für die Kommunikation nutzte er eine Mailadresse mit dem Namen »RuggeroX« und der nichtssagenden Endung gmx.de. Die fand er bei seiner Ankunft in Karlsruhe in einem Umschlag gemeinsam mit dem Stadtplan auf dem Tisch seines Zimmers im City-Hotel, in das er sich unter falschem Namen einquartiert hatte. Seine eigene, vermutlich gehackte Mailadresse hatte er vor Monaten von einem IT-Spezialisten der Organisation in seiner Heimatstadt zugesteckt bekommen. Im Internetcafé, unweit vom Hotel, hatte er sich den Auftrag heruntergeladen, durchgelesen, eingeprägt und gleich wieder gelöscht. So machte er es immer.
Nach wenigen Metern erreichte er einen Halbkreis aus weißen Bänken, die auf Natursteinpflaster um ein rundes Erdhäufchen herumstanden, in das sicher irgendwann noch ein Baum gepflanzt werden würde. Er setzte sich auf eine der Bänke und bestaunte die exotischen Bäume, unter denen er lediglich einen riesigen Mammutbaum bestimmen konnte. Im Vordergrund, vor einem begrünten Rondell, stand eine Linde, hinter der zwei Gärtner ein Rasenstück zu einem Beet umgruben. Weiter hinten ragte aus der Gebäudezeile ein von zwei Türmen flankierter riesiger Torbogen, der in den hinteren Teil des Schlossgartens führte.
Ein Stück weiter standen Tische und Stühle. Eine Außenbestuhlung? Ein Café? Bingo! Beim Näherkommen offenbarte sich tatsächlich ein Café, dessen Bestuhlung neben einem gigantischen Gefache aus Profileisen stand, das früher einmal ein Gewächshaus gewesen sein musste. Auf einem am Baustellenzaun angebrachten Banner stand: Botanischer Garten. Auf einem weiteren: Badische Weinstuben im Botanischen Garten, Café und Restaurant.
Eine junge Bedienung trällerte die Melodie eines aktuellen Songs, während sie die Tische abwusch und Speisekarten darauf kunstvoll drapierte. Keine Gäste. Also musste das Café gerade geöffnet worden sein.
»Einen Cappuccino bitte«, rief er ihr zu. Sie nickte und verschwand hinter der Eisenkonstruktion über eine stählerne Wendeltreppe in das Obergeschoss des langgezogenen Sandsteinbaus.
Von seinem Platz aus konnte er auf der gegenüberliegenden Seite die Rückfront des Gerichtsgebäudes durch den üppigen Bewuchs schemenhaft erkennen. Hinter den Fenstern saßen Menschen vor Bildschirmen. Sie lasen und schrieben. Die fröhliche Bedienung brachte den Cappuccino und stellte ihn vor Antonio auf den Tisch.
»Darf ich bitte gleich bezahlen?«, fragte er und lächelte ihr zu. »Irgendwann müssen Sie«, erwiderte sie und lächelte fröhlich zurück.
»Es macht zwei Euro achtzig.« Er streckte seine Hand vorsichtig in die rechte Innentasche seines Jacketts, ohne es sichtbar zu öffnen, und holte seine Geldbörse heraus. Er reichte ihr drei Euro.
»Stimmt so.« Daraufhin nahm sie das Geld, nickte lächelnd und ging zu den Tischen hinter ihm, um mit der Reinigungsprozedur fortzufahren.
Während er an seinem Cappuccino schlürfte, beobachtete er die Umgebung und überlegte. Von hier aus konnte er nichts ausspähen. Hier sah er hinter Bäumen, Büschen und Sträuchern, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gerichts ihrer Arbeit nachgingen. Er musste auf die andere Seite des Gebäudes und dort die Eingangsseite beobachten. Er trank aus, warf der Bedienung einen freundlichen Blick zu und lief in Richtung Schloss.
