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Drachenblut

In unserer heutigen Zeit ist nicht viel Platz für Magie. Weder für schwarze noch für weiße. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Zwischen all den zivilisierten Wissenschaften sind genug Lücken des Unerklärlichen geblieben. Diese Lücken erkennen wir nur selten. Und wenn wir sie erkennen, sind wir verzweifelt bemüht, sie rational zu erklären.

Ein winziges Wesen, man erkennt an den Proportionen, dass es noch ein Jungtier ist, ist Sabine da vor wenigen Tagen zugeflogen. Auf den ersten Blick sieht es einer Echse ziemlich ähnlich. Jedoch hat es auf seinem Rücken die ledernen Flügel einer Fledermaus. Ausgebreitet haben sie eine Spannbreite von fast fünfzig Zentimetern. Obwohl das Wesen auch nur knapp auf diese Länge kommt, sieht es doch nicht unbeholfen oder gar tollpatschig aus. Im Gegenteil: Es strahlt auf unbestimmte Weise Würde und Anmut aus. Die schuppenbewehrte Haut ist auf den ersten Blick schwarz. Doch wenn man sie genauer betrachtet, scheinen sich sämtliche möglichen und unmöglichen Farben des Lichts auf ihrer Oberfläche zu reflektieren.

Es läuft aufrecht auf zwei Klauen, aus denen je drei Krallen wachsen. Die beiden vorderen Gliedmaßen sind wie bei einem Tyrannosaurus verkümmert. Dennoch ist es mit ihnen so geschickt, dass es damit fest zugreifen kann. Das Auffälligste an diesem Wesen sind wahrscheinlich die Augen – wachsame, geschlitzte Pupillen, die rotglühend jede Bewegung wahrnehmen. Im Dunkeln leuchten sie unheimlich. Ohne Zweifel ist es ein Wesen der Magie.

Sabine hat dies nicht erkannt. Sie hegt und pflegt es wie einen ihr zugelaufenen Hund. Des Abends nimmt sie es sogar mit in ihr Bett und es schmiegt sich in ihre Armbeuge wie ein Kuscheltier. Nur mit dem Füttern klappt es nicht so gut: Tierfutter und Delikatessen aus Mutters Küche verschmäht es. Es drängt sich der Verdacht auf, dass das Tier vollkommen ohne Nahrung auskommt. Doch bald ahnt Sabine, dass die unscheinbare Bisswunde an ihrem Handgelenk, die einfach nicht verheilen will, etwas mit ihrem geheimnisvollen Gast zu tun hat. Da sie keinen Schmerz verspürt und dadurch sogar ein seltsames Gefühl der Verbundenheit mit dem Wesen empfindet, toleriert sie die Tatsache, dass das Tier des Nachts offenbar ihr Blut trinkt.

Ihre Eltern wissen von alldem nichts. Aus Angst, das ungewöhnliche Haustier würde ihr abgenommen, verschweigt Sabine alles. Ihrem Vater ist zwar aufgefallen, dass sie in letzter Zeit dunkle Ringe unter den Augen hat und dass sie sich ihrem Umfeld mehr und mehr verschließt, aber er erklärt sich all das mit einem pubertären Hormonschub.

Eines Tages lernt Sabine Frank kennen. Er ist ihre erste große Liebe und so kommt es, dass sie sich immer öfter treffen. Mal hier, mal da, aber nur selten bei ihr Zuhause, denn Frank wird, sobald er ihr Zimmer betritt, von dem Wesen attackiert. Es faucht ihn an und schnappt nach ihm. Das tut es nur bei Frank. Bei allen anderen Personen, die das Zimmer betreten, versteckt es sich hinter dem Kleiderschrank. Es kostet Sabine viel Mühe, das Wesen bei den Angriffen auf Frank einzufangen. Hat sie es erstmal, öffnet sie das Fenster und sperrt es auf den Balkon ihres Zimmers aus.

Zu Sabines siebzehntem Geburtstag schenkt Frank ihr hübsche Ohrringe und ein Kondom. Kurzerhand verfrachten sie das Wesen wieder auf den Balkon und beginnen ein zärtliches Spiel. Auf dem Balkon erklingt ein wehleidiges Krächzen, während Frank ihr die Bluse aufknöpft. Es scharrt mit den Krallen an der Scheibe, als er ihr die Jeans auszieht. Hilfe suchend blickt es in den Himmel und Tränen trüben das blutrote Leuchten der Augen. Die beiden verlieren sich in einem innigen Kuss.

Die Schwingen weit ausgebreitet, springt das Wesen vom Geländer in die Tiefe der Straßenschlucht. Ein kräftiger Flügelschlag und der Wind trägt es in einer eleganten Schleife wieder in Richtung des Balkons. Ungebremst fliegt es gegen die Scheibe, die in einem lauten Knall zerbricht. Glassplitter erfüllen explosionsartig die Luft, doch das Wesen landet zielsicher in Franks Nacken und schlägt mit aller Kraft seine Zähne in seine rechte Schulter.

Der Angriff endet genauso unvermittelt, wie er begonnen hat. Ein gequälter Blick auf Sabine, die unter Frank liegt, und das Wesen erkennt, dass es zu spät gekommen ist. Es lässt von ihm ab und flüchtet nach draußen in den kühlen Nachtwind.

Es muss sich eine neue Jungfrau suchen.

Gute und Böse Nachtgeschichten

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