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X. War der Aufklärer Kant ein Antisemit, ein Rassist und ein Sexist?
ОглавлениеNeben diesen aufklärerischen Ideen, in denen Kant Reformen und Fortschritt freiheitlicher Verhältnisse propagiert, trifft man in seinen Schriften allerdings auch auf Passagen, die mindestens aus heutiger Sicht als antisemitisch, rassistisch und sexistisch beurteilt werden müssen. Trotz der dokumentierten Hochschätzung von Moses Mendelssohn und der engen Verbundenheit mit seinem Schüler Marcus Herz sowie freundschaftlicher Verbundenheit zu anderen jüdischen Gelehrten und Kaufleuten, äußert sich Kant immer wieder abwertend gegenüber „den Juden“, bekräftigt fest etablierte Vorurteile gegen die „Palästiner“89 und empört sich über Johann Michael Loewe. Loewe, ein jüdischer Maler, hatte einen Kupferstich von Kant angefertigt, über den sich Kant wegen der „jüdischen“ Darstellung seiner Nase empörte.90 In den Vorlesungsnachschriften trifft man auf Stellen, die andere Völker als faul und feige bezeichnen oder ihnen absprechen, dass sie je zu einer Kultur gelangen.91 Und in Bezug auf die „Frauenzimmer“ meldet Kant Bedenken an, ob sie Geometrie lernen können.92 Wie diese Stellen über ihren unmittelbaren Wortsinn hinaus noch zu bewerten sind, ist allerdings keine triviale Frage. Manche dieser Passagen drücken Kants persönliche Meinung über „die Juden“, „die Lappen“ und „die Frauen“ aus und reproduzieren damit gesellschaftliche Klischees und Vorurteile über diese Personengruppen. Zugleich finden sich aber in Kants Schriften auch Aussagen, die solche Abwertungen und Klischeeisierungen explizit verurteilen und Stellung für die betroffenen Gruppen beziehen. Dann wiederum scheint Kant in seinen Vorlesungen, aber auch in seinen veröffentlichten Schriften, abwertende Darstellungen ohne kritische oder distanzierende Prüfung aus Reiseberichten übernommen zu haben. Schließlich muss sich jede:r Kantleser:in fragen, ob sich der rassistische, sexistische oder antisemitische Gehalt der einen oder anderen Aussage auch in den Argumentationen niederschlägt, die Kants kritische Philosophie in systematischer Weise begründen. Das zu beurteilen ist die eigentlich philosophische und brisante Frage, zu der die betreffenden Stellen im Zusammenhang der grundlegenden Theoreme und Begriffsbestimmungen der kantischen Philosophie kundig ausgewertet werden müssen. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass transzendentalphilosophische Begründungen, deren Gegenstände ja erklärtermaßen jenseits empirischer Unterscheidungen liegen, frei sind von Differenzierungen wie sie mit dem Rassebegriff, der Einteilung in Geschlechter, Religionen und Gemeinschaften getroffen werden. Würde man daher die transzendentalphilosophische Kritik entsprechend der Maxime einer „konsequenten Denkungsart“ weiterverfolgen, könnte man mit ihr auch die Ansprüche solcher inhaltlichen Differenzierungen kritisch bestimmen und die Unterscheidungen selbst auf ihre Berechtigung hin beurteilen. Unabhängig davon bleibt aber festzuhalten: Viele Stellen in Kants Texten lassen ein angemessenes Problembewusstsein vermissen. Dies mahnen wir nicht nur heute an, sondern wir wissen, dass auch schon zu Kants Zeit zumindest manche seiner Zeitgenossen über ein solches Problembewusstsein sehr wohl verfügten. War Kant ein Antisemit? Rassist? Sexist? Was tun? Die richtige Frage stellen.