Doch noch ein Zaun. Kniehoch und wirkungslos trennte er den Spazierweg vom Areal des Gerichtsgebäudes. Den hätten sie auch weglassen können, dachte er und lief auf dem Spazierweg weiter, um an die Vorderseite zu gelangen. Hinter den steinernen Pollern, die er zuvor schon mit den dazwischen gespannten Eisenketten als unwirksamen Schutz erkannt hatte, lag eine Parkanlage mit weiteren exotischen Bäumen. Eine Gruppe Jugendlicher zwängte sich zwischen zwei Pollern, die auf dem Weg zum Eingang standen, hindurch. Ein Polizist stand regungslos daneben. Sie sahen aus wie eine Besuchergruppe. Offensichtlich konnte man als Besucher in das Innere des Gebäudes gelangen. Der Gedanke faszinierte ihn. Als die Gruppe durch den Eingang nach und nach das Gebäudeinnere erreichte, sah er hinter den großen Fensterscheiben einen Counter, an dem die Besucher anstanden und ihre Personalausweise vorzeigten. Danach ging es durch eine Sicherheitsschleuse weiter.
Das schied aus. Er konnte es nicht in Kauf nehmen, seinen gefälschten Ausweis zu zeigen. Noch schlimmer wäre die Sicherheitskontrolle. Wo in drei Teufels Namen sollte er seine Waffe verstecken?
Im Park entdeckte er mehrere Sitzgelegenheiten. Die Sitze aus Eisengerüsten, hölzernen Sitzflächen und Rückenlehnen standen unverrückbar auf Betonfundamenten. Er setzte sich auf einen der Sitze mit Blick auf die Frontfassade des Gerichts. Auch hier verhinderte der dichte Bewuchs einen freien Blick auf das Gebäude. Doch von der Stelle aus, an der er saß, konnte er den Eingang durch eine Lücke im Dickicht gut erkennen.
Wenige Meter entfernt stand mitten im Park ein großer runder Springbrunnen, an dem Kinder mit Förmchen und Eimerchen spielten. Sie balancierten auf der kniehohen Balustrade und sprangen abwechselnd in das seichte Becken und auf das Parkgelände. Immer wieder schrien Mütter und Väter laut auf, um die Kinder vor der einen oder anderen Gefahr zu warnen. Die Kinder scherten sich aber wenig um Warnungen. Das bunte Treiben ging ohne Unterbrechung weiter.
Er nahm die Kamera aus der etwas ausgebeulten Außentasche seines Jacketts und schaltete sie ein. Die NIKON Coolpix P1000 verfügte über einen unglaublichen Super-Zoom, so dass er aus großer Entfernung konturenscharfe Details einfangen konnte. Er richtete sie mit der größten Zoomeinstellung und höchsten Auflösung auf den Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes und sah neugierig auf den kleinen Bildschirm. Immer wieder hielten dunkle Limousinen vor dem Eingang, aus denen gut gekleidete Damen und Herren ausstiegen und im Gerichtsgebäude verschwanden. Ebenso oft verließen andere das Gebäude. Nach einiger Zeit kamen auch die jugendlichen Besucher wieder aus dem Gebäude. Dummerweise konnte er nur diejenigen fotografieren, die aus dem Gebäude herauskamen. Die Hineingehenden sah er nur von hinten. Na ja, dachte er, alle, die hineingehen, müssen ja irgendwann auch wieder herauskommen. So saß er einige Zeit, peilte angestrengt den Eingangsbereich an und fotografierte, was ihm vor die Linse kam.
»Was tun Sie da?«, fragte jemand mit einer sonoren Stimme hinter ihm. Als er sich umdrehte, standen zwei Polizisten weniger als zwei Meter von ihm entfernt und musterten ihn mit angespannter Miene. Er stand langsam auf und drehte sich zu ihnen. Bei einem der beiden pendelte eine Maschinenpistole quer vor seiner Brust. Er hielt sie mit beiden Händen fest, mit dem Finger neben dem Abzug.