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Schwarzdurstig

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Schwarz ist Schwarz. Aber anders. Schwarz ist Routine. Immer gleich. Aber anders. Schwarz ist Gewohnheit, Gelerntes, erwartetes Verhalten. Aber anders. Schwarz ist anders, weil jedes Schwarz immer von Neuem neu ist. Weil es immer neu produziert wird, immer im Fluss ist, immer in Bewegung, immer anders. Schwarz ist eine individuelle Illusion, auf immer neue Situationen übertragen. Vor dem inneren Auge wirkt es gleich, ist aber anders. Das andere Schwarz ist auch schwarz.

Er läuft. Er liebt es im Dunkeln zu Laufen. Am liebsten dort, wo keine Lichter die Dunkelheit stören. Er läuft für die Ruhe, die Entspannung, die Gedankenleere. Er läuft immer an der Isar, viel und gerne. Das Anziehen der Laufsachen und das Zuschnüren der Laufschuhe, sobald er von der Arbeit nach Hause kommt, sind wie ein innerlicher Lichtschalter. Einmal umgelegt, nachdem die innerliche, psychische Schwelle überwunden ist, weist das schwarze Licht einen Weg zur Energie. Die braucht er. Unbedingt. Um den nächsten Tag angehen zu können. Unabhängig vom Wetter, einmal auf der Strecke, an der Isar, zählt nur das Laufen. Der Isar folgend. Im Einklang mit der jeweiligen Präsenz der Isar, beeinflusst von Wetter, Jahres- und Tageszeit.

Er spürt die positive Wärme, die vom Schwarz der Dunkelheit ausgeht. Es strahlt die tagsüber gespeicherte Hitze ab, kontrolliert, beständig, berechenbar, angenehm. Während das Licht eine eher harte, blendende, störende Reflektion für ihn ist. Er liebt es, wenn die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und Landschaft, Hindernisse, Menschen sich immer klarer vor dem Schwarz der Nacht abzeichnen, während er selbst im Schatten der Dunkelheit läuft. Niemals würde er eine Stirnlampe oder Reflektoren benutzen, die dieses Gefühl zunichtemachen. Er liebt die Geräusche der Nacht, die in der Dunkelheit verborgen viel deutlicher zu hören sind als am Tag. Er hat versucht beim Laufen Musik zu hören, die Leichtigkeit und Beschwingtheit der Musik als Basis zu nutzen. Aber dann vermisst er das Gefühl für die Umgebung, die Geräusche intensiv wahrnehmen zu können. Daher verzichtet er auf Musik. Er will sich ganz auf das Laufen und die Natur konzentrieren. Er will nicht abgelenkt, gestört werden. Er will eine Auszeit haben von Verpflichtungen, Erreichbarkeit und Konsum. Daher lässt er auch sein Smartphone zu Hause, wenn er läuft.

So läuft er Schritt für Schritt in eine andere Welt, die im Schatten liegt, die dunkel ist, die schwarz ist, die schön ist, die sich gut anfühlt. So befreit er sich von der Last des Tages. Durch das Rauschen der Isar, den erdigen Geruch nach starken Regenfällen, das weiße Glitzern des Schnees im Dunklen, die Sterne am schwarzen Horizont, das Knarzen der alten Bäume, das Knirschen des Sandes unter den Schuhsohlen, das angestrengte Fokussieren auf den Weg, Unebenheiten und Hindernisse. So findet er Ruhe. Durch das dem Lauftempo angepasste Atmen, durch den mit der Anstrengung variierendem Herzschlag, durch den rinnenden Schweiß, durch die stechende Kälte der eisigen Luft des Winters in der Lunge und auf der Haut. Durch den feuchten Film auf der Haut in der abendlichen Schwüle des Sommers. So entdeckt er neue Pfade im Dickicht der möglichen Handlungsalternativen. Durch das ungerichtete Schweifen der Gedanken, durch das ziellose Fantasieren, durch das Fokussieren auf das Physische. Durch das Zulassen von Unerwartetem. Durch das reizreduzierte Schwarz. Das kontrastbetonende Schwarz, das die Farben bunter macht und das Grau verschluckt. So findet er Zeit für sich in einer überfüllten Stadt.

