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VIII. Die Verbindung der beiden Kausalitäten über den Zweckbegriff: Ästhetik und Teleologie in Kants Kritik der Urteilskraft
ОглавлениеWenn sich zwischen dem Gebiet der Natur und dem der Freiheit tatsächlich eine „Kluft“ auftäte, wäre „von dem ersteren [dem Gebiet der Natur] zum anderen [dem Gebiet der Freiheit] […] kein Übergang möglich […], gleich als ob es soviel verschiedene Welten wären […]“.75 Dieses Problem ist für Kants Philosophie insofern brisant, als es die Realität des gesamten Gebiets der Freiheit und seiner Ansprüche gefährden könnte. Denn der kategorische Imperativ und die besonderen moralischen Gesetze sollen in der Welt verwirklicht werden, doch dieser Forderung könnte gar nicht entsprochen werden, wenn die Kausalität aus Freiheit in der Erfahrungswelt keine Wirkungen zeigte. Es gilt daher nachzuweisen, dass die begrifflich notwendige Differenzierung der beiden Gesetzgebungen nicht zu einem problematischen Dualismus zweier getrennter Welten führt. Aus diesem Grund belässt es Kant nicht bei einer Diagnose der „Kluft“, sondern versucht zu begründen, dass die Kausalität aus Freiheit auf die Kausalität der Natur sehr wohl Einfluss nehmen und deshalb moralisch geforderte Zwecke auch in der Welt verwirklicht werden können. Im Rahmen dieser Begründung etabliert Kant in der Kritik der Urteilskraft ein weiteres Erklärungsprinzip, das Prinzip der Zweckmäßigkeit (bzw. der Finalität). Dieses ist aber kein konstitutives Prinzip, das objektive Erfahrungen verschafft oder verbindliche praktische Willensbestimmung fordert, sondern es hat nur den Charakter eines Leitfadens für die Reflexion und ist nur subjektiv gültig. Auf dieses Prinzip zurückzugreifen, ist Kants Ansicht nach nicht nur aus der Perspektive der praktischen Vernunft, d.h. in der erwähnten praktischen Absicht, sondern auch aus theoretischer Perspektive notwendig. Denn die Erklärungsmöglichkeiten auf der Grundlage „der beiden Kausalitäten, die wir kennen“, also der Naturkausalität und der Kausalität aus Freiheit, alleine reichen nicht aus, um dem von der Vernunft geforderten Forschungsideal eines vollständigen gesetzlichen Zusammenhangs der Natur und aller unserer intellektuellen Handlungen und Erkenntnisse zu entsprechen.
Im Falle einiger besonderer Formen der Naturprodukte sind nämlich die allgemeinen Begriffe des Verstandes, die Kategorien, wie auch unsere empirischen Begriffe nicht hinreichend, um die jeweiligen Formen und ihre Existenz zu erklären. Unter dem Ideal einer vollständigen Erkenntnis erscheinen diese besonderen Formen der Natur in ihrer Besonderheit vielmehr als durch unsere theoretischen Begriffe (Kategorien und empirische Begriffe) unterbestimmt und müssen in diesem Sinne als „zufällig“ gelten. Zufällig ist dementsprechend nicht das, dessen Ursachen lediglich noch nicht erkannt sind, sondern dasjenige, dessen besondere Form und besondere Existenz auf der Grundlage der Naturkausalität nicht ausreichend bestimmt und erklärt werden kann. Zur weiteren Bestimmung dieses Zufälligen eröffnet das Prinzip der Zweckmäßigkeit immerhin Orientierungspunkte, um über diese besonderen Formen von Naturgegenständen und für bestimmte Phänomene, die mit ihnen verbunden sind, reflektieren und sie auch erklären zu können.
Es sind Beurteilungsmöglichkeiten, genauer: die ästhetische und die teleologische Beurteilung, in denen Kant solche Möglichkeiten erkennt, um auf die Besonderheiten konkreter Einzelgegenstände zu reflektieren und so zu weiteren Bestimmungen zu gelangen. Beide Urteilsarten können mit Bezug auf den Begriff der „Zweckmäßigkeit“ gerechtfertigt werden, sodass die besonderen Urteile immerhin nicht völlig beliebig sind und sich über sie mit Bezug auf bestimmte Bedingungen doch argumentieren und streiten lässt. Die Urteile, auf die diese Möglichkeit zutrifft, sind die Geschmacksurteile über das Schöne und Erhabene und die teleologischen Urteile über spezielle Gegenstände der Natur, die Organismen. Gerade weil die Gegenstände dieser Urteile zufällige, empirisch vorliegende Naturgegenstände sind, sie aber gleichwohl Formen zeigen, die sich für unsere Reflexion in den beiden Hinsichten (ästhetisch bzw. teleologisch) als zweckmäßig und angemessen erweisen, so bestärken sie uns in der Hoffnung, dass die Natur auch insgesamt für uns zweckmäßig eingerichtet ist.