Selbstverständlich ist es eine Aufgabe der Kantforschung, die betreffenden Stellen in genauer und umsichtiger Lektüre, unter Berücksichtigung des Kontextes, in dem sie stehen, des Anspruchs, der mit ihnen verbunden wird, und der Freilegung der Quellen, denen sie entstammen, auszuwerten und sie schließlich auch ins Verhältnis zu den übrigen Schriften der kantischen Theorie zu setzen. Tatsächlich gibt es bereits eine ganze Reihe an Forschungsbeiträgen und eine lebhafte Diskussion innerhalb und außerhalb der Wissenschaft, die sich mit den betreffenden Stellen, ja überhaupt mit Kants Schriften unter der Fragestellung beschäftigen, inwieweit sie als antisemitisch, rassistisch oder sexistisch beurteilt werden müssen. Doch ist die Diskussion unter dieser, auf Kant zentrierten Perspektive, angemessen ausgerichtet? Ist überhaupt die Frage, ob Kant ein Rassist, ein Sexist, ein Antisemit war, die richtige Frage? Würde eine Auseinandersetzung mit diesem Problem im Rahmen einer kritischen Philosophie nicht anders ansetzen müssen und auch die Fragestellung selbst prüfend in den Blick nehmen? Was ist mit der Frage, war Kant (oder ein anderer Vertreter einer philosophischen Theorie) ein Antisemit, Rassist, Sexist, verbunden? In welcher Weise prägt die Frage die anschließende Untersuchung und ihre möglichen Antworten vor? In erster Linie erzwingt die Fragestellung eine Subsumtion unter die jeweiligen Begriffe und impliziert, dass es nur ein „Ja“ oder ein „Nein“ geben könne. Vielleicht aber sollte die Fragestellung stattdessen zu abgewogenen Urteilen über Kants Theorie führen. Sie könnte uns an bestimmten Teilen seiner Philosophie inakzeptable Positionen kenntlich machen, an anderen Teilen diesen widersprechende Überlegungen zeigen, oder innerhalb der kantischen Philosophie Entwicklungen hin zu akzeptableren Positionen heraustreten lassen. In allen solchen Fällen aber würde die Frage nach Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus (im Folgenden abgekürzt als RSA) letztlich individualisiert. Doch gerade wenn RSA als Haltung, Einstellung oder Eigenschaft nur der Person zugeschrieben wird, versperrt man sich von vornherein die Möglichkeit, abgewogenere Urteile auch über die kantische Philosophie zu fällen. Selbstverständlich ist die Frage wichtig, ob Kant es hätte wissen können, dass das, was er hymnisch über die Europäer sagt, wenn er sie als kultiviert und fortschrittlich lobt, in weiten Teilen verfehlt ist, und dass die herabwürdigenden Bemerkungen über die Einwohner Amerikas oder Afrikas, die er aus Reiseberichten übernimmt, nicht gerade eine Beherzigung des von ihm selbst propagierten sapere aude belegen, weil er offensichtlich andere Positionen, die ebenfalls im Diskurs des öffentlichen Vernunftgebrauchs zugänglich waren, nicht zur Kenntnis genommen hat. Doch welche Einsicht eröffnet es uns eigentlich, wenn wir daraufhin ein abschließendes Urteil fällen und Kant als Rassisten, Antisemiten und Sexisten bezeichnen oder dies für widerlegt halten? Meines Erachtens gehen uns mindestens zwei wichtige Dimensionen des Problems verloren, wenn wir diese Problematik, auf die wir auch in anderen Werken der klassischen Philosophie stoßen, auf diese Weise behandeln. Die eine Dimension ist die überindividuelle und politische, die andere ist diejenige, in der wir etwas über unser eigenes Denken und die Tradition, in der wir stehen, lernen können. Die erste macht uns klar, dass RSA nicht ein Problem von Einzelfällen und vereinzelten Individuen ist, sondern von fest etablierten Traditionen, die ein rassistisches, sexistisches und antisemitisches Wissen einschließen. Dieses Wissen besteht in Stereotypen und Assoziationsketten, die in Äußerungen und Praxen von Personen, Gruppen, Gesellschaften oder in der Erinnerungskultur – in unserem Fall in bestimmten Texten – vermittelt werden. Jeder von uns kann diese Stereotypen erkennen, ohne sie aktiv gelernt zu haben oder selbst überzeugte:r Rassist:in sein zu müssen. Dieses Wissen setzt sich bis in die Gegenwart fort und ist in der gesellschaftlichen Interaktion jederzeit verfügbar bzw. kann jederzeit aufgerufen werden. In diesem Sinne handelt es sich gar nicht um ein individuelles Problem, noch weniger um eines, das nur bestimmte historische Individuen betrifft. RSA bildet auch als historisches Phänomen ein „Wissen“, das gerade nicht vergangen und bloß „historisch“ ist, sondern in der Erinnerungskultur und ihren verschiedenen Formen der Manifestation präsent und möglicherweise lebendig ist. So gesehen ist die Thematisierung dieses „Wissens“ eine politische Frage, weil sie uns alle und die Tradition, in der wir stehen und die unser Denken prägt, angeht. Wir lernen, und das wäre der zweite Punkt, über diese besonderen Wirkungen und Entfaltungsformen von RSA nur etwas, wenn wir uns nicht wie Richter außerhalb dieser Tradition stellen und meinen, von ihr nicht berührt zu sein oder werden zu können. Das aber tun wir, wenn wir über Kant (und andere) als Individuen urteilen und dabei meinen, wir selbst hätten bereits vollumfängliche Einsicht und Klarheit darüber, was sinnvollerweise unter RSA zu verstehen ist und nach welchen Kriterien wir unser Urteil fällen, kurz, wenn wir uns als bereits aufgeklärt wähnen, sodass wir über andere, nicht aber über uns selbst urteilen können. Letzteres hatte Kant, mindestens dies kann man ihm zugutehalten, weder von sich noch von seinem Zeitalter behauptet.