Im Dunklen sind die Wege, wie auch früh morgens, leerer als tagsüber. Weniger Spaziergänger, weniger Kinderwägen, weniger Fahrräder, weniger Läufer. Weniger von allem. Weniger Ablenkung, weniger Stress, weniger auf andere achten müssen, weniger Ausweichen, weniger vom eigenen Weg abweichen müssen. Weniger soziale Interaktion. Dankbare Isolation durch das Schwarz. Meistens zumindest. Er trägt Schwarz. Um mit der Umgebung zu verschmelzen, um soweit wie möglich zu verschwinden, um sich nicht abzuheben, um aus dem Schwarz heraus zu beobachten. Um, einem Schatten gleich, über die Strecke zu schweben, kaum wahrnehmbar, fast als wäre er nie dagewesen. Eine Illusion nur. Quasi entmaterialisiert.

Er läuft gerne spät abends, wenn die Stadt zur Ruhe gekommen ist. Wenn andere schon schlafen oder noch feiern. Wenn wenig Autoscheinwerfer, Fahrrad- oder Stirnlampen das Schwarz der Nacht zerstören, blendend zur schmerzenden Qual werden. Die Fokussierung und innere Ruhe in einen Kampf gegen das grelle Licht verwandeln. Er genießt den Freiraum, den das Schwarz schafft, den das Schwarz ihm bietet. Darum läuft er. Abends. Nachts. Im Dunklen. Im Paradies. Das würde er hartnäckig verteidigen. Gegen andere, gegen Erschließung, gegen Naherholungsaktivitäten, gegen Verkehr, gegen Licht. Vor allem gegen Licht.

Die ziellose Freiheit des Laufens erfüllt ihn. Laufen, ohne Zweck, ohne tieferen Sinn, ohne Planung, ohne Festlegung, ohne definiertes Ende, ohne Pflicht. Nur sich selbst überlassen, mit voller Entscheidungsmacht, Entscheidungskontrolle. Ganz allein verantwortlich nur sich selbst gegenüber. Herr seiner selbst. Herrscher über das Schwarz. Pacemaker seines Lebens. Er läuft für sich selbst, er misst sich nicht mit anderen, an Zeiten, an Erwartungen, an Ergebnissen. Das Schwarz ermöglicht es ihm sich abzugrenzen, sich als nur für sich selbst verantwortliches Individuum zu begreifen, andere zu ignorieren, seine eigene Geschwindigkeit zu finden. Es ist sein Lauf. Schritt für Schritt läuft er im schwarzen Dunkel der Befriedigung entgegen. Meter für Meter, Kilometer für Kilometer. Je mehr er läuft, desto weiter will er laufen, desto weiter kann er laufen, desto weiter muss er laufen. Damit das glückselige Schwarz durch seine Adern läuft, pochend, fordernd, befriedigend. Bis zur friedlichen Erschöpfung. Er kontrolliert die Geschwindigkeit, die Atemfrequenz, die Strecke, die Häufigkeit des Trainings. Das Laufen tut ihm gut, nicht zu laufen ist ein Problem. Dann vermisst er das Schwarz, die rauschenden Endorphine. Er sehnt sich nach dem nächsten Lauf, ist neidisch, wenn er andere laufen sieht, ist ungeduldig, wenn er auf den nächsten Lauf warten muss. Dann fängt sein Hirn an im Kopf zu laufen, die bekannten Strecken abzuspulen, das Glücksgefühl zu rekonstruieren. Bis zum nächsten Lauf. Dem nächsten realen Lauf. Er läuft um sein Leben, um sein Glück. Er läuft, um zu vergessen, um loszulassen, um sich zu entpflichten. Weg von Verantwortung, Pflichten, einengenden Erwartungen. Das Schwarz schützt ihn, Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer, Lauf für Lauf. Vor dem Leben, vor der Gesellschaft, vor dem inneren Schwarz.