Zur Schließung der erwähnten systematischen „Kluft“ hält Kant aber vorrangig die ästhetischen Urteile für geeignet, weil in ihnen das Zweckmäßigkeitsprinzip „heautonom“, sich selbst das Gesetz gebend, verwendet wird und sich die Zweckmäßigkeit bestimmter Naturformen ohne weitere begriffliche Vermittlung in der ästhetischen Beurteilung als unmittelbares Lustgefühl bemerkbar macht. Die teleologischen Urteile können zur Schließung der Kluft dagegen nur über die begriffliche Bestimmung des Gegenstandes sowie auf dem Weg der Ethikotheologie, die sich als Resultat einer „consequenten Denkungsart“76 ergibt, insofern also lediglich mittelbar, etwas beitragen. Eine Bestärkung unseres zweckmäßigen Verhältnisses zur Welt können wir allerdings durchaus auch aus der Beurteilung der in der Natur tatsächlich vorkommenden Organismen ziehen. Denn zur Erklärung ihrer besonderen Funktionsweise kann der Zweckbegriff, der seinen Ursprung nicht in der Natur, sondern in unserer Praxis hat, erfolgreich zur Anwendung gelangen.
Diese beiden Beurteilungsmöglichkeiten, die ästhetische und die teleologische, geben uns daher immerhin eine Aussicht, eine Hoffnung, dass wir in einer Welt, die uns auf der Grundlage dieses Begriffs der Zweckmäßigkeit solche Erlebnisse und Erfahrungen ermöglicht, auch die Forderungen aus dem Sittengesetz, unsere moralischen Zwecksetzungen also, erfolgreich zur Geltung bringen. Warum diese ästhetischen und teleologischen Urteile so wichtig sind und die Frage nach dem Zusammenhang nicht nur eine Frage des Theoriedesigns ist, beantwortet Kant auch noch mit einem Hinweis auf das Gebiet der Praxis: Ästhetische und teleologische Urteile festigen eine Haltung zur Welt, in der wir eine (nicht-religiöse) Hoffnung ausbilden können, dass wir auch unsere moralischen Vorstellungen in der Welt realisieren können. Daher ist die Verbindung zwischen den scheinbar getrennten Welten auch etwas, das in moralischer Hinsicht wichtig ist. Der moralische Anspruch wird so gesehen in der Kritik der Urteilskraft noch weiter in die Konsequenzen entwickelt – und mündet dann in eine von Kant so genannte „moralische Teleologie“. Diese verlangt von uns, dass wir die ganze Natur und insgesamt die Welt unter der Perspektive der Ausführungsbedingungen unserer moralischen Bestimmung betrachten. Dabei macht uns diese Perspektive deutlich, dass wir eben auch Teil dieser Welt sind und dass wir gar nicht unabhängig von den besonderen Bedingungen und den Zusammenhängen in dieser Welt das moralisch Geforderte verwirklichen können sollen, sondern gerade im Gegenteil: unter den besonderen Bedingungen und Zusammenhängen. Das hat aber zur Folge, dass wir uns, wenn wir konsequent der Forderung des Sittengesetzes entsprechen wollen, die Natur und die Welt zumindest so denken müssen (aber deswegen nicht schon darauf schließen dürfen, dass es tatsächlich so sei77), als habe sie ein moralischer Urheber so eingerichtet, dass wir unsere moralischen Zwecksetzungen in ihr verwirklichen können. Wenn man nun auf der Grundlage dieser Vorstellung und dieses Bildes von der Welt handelt, ist es immerhin möglich, dass der Begriff der Freiheit, als einzige Idee freilich, „seine objektive Realität (vermittelst der [finalen] Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweist“78 und es auf diesem praktischen Weg „gelingt, […] dass hier das Übersinnliche […] [die Freiheit], durch ein bestimmtes Gesetz der Kausalität [AE: eben der finalen] welches aus ihm [AE: aus dem Übersinnlichen] entspringt, […], als Tatsache seine Realität in Handlungen dartut“ .79 Doch die Kausalität aus Freiheit führt nicht mit derselben Sicherheit zu Wirkungen wie die Naturkausalität, und aus den zweckmäßigen Erscheinungen der Natur, die wir unter der Perspektive der reflektierenden Urteilskraft erfahren, dürfen wir nicht schließen, dass die Welt auch objektiv zweckmäßig eingerichtet ist; noch weniger kann uns der Gedanke eines moralischen Urhebers der Natur darüber versichern, dass es immer und nachhaltig gelingen wird, die Welt nach Maßgabe des kategorischen Imperativs zu gestalten. Die Möglichkeit aber lässt sich denken.