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Barbara saß neben Katharina auf dem Schaffell, das sie am Rand der Hube auf dem feuchten Untergrund ausgebreitet hatten, und schaute zum grauen Himmel hinauf. Hin und wieder wagte sich ein frühlingshafter Sonnenstrahl zwischen den Wolken hervor. Dann sahen die sandbraunen Schollen um sie herum gleich viel freundlicher aus. Der Saum des Hardtwaldes erstrahlte dann in einem hellgrünen Schimmer, der die Aussicht auf Frühling und Wärme barg.

Sie seufzte und biss von einem Kanten Brot ab. Sie hatten den ganzen Vormittag die Flur bearbeitet und ausgesät. Jetzt war Mittag vorbei, sie hielten Einkehr und aßen.

»Na, ’s gibt nichts zu seufzen. Sieh dich um.«

Eine junge Amsel hüpfte in einer Erdfurche umher. Aufgeworfene Scholle bedeutete nicht nur für die Menschen Nahrung. Barbara biss vom Käse ab, den sie in der anderen Hand hielt. Katharina und sie waren alleine auf ihrem Teilstück der zwölften Hube. Die Bauern Schütz und Geiß hatten in aller Frühe damit angefangen, ihre jeweiligen Hubanteile zu beackern. Eine Stunde lang hatten sie noch gemeinsam gearbeitet, bevor sich die beiden Hübner Richtung Reilingen aufmachten, da sie im Schloss Wersau zur Fron eingeteilt waren. Etwas, das ihr und Katharina für übermorgen bevorstand. Die 150 Morgen Feld und fast ebenso viele Morgen Wiesen, die zu Schloss Wersau gehörten, mussten bestellt werden. Hockenheimer und Reilinger Dörfler leisteten diese Arbeit.

»Ein Waldschrat bist du geworden«, sagte Katharina mit vollem Mund. Sie schluckte hinunter und ergänzte: »Lebst in deiner eigenen Welt, hast dich von den Leuten abgesondert.«

Barbara hörte auf zu kauen und drehte der Mutter den Kopf zu. »Was?« Für einen Augenblick sah sie sich selbst, wie sie da hockte, die Backen voll Käse, glotzend, die ausgestreckten Beine übereinander geschlagen, sorgsam darauf bedacht, das Fell nicht mit den erdverklumpten Schuhen zu beschmutzen.

»Kannst dich net ewig vom Leben abwenden«, sagte Katharina. »Gibt noch was anderes als Kräutersammeln.«

»Was …«

»Was was was. Hab gehört wie der Königsmann dich zum Tanz einlud. Geh halt mit.«

Katharina griff sich den Trinkschlauch, nahm einen großen Schluck Wasser und rülpste. »Täte dir gut.«

»Mutter, ich …«

»Ach geh fort, ein bisschen tanzen hat noch keinem geschadet. Könntest mal wieder lachen.« Katharina sah sie an.

Barbara lachte gekünstelt. »Recht so?«

Katharina zupfte an ihrem Barthaar: »Wenn ich jünger wär … na, ich tät’s mir net durch die Lappen gehen lassen. Ist doch ’n stattlicher Kerl, der Königsmann.«

»Ach Mutter, geh! Ich will nicht tanzen.«

»Hast nur Angst davor, dass sie sich die Mäuler zerreißen. Aber das tun sie eh.«

Barbara sah hinüber zum Waldsaum. Das Grasland davor war ein Teil von Hockenheims Allmende, Land, auf dessen Nutzung alle ein Anrecht hatten. Dort grasten Kratzwurms Kühe. Sie deutete zu ihnen und dem Kalb hinüber und sagte: »Kratzwurm schert sich mal wieder nicht drum, dass von St. Georg an bis zu Unsrer Lieben Frauen Tag das Grasen auf der Allmende verboten ist.«

»Sollte man morgen vorm Ortsgericht rügen«, entgegnete Katharina ohne sonderliche Anteilnahme. »Die Geldbuße von einem Pfund Heller scheint er ja zu verkraften.«

Man sollte es wirklich rügen, dachte Barbara. Kratzwurm tat das nämlich immer wieder, obwohl er schon zweimal hatte Buße zahlen müssen.

Sei’s drum, sie hatte nicht vor, morgen beim Ortsgericht zu erscheinen, obwohl auch sie dann Strafgeld zahlen musste, wenn Würth es nicht wieder vergaß. Und da Katharina und sie kein Vieh hatten, das auf der Allmende graste – den Ochsen und fünf Geißen hatten sie verkauft, da sie alleine der Arbeit nicht nachkommen konnten – sollte sich Kratzwurm mit seinem widrigen Verhalten zum Teufel scheren.

»Ich mein’s ernst«, sagte Katharina und Barbara hörte an ihrem Tonfall, dass es ihr nicht gelungen war, ihre Mutter von ihrer Mahnrede abzulenken. Sie sah Katharina an. Diese erwiderte ihren Blick nicht, sie hielt ihn noch immer auf Kratzwurms Kühe gerichtet als erwarte sie von ihnen Zustimmung. »Der Wald hat dir geholfen, am Leben zu bleiben. Doch die Zeit verstreicht, Sorgen mach ich mir um dich. Hast Steine auf deinem Herzen zu einem Haufen aufgetürmt. Mit der Zeit sind sie Geröllbrocken geworden, die immer schwerer auf deinem Gemüt lasten. Empfindest nichts mehr, läufst wie auf geschmierten Rädern.«

Die Worte stachen ihr ins Herz. Sie holte Luft. Die Sorge ihrer Mutter, die Gedanken, die diese sich um sie machte – Barbara wünschte, sie müsste sie nicht fühlen. Es tat weh. Sie sehnte sich in den Wald. Im Wald war sie zu Hause, dort war Frieden. Auch nachts, er machte ihr keine Angst. Die Suche nach den Pflanzen und deren Verarbeitung half, sich die quälenden Gedanken vom Leib zu halten. Alles andere brachte sie nur durcheinander.

»Die Leute reden so oder so, was sie wollen. War schon immer so und wird sich auch net ändern. Aber was sich ändern lässt« – Katharina hielt inne und sah sie nun doch an. »Na!«, machte sie, zuckte die Schultern und sah wieder in die Ferne. »Ändern lässt sich, worüber sie sich die Mäuler zerreißen. Gib du ihnen keine Veranlassung mehr, über dich zu tratschen.«

Ihre Niedergeschlagenheit wandelte sich in Wut. »Was soll ich denn tun, Mutter?!« Ihre Stimme überschlug sich. »Ich bin wer ich bin. Es geschah, was geschah. Soll ich etwa von hier fortgehen?«

Katharina schwieg und starrte zum Waldrand.

»Ist es das?«, schrie sie. »Willst du, dass ich fortgehe? Nach Heidelberg oder Neustadt, nur recht weit fort von hier? Willst du das?«

Katharina sah zu ihr her und die Liebe und der Schmerz, den sie auf dem Gesicht ihrer Mutter sah, nahm ihr die Luft. Sie senkte den Blick. In diesem Augenblick begriff Barbara, dass sie selbst es war, die diese Liebe zurückwies. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man sie noch lieben konnte, nachdem sie schuldig geworden war am Tod von Mann und Tochter. Sie verzieh sich nicht. Sie konnte es nicht. Es brach Katharina das Herz. Und es brach ihr noch einmal, weil sie, Barbara, ihre Vergebung nicht annehmen konnte. Sie schluckte. Es tat ihr leid. Sie wollte Katharina das nicht antun. Doch war es längst geschehen. Sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte.

Auch Katharina schwieg. Nach kurzer Weile räusperte sie sich. »Na, ’s wär net verkehrt, man säh’ dich mit ’nem Mann.«

Barbara wartete einen Augenblick, ehe sie erwiderte: »Dann reden sie da drüber.«

Sie griff nach dem Trinkschlauch. Als sie getrunken hatte, reichte sie ihn Katharina. Die nahm ihn ohne herzuschauen, trank jedoch nicht. Er lag in ihrem Schoss und Katharina hielt ihn mit beiden Händen wie ein altes Halstuch, das man in einer Ecke gefunden und für das man augenblicklich keine Verwendung hatte. Sie hob den Kopf und sagte: »’S schwingt eine Bosheit mit, die gefährlich klingt.«

Barbaras Magen krampfte sich beim Gesichtsausdruck ihrer Mutter zusammen. »Gehst ja net Wasser holen. Am Brunnen verstummen sie, wenn ich komme. Und in ihren Gesichtern steht Gehässigkeit.«

Gehässigkeit? Wieder spürte sie Wut. »Mutter, Friedgard geht schon so lange bei uns ein und aus, das kann …«

»Friedgard! Der ist doch nur der Tropfen, der’s Fass zum Überlaufen bringt.«

»Ach Mutter, ich wusste, warum ich mich zurückzog!«

»Darum geht’s. Fünf Jahre Witwe, lebst für dich, bist nachts unterwegs, kümmerst dich um nichts …«

»Und?«

»Und? Eins zum andern geben sie, erinnern sich an altes Zeug, mischen’s mit Diesem und Jenem, was so die Runde macht, rühr’n genüsslich um und raus kommt eine Suppe mit Namen ›Geschrei‹.«

Barbara starrte auf den Waldsaum. »Was für altes Zeug?«

»Weißt es genau«, brummte Katharina.

Sie ruckte den Kopf zu Katharina herum. »Maria Zahn.«

»Na.«

»So ein dummes …«

»Ja. Dumm ist’s. Und trotzdem lassen sie’s net ruh’n. Erst recht net bei dem, was sich um uns herum tut. Bist ja net blind und taub.«

Jajaja, ich weiß, dachte sie bitter und presste die Lippen aufeinander. Die Hexensekte. Natürlich war die Welt ein magischer Ort! Doch es war Gottes Magie, die sie in jeder Blüte, jedem Blatt und jedem Regenguss spürte. Menschen konnten all dies nicht erschaffen. Menschen konnten beobachten und aus ihren Beobachtungen lernen. Sie konnten sich die Vielfalt, die Gott geschaffen hatte, zunutze machen. Vielfalt, die in Wolken steckte, die Regen brachten, und in einem Gerstenkorn, das Getreide heranwachsen ließ. War dies etwa kein Wunder? Menschen selbst waren Geschöpfe Gottes. Sie konnten die Kraft der Kräuter nutzen. Sie konnten das Wasser nutzen. Sie waren imstande, ganz wundersame Dinge zu tun, etwa, Schiffe zu bauen. Oder war es etwa nicht staunenswert, dass diese großen Holzdinger nicht untergingen, sondern über Ozeane fuhren und ganz und gar absonderlichen Kunde aus fernen Ländern brachten?

Ach Leonhard, dachte sie, wie vertraut haben wir über all die Dinge gesprochen, die uns zum Staunen brachten. Wie sehr du mir fehlst! Sie starrte auf die aufgeworfene Erde, sog den frischen, würzigen Geruch des Bodens ein. Leonhard, hier sitze ich und alles was mir von dir blieb, ist der Anteil an der zwölften Hube. Nie werde ich mir verzeihen, dass ich so unachtsam war, dachte Barbara.

»Na!«, machte Katharina. »Seufze halt. Aber Taten wären besser.«

»Taten?«

»Tanzen geh’n. Dich zeigen. Mit einem Kerl an deiner Seite, der ihnen ’s Maul stopft, wenn sie dumm daherreden.«

War es das, was ihrer Mutter die Sorge nehmen würde? Sie beruhigen würde? Sie dachte an Elisabeth und wusste, es würde ihr selbst ebenso ergehen. Sie würde ihre Tochter versorgt und in Frieden wissen wollen. Sie rief sich den Königsmann in Erinnerung. Zugegeben, er war stattlich. Aber seine Augen, dieser Blick … etwas darin rüttelte an der Tür zu jenem Raum in ihr, den sie so gut verschlossen hielt. Sie vermochte nicht zu sagen, was das war. Und sie wollte es keinesfalls herausfinden. Sie wollte ihr Leben weiterleben wie bisher. Wollte mit ihrer Mutter sein und in ihrem Wald. Alles sollte wieder gut sein.

»Mutter ich … möchte dir keinen Kummer machen, wirklich nicht.« Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten und schluckte.

»Schon gut«, machte Katharina. Sie spähte den Pfad am Waldrand entlang und fragte: »Wo nur Hedwig bleibt?«

»Ach, sie wollte kommen?« Barbara schluckte die Tränen hinunter.

»Meine, wir hätten’s vereinbart.«

»Hat sie wohl vergessen.«

Barbara war dankbar dafür, dass ihre Mutter zu Hedwig schwenkte. Ihre vierzehnjährige Nichte half manchmal auf der Flur und im Garten, wenn auch nicht besonders gerne. Was wohl der Grund für ihr Fernbleiben sein mochte. Vielleicht hatte auch Gundel, ihre Schwägerin, sie für eine andere Arbeit gebraucht.

Katharina brummte und stopfte sich den letzten Bissen in den Mund. Sie spülte ihn mit einem letzten Schluck Wasser hinunter und Barbara stand auf. »Lass uns weitermachen. Übermorgen müssen wir nach Wersau.«

Katharina tat es ihr nicht gleich. Blieb hocken und sah zu ihr empor. »Ich wünschte, ich könnte dir was abnehmen. Aber das kann ich net. Ist deine Sache. Aber gut tut’s dir net, das Absondern. Verhärtest. Und je länger das dauert, je härter wird’s in dir.«

Barbara hatte gehofft, ihre Mutter würde nichts mehr zu der Sache sagen. Aber ihre Sorge hatte sich nicht verzogen, sie hing noch immer zwischen ihnen.

»Mutter … ich weiß, es ist auch für dich nicht leicht.« Sie streckte ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Ächzend kam Katharina in die Höhe. Tätschelte ihr die Wange. »Na. Schon gut. Du weißt, wie ich darüber denke. Niemand sagt, ’s wär leicht. Aber ’s Leben geht weiter.«

Sie sah Katharina an, eine alte Frau, wie viele Jahre mochten ihr noch gegeben sein? Die Liebe zu ihr durchspülte Barbara plötzlich heftig und warm. Sie fühlte die Sanftheit, die dadurch in sie sickerte wie Sirup. Ohne Gegenwehr ließ sie es geschehen und es wärmte sie durch und durch. Sie lächelte und erwiderte: »Wie ein Rad, das immer weiterrollt. So ist das Leben.«

»Na«, machte Katharina, streckte sich und rieb sich die Hüfte. »Bin ja froh, dass ich dich habe.«

»Na«, machte sie ihre Mutter nach und verzog dabei das Gesicht. »Ich verspreche dir, nächsten Sonntag zur Kirche zu gehen. Gut so?«

Katharina tätschelte ihr den Arm.

»Was anderes. Holst du noch Eichenlaub? Auch die Müllerin klagt jetzt über blutigen Harn.«

Barbara nickte. »Sobald wir hier fertig sind.« Am Abend wollte sie nach Lußheim gehen. Dort hatte man vor sieben Jahren Eichen angepflanzt, die zu einem Wäldchen trefflicher junger Bäume herangewachsen waren. Sie wollte das überwinterte, vermoderte Eichenlaub sowie Eichenrinde sammeln. Deren zusammenziehende, austrocknende Kraft ließ sich vorzüglich für einen Aufguss bei Blasenleiden verwenden. Katharina, deren Blase altersschwach wurde, trank den Sud zur Vorbeugung und Kräftigung.

»Na. Dann lass uns weiter machen, komm«, sagte Katharina und ging voran.

Bevor sie nach Lußheim hinüberwanderte, um das Eichenlaub zu sammeln, wollte sie erst noch einmal bei Hartmann Baumann vorbeischauen. Barbara ging am östlichen Zollhaus vorbei, wo zwei Schweizer Kaufleute sich die Geleitzeichen ausstellen ließen, und bog in die Gemeindegasse ein. Nach wenigen Schritten langte sie bei dem Haus an, in welchem der junge Lehrer zur Miete wohnte. Auf der linken Seite, gegenüber vom Dorfplatz, kauerte es zwischen schiefen Fachwerkhäusern mit schwarzen Flecken auf ehemals weißem Verputz. Barbara betrat den Hof und stieg die hölzerne Außentreppe hinauf. Gestank nach Kot wehte um die Hausecke, hinter welcher die Schissgrube lag, mischte sich mit den Ausdünstungen des Viehs aus den Stallungen weiter hinten im Hof.

Sie hielt vor Baumanns Tür und pochte. Die Treppe führte noch weiter hinauf ins Dachgeschoss, wo sich Vorratsräume der Hausbesitzer befanden.

»Herein«, hörte sie und trat ein.

»Frau Heilmann!«, grüßte Baumann.

»Das trifft sich gut!«, rief Friedgard. Er sprang auf, nickte ihr zu und zeigte auf den Leinenverband an Baumanns Hals. »Er sagt, die Wunde zwackt.«

Barbara freute sich, ihn zu sehen. Sie trat zu den beiden an den Tisch und legte ihren Leinenbeutel ab.

»Das ist naturgemäß«, sagte sie.

»So, alter Zuchtmeister, da hörst du es.« Friedgard sandte seinem Freund, der sitzen geblieben war, ein schalkhaftes Grinsen. »Brauchst gar nicht ächzen wie unter der Marter. Du kommst zu Kräften, kannst bald wieder Schule halten.« Er begann, in der Stube umherzugehen.

»So ist es«, sagte Barbara schmunzelnd.

»Aber auf Dauer wird’s in deinem Loch zu eng«, stellte Friedgard fest, blieb stehen und wies auf drei Holzbänke, die in einer Ecke des Zimmers zusammengeschoben standen. »Rück die auseinander, pferch auf jede fünf Sprösslinge und du kannst hier drinnen keinen Furz mehr lassen!«

Barbara sah sich in dem kleinen Zimmer um. Dunkle, alte Balkendecken mit quer zu den Balken verlegten Holzbohlen ließen es düster erscheinen. Es gab den Tisch, drei Stühle, eine große Truhe und ein Wandbord, auf dem Becher, Holzteller und Töpfe untergebracht waren. Ein kleiner Ofen sorgte für mäßige Wärme, im Weidekorb daneben lagen Holzscheite. Durch das Fenster sah man das Fachwerk des Nachbarhauses. Von dort drang Gestank nach Unrat herein, der zwischen den Häusern vor sich hin faulte.

Von ihren beiden vorhergehenden Besuchen wusste sie, dass der Blick aus dem anderen Fenster, jenem in Baumanns angrenzender Schlafstube, angenehmer war. Es ging auf die Gemeindegasse und den Dorfplatz hinaus, wo man die Dorflinde sehen konnte. In Baumanns Schlafkammer standen Regale, auf welchen der Lehrer seine Bücher und Schriften verwahrte. Sie zurrte ihren Beutel auf und entnahm ihm den Salbentiegel und neue Leinenverbände.

Baumann deutete auf die gezimmerte Kiste am Boden, in der er allerlei Lehrreiches für seine Schüler aufbewahrte, wie sie von Friedgard wusste. Der Lehrer hegte eine Neigung für das Tier- und Pflanzenreich und sammelte Dinge wie verpuppte Raupen, leere Vogeleier oder den Kadaver einer verendeten Eule. »Wenn ich die hier öffne und auspacke, solltet Ihr den Tumult erleben, den das unter meinen Schülern verursacht. Die Stube platzt dann wahrlich aus allen Nähten, wenn sie sich aufgeregt drängen, damit auch keiner etwas verpasst. In Summa …«

»Magister Baumann braucht ein Schulhaus!«, ergänzte Friedgard.

Ein Schulhaus? In diesen Zeiten, da die Preise für das, was man zum Leben brauchte, ständig stiegen? Roggen, Weizen und Hafer waren doppelt so teuer als in ihrer Jugendzeit. In Speyer klagten die Menschen, dass Roggen und Weizen gar das achtzehnfache des früheren Preises ausmachten und dass Kalbsfelle achtmal so teuer seien wie ehemals. Die Menschen kamen kaum über das Jahr und Baumann wollte ein Haus eigens zum Zweck des Unterrichts? Es wäre mit Fron instand zu halten und für die Beheizung hätte die Gemeinde selbst zu sorgen. Der Kirchenrat in Heidelberg hatte den Lehrer in diesem Jahr zum dritten Mal im Amt bestätigt. Barbara wusste nicht genau, wie hoch seine Besoldung war, die von den Bürgern, den Schülern sowie der Fauthei Kißlau, die dem Hochstift Speyer unterstand, getragen wurde. Brennholz und Korn bekam er zudem. Man achtete den jungen Mann, dennoch gab es immer wieder Stimmen, die Lesen lernen als unnütz verteufelten, selbst wenn der Lehrer es anhand des Katechismus lehrte. Jenen, die immer alles so lassen wollten wie es war, mochte es zudem ein Dorn im Auge sein, dass nicht mehr der Pfarrer diesen Dienst versah, sondern eigens ein Lehrer dafür abgestellt wurde, der zudem von ihnen bezahlt werden musste, und der sein Vieh, so er denn welches hatte, ebenfalls auf der Allmende grasen lassen durfte. Sie selbst hatte das Lesen noch beim alten Pfarrer Henerich in dessen Wohnstube gelernt.

»Was sagt Ihr, Frau Heilmann?«, fragte Friedgard mit jener Begeisterung, die sie an ihm mochte.

Sie lächelte ihn an und sagte: »Wer soll es bezahlen?«

»Wir haben nächtelang darüber gesprochen, Hartmann und ich. Wir werden mit Pfarrer Eigner reden und mit Würth. Die Kosten wären aus Kirchengefällen zu tragen.«

Dem Schultheiß traute sie zu, dass er der Sache zugeneigt war. Würth hielt viel von Bildung. Aber Eigner? Wie sie den Geizhals kannte, würde der sich dafür aussprechen, Hockenheims Kinder auf dem Dorfplatz zu unterrichten. Bei Wind und Wetter. Der war sicher der Meinung, das sei gut für calvinistische Zucht und Sittenstrenge.

Sie bedeutete Baumann, den Kopf nach vorne zu neigen.

»Was haltet Ihr also davon?« Friedgard setzte sich.

»Gut«, antwortete sie. Vorsichtig wickelte sie den alten Verband von Baumanns Hals. »Es wird ziepen, aber das kennt Ihr ja schon.«

Baumann machte eine Geste mit der Hand, Nicken bereitete ihm Schmerzen.

Friedgard schwieg und sah ihr zu. Einen Augenblick war es ruhig in der Stube. Dann fragte Baumann unvermittelt: »Wie lange gebt Ihr mir noch?«

Es war scherzhaft gemeint, doch Barbaras Hände verharrten mitten im Tun. Zu oft und zu bösartig – sie konnte diese Frage nicht mehr hören.

Baumann merkte, dass er unbedacht gewesen war. »Ich wollte Euch nicht kränken, verzeiht. Aber Friedgard und ich sprachen darüber, wie sehr sich die Leute die Mäuler zerreißen. Es geht um, Ihr hättet mir noch eine Woche gegeben.«

Barbara legte die alten Leinenstreifen zur Seite und fuhr sich mit dem Handrücken unter der Nase lang. Anfangs hatte es ihr Spaß gemacht, das Gerede um ihre außergewöhnlichen, seeblauen Augen. Da war sie noch jung gewesen und stolz darauf, dass man ihr zutraute, die Gabe des besonderen Blicks zu haben. Tatsächlich war es nicht schwer, jemandem in die Augen zu schauen und zu sehen, ob der Lebensmut darin erloschen, gebrochen oder zerfressen war. Oder die Angst darin zu sehen. Oder die Sehnsucht nach Leben. Oder Gleichmut, Stärke. Doch mit jeder Krankheit, die sie bestimmte, mit jedem weiteren Jahr, das diesen Ruf förderte, wurde ihr unbehaglicher zumute. Und seit fünf Jahren hasste sie es geradezu, jemandem direkt in die Augen zu schauen und zu lesen, was darin geschrieben stand.

»So, das geht um«, sagte sie beherrscht und entfernte den letzten Stoffrest, der mit der Salbe am Nacken festklebte, mit einem entschiedenen Ruck.

Baumann sog scharf die Luft ein.

»Ist schon gut, Magister Baumann. Ich weiß, dass Ihr es nicht so meintet«, lenkte sie ein.

Friedgard beugte sich herüber und betrachtete die Wunde. »Sieht wirklich gut aus, Hartmann«, lobte er. »Bald klettern wir im Baugerüst deiner Schule!«

Er wollte seinem Freund Mut machen.

Und ihn bei ihr wieder in gutes Licht rücken.

Das war es, was sie bei sich »das Sonnige an ihm« nannte. Diese Unbekümmertheit, die etwas Wohltuendes hatte. Auch wenn sie wusste, dass er mit diesem Verhalten gerne Unstimmigkeiten aus dem Weg ging. Gerangel konnte er nicht leiden. Es verursachte ihm Kopfgrimmen. Deshalb war er auch aus Heidelberg fortgegangen. Er war nicht gemacht für Hintenrum-Getue, gegeneinander Aufwiegeln. Nur ist es in Hockenheim nicht anders, dachte sie. Hier war nicht der Hof, nicht die Stadt. Doch lebten hier Menschen, und wo es Menschen gab, gab es auch Misstöne und Zwist. Sie streifte ihn mit einem Blick, als sie nach dem Tiegel griff. Dann drückte sie den Kopf des Lehrers sanft nach unten, um ihm die Salbe aufzustreichen. »Friedgard hat recht. Es heilt wirklich gut«, sagte sie. »Habt Ihr schon etwas gehört, was Euren Sturz betrifft?«

»Zahn war heute früh bei mir. Er will, dass ich die Sache morgen vor dem Ortsgericht rüge. Dann will er’s auf die Zent schreiben. Beibringung blutiger Wunde.« Baumann verstummte, denn er konnte nur undeutlich sprechen, während sie die Salbe verteilte.

Barbara griff nach den frischen Leinenstreifen und sagte: »Vielleicht findet man die Missetäter ja.«

»Natürlich«, nuschelte er.

Sie wickelte den Verband. »Bewegt Euch so wenig wie möglich, Ihr wisst es ja. Eure Wirtsfrau bringt Euch nach wie vor Suppe?«

»Ich komme zurecht.«

Er klang mit einem Mal abweisend. Sie war fertig mit Verbinden und legte dem Lehrer zum Zeichen dafür die Hand auf die Schulter. Baumann erhob sich sofort. Sie verschloss den Salbentiegel und machte sich bereit zum Aufbruch. Baumann kramte in der Truhe nach seinem Beutel, um sie zu bezahlen. Friedgard stand ebenfalls auf und wippte auf den Fersen vor und zurück. Sie schloss die Tür hinter sich mit einem seltsamen Gefühl des Unbehagens.

Sie stieg die Außentreppe hinunter und sann darüber nach, warum ihr derart zumut war. Da fiel ihr des Zentgrafen Frage ein, die er am Georgsmorgen bei dem Verletzten vor sich hingemurmelt hatte. Sie hatte völlig vergessen, den Lehrer darauf anzusprechen. Ob Friedgard es getan hatte?

Sie überquerte die Gemeindegasse und bemerkte erst jetzt die Handvoll Weiber, die sich auf dem Dorfplatz um den Brunnen drängte. Schon löste sich eine aus der Traube und eilte mit erhobenem Arm auf sie zu. »Auf ein Wort, Heilmännin!«

Ausgerechnet Engel Eigner. Niemandem wollte sie jetzt weniger begegnen. Die Hausfrau des Pfarrers kam heran, hielt sich die linke Hand vor die Brust und rang nach Atem, als wäre sie weiß Gott wie schnell gelaufen. Betont demütig wie stets sagte sie: »Gott zum Gruße! Gut, dass ich Euch treffe.« Engel Eigner war einige Jahre älter als sie, Anfang vierzig vielleicht, doch sie sah älter aus – und ganz und gar nicht wie ein Engel. Ihr herzförmiges Gesicht mit der unglaublich spitzen, nach oben gebogenen Nase war grau wie ihre Aufmachung, die etwas aus der Zeit gekommenes hatte. Sie verzichtete auf eine gefällige Jacke und trug ein schlichtes wollenes Überkleid, das bescheidene Ehrbarkeit ausdrücken sollte. Ihre Haube war ebenfalls schon alt und von nicht ganz reinem Weiß.

Barbara schaute an dem Pfarrersweib vorbei, um sie nicht ansehen zu müssen. Sie mochte diese Erbsenaugen nicht, deren Ausdruck dem Gegenüber Gottesfürchtigkeit vermitteln sollte und doch nichts anderes war als Selbstgerechtigