Читать книгу Gute und Böse Nachtgeschichten - Markus Walther - Страница 22
ОглавлениеDer letzte Tag
Sie fürchtete sich nicht. Mit 87 Jahren hat man so manche Sorgen und Ängste hinter sich gebracht. Der Schwarze Mann konnte sie nicht mehr schrecken. Er hatte schon immer zu ihrem Leben gehört und selbst die Trauer, die sie bei jedem ihrer verblichenen Freunde und Verwandten empfunden hatte, bekam einen festen Platz in ihrer Seele. Sie waren Teil ihres Ichs. Das Schicksal hatte sie mit Glück und Unglück beschenkt. Daraus hatte sich ihr Charakter geformt.
Sie hatte sich auf der Bank vor ihrem Haus niedergelassen. Die milde Herbstsonne wärmte sie. Das Vogelgezwitscher nahm sie nicht mehr wahr. Ihre Ohren hatten über die Jahre nachgelassen. Dennoch konnte sie sich vorstellen, wie sich die Amseln unterhielten. Die Erinnerung daran genügte ihr.
Als ihr Mann, damals nach dem großen Krieg, dieses Haus hier am Fuße des Berges gebaut hatte, verbrachten sie ihre Abende immer hier draußen. Zumindest wenn es nicht zu kalt war. Manchmal war ihr, als würde er noch neben ihr sitzen. Sie spürte seine Nähe und unterhielt sich mit ihm. Dabei wusste sie, dass auch er schon seit Langem gegangen war.
Unbewusst rieb sie sich das Handgelenk. Das Wetter würde umschlagen. Sobald ihre Sehnen schmerzten, kam der Regen auf der anderen Seite des Berges die Hänge hinaufgeklettert, doch bisher war über dem Wald noch keine Wolke zu sehen.
Sie sah, wie eine Gestalt auf dem Weg auf sie zu schlenderte. Sie erkannte sie zunächst nicht. Die schwarze Kutte verwehrte den Blick auf ihr Gesicht.
Sie blieb sitzen. Es wäre falsch ihr entgegenzugehen. Sollte der Gute den Weg zu ihr finden. Eile hatte sie nicht. Er auch nicht. Langsam kam er näher, wobei er sich auf diesen langen Stab stützte. Hin und wieder blitzte Metall an dem oberen Ende des Holzes auf. Endlich hatte er sie erreicht. Ruhig musterte sie ihn, seinen Gürtel mit den Sanduhren, die staubige Kutte und die Sense. Zuletzt blickte sie in sein knochiges Gesicht, das zu lächeln schien. Wortlos drehte er sich um und ging fort.
Sie ging mit ihm und ließ sich zurück.