Er liebt die Routine, die ständig wiederkehrenden Dinge des Alltags, die ritualisierten Abläufe. Normalerweise. Heute fühlt er sich gut, ist in der Stimmung Neues auszuprobieren. Weicht von seinen gewohnten Laufstrecken an der Isar ab. Wählt kleine Nebenwege, Trampelpfade durchs Unterholz. Eine Strecke entlang des Isarkanals. Er hat keinen festen Plan, wie er laufen will. Er entscheidet spontan. Schaut wohin ihn eine Abzweigung bringt, nur um dann die nächste unbekannte zu nehmen. Dauer und Länge spielen keine Rolle. Es geht um das Entdecken, das Neue, das Unbekannte. Er läuft ohne Ziel, folgt nur seinem Gefühl. Läuft über Baumwurzeln, auf unebenen Pfaden, über Geröll und Steinbrocken, um umgestürzte Bäume herum. Oder springt über Baumstämme drüber, duckt sich unter ihnen hindurch. Läuft zwischen hoch aufgewachsenem Gras hindurch, an ihn streifenden Büschen, Ästen, Pflanzen vorbei. Ohne Scheu, ohne nachzudenken. Auf der Suche nach interessanten Ausblicken, nach sehenswerten Objekten. Nimmt die blühenden Bäume und Blumen wahr. Spürt den würzigen Geruch der Maiglöckchen in der Nase.

Er läuft jetzt wieder an der Seite der Isar. Er schaut von rechts nach links, geradeaus, zur Seite. Lässt den Blick schweifen, läuft langsam und aufmerksam. Auf den kleinen, abseits gelegenen Wegen ist wenig los. Er begegnet nur wenigen Personen und anderen Läufern. Er bleibt immer in Bewegung, hält nicht an. Ist aber offen für alle Eindrücke, die sich ihm bieten. Die Isar an seiner Seite verändert Meter um Meter ihr Erscheinungsbild. Mal Türkisgrün, mal Smaragdgrün. Mal mit breiten Kiesstränden, mal fast uferlos, mal mit vom Wasser umspülten Kiesbänken. Mal leise gluckernd, mal monoton rauschend, mal donnernd tosend. Mal mit dichtem Uferbewuchs, mal weit geöffnet mit Auenwiesen. Mal eingezwängt zwischen hohen Ufermauern, mal frei fließend. Die kleinen Wege sind teilweise feucht, matschig, Pfützen stehen quer über den gesamten Weg. Selten sind alte Bretter oder Äste so auf dem Weg platziert, dass man trockenen Fußes an diesen Stellen vorbei kommt. Manchmal führt der einzige Weg Wasser und Schlamm spritzend nur geradeaus durch die Pfützen hindurch. Der Boden ist weich und leicht federnd, nachgiebig, dämpfend.

Obwohl hier kaum andere Personen unterwegs sind, ist Vorsicht geboten. Wie aus dem Nichts rauschen von hinten oder vorne Mountainbikes heran, hautnah an ihm vorbei und sind schon wieder verschwunden, bevor er es richtig realisiert hat. Gnadenlos rauschen sie mit maximaler Geschwindigkeit über die kleinen Wege durch das Unterholz, den Wald. Trotzdem sucht er weiterhin seine Laufstrecke im Netz der kleinen Pfade. Vorbei an verrottetem Totholz, zerbröselnd, von Insekten zersetzt, mit einer leuchtend grünen Moosschicht bewachsen, fast schon in den erdigen Waldboden integriert. Vorbei an ausgehöhlten, wie Turmruinen aufragenden Baumstämmen, an den hellgelb leuchtenden Schnittflächen frisch gefällter Bäume, die wie hingeworfen gleich daneben im Unterholz auf ihre Zersetzung warten. Vorbei an schon mit Moos bewachsenen Stapeln feinsäuberlich aufgeschichteter, auf gleiche Länge geschnittener Stämme. Vorbereitet für den Abtransport und längst vergessen. Nebendran immer die vor sich hinfließende Isar und die breiten, viel frequentierten Wege. Das Gefühl fast unberührter Natur direkt neben der Infrastruktur der Isarbewohner. Eine verführende Illusion, die sich selbst entlarvt, sobald die Füße den breiteren Weg betreten.

SCHWARZ

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