Читать книгу Gute und Böse Nachtgeschichten - Markus Walther - Страница 24
ОглавлениеDie Besseren sterben jung
Im Treppenhaus lärmten Kinder. Ingo stieß den Stuhl zurück und stürmte zur Wohnungstür. Die Zornesröte brannte heiß in seinem Gesicht als er die Tür aufriss. „Ruhe! Verdammt noch mal. Ich arbeite.“
Hatte denn niemand Verständnis dafür, dass ein Künstler sich konzentrieren musste? Seine Muse flüsterte. Damit Herz und Hirn genau zuhören konnten, brauchte er absolute Stille.
Etwas plätscherte im Bad. Bestimmt war der Wasserkasten der Toilette undicht. Arbeit für den Hausmeister. Ingo würde ihn später anrufen. Jetzt wollte er sich mit diesem Idioten nicht befassen. Die Inspiration quälte ihn und duldete keinen Aufschub.
Die Staffelei stand inmitten des Raumes, der früher mal ein Wohnzimmer gewesen war. Inzwischen nannte er es sein Atelier. Hier roch es nach Terpentin und Schweiß. Eine Leinwand reflektierte das Licht einer nackten Glühbirne. Das unschuldig weiße Tuch klagte ihn an, dass er noch immer nicht damit begonnen hatte, es mit Farbe zu füllen.
Es würde sein Durchbruch werden. Der Grundstock für seinen Erfolg. Ohne Frage lagen ihm die Galerien bald zu Füßen. Nie wieder unbedeutend! Etabliert und wichtig.
„Guten Abend.“
Ingo fuhr herum. In der Tür stand ein Mann. Gekleidet in einen schwarzen Umhang, den Kopf von einer Kapuze verborgen, stand er da und schien auf eine Erwiderung zu warten.
„Tod?“, entfuhr es Ingo.
„… und wieder hat mich die Sense verraten“, stellte die Gestalt fest. „Die Tür stand noch offen. Darf ich reinkommen?“ Die Frage war rhetorisch. Es war offensichtlich, dass er nicht um Einlass bitten musste.
„Was …“ Ingo schluckte. „Was führt dich zu mir?“
„Du ahnst es: die Arbeit.“
„Warum …“
„In einigen Fällen komme ich persönlich … Wenn’s mir wichtig ist.“
„Das ist zu früh“, protestierte Ingo. „Mein Werk ist noch nicht vollendet!“
Der Tod schritt auf ihn zu. Eiseskälte strahlte von ihm aus. „Zum Sterben ist es nie zu früh oder zu spät. Pünktlichkeit ist meine Profession. Mit dem Leben sieht es da ganz anders aus.“
Was meinte er damit? Ingo wollte leben. Richtig leben. Deshalb hatte er Kunst studiert und in den darauffolgenden Jahren unzählige Leinwände für Fehlversuche missbraucht. All seine Zeit und all sein Geld hatte er in dieses Atelier gesteckt. Seine Familie ignorierte ihn und seine Freunde blieben auf der Strecke. Selbst die Nachbarn mieden ihn. Das war er bereit zu opfern für die Anerkennung als erfolgreicher Maler. Jetzt, vor dem Wendepunkt seines Schaffens, sollte ihm alles genommen werden?
Ein Gedanke durchfuhr ihn: Natürlich! Wahre Künstler starben früh. Die Besten sterben jung. Es musste Bestimmung sein.
Sein Blick fiel auf die zahlreichen Fehlversuche, die an den Wänden lehnten. Abstrakte Motive, die in seinen Augen das Wort Kunst noch nicht verdienten. Bei jedem Einzelnen hatte er gedacht, dass es das eine, das große Werk sein würde. Konnte es wirklich sein, dass man nach seinem Ableben diese Gemälde in den Ausstellungen der Welt zeigte?
„Habe ich mein Ziel schon erreicht?“
Der Tod betrachtete die leere Leinwand wie ein Kritiker. „Wohin möchtest du denn?“
„In die internationalen Galerien“, frohlockte Ingo. „Ich möchte auf diese Weise die Unsterblichkeit erringen. So lebe ich in meinen Bildern fort.“
Schweigen.
„Mein Name soll mit van Gogh, Warhol und Picasso in einem Atemzug genannt werden.“
Wieder nur Schweigen.
Dann wandte sich der Tod dem Badezimmer zu. Für den Hauch eines Augenblicks dachte Ingo, dass sein ungewöhnlicher Gast pinkeln wollte. Der Klodeckel wurde aufgeklappt.
Im Abfluss zappelte eine Ratte. Sie musste den weiten Weg vom Kanal her die Abflussrohre hochgeklettert sein. Den letzten Teil ihres Weges hinauf hatte sie auf dem glatten Porzellan der Kloschüssel nicht geschafft. Immer wieder rutschte sie in das Wasser zurück. Ihre Agonie fand nun ein Ende.
Der Tod griff nach dem seidenen Lebensfaden und durchtrennte ihn mit einem Schnitt seiner Sense. Das Tier ertrank.
„Ich dachte, du wolltest mich …“
Tod drehte sich um, schlug seine Kapuze zurück und lächelte Ingo an.
„Du solltest deine Ziele lieber nochmal überdenken. Zwar hole ich auch die wirklich großen Künstler, aber … Ich denke, dass du dich in dieser Beziehung etwas zu wichtig nimmst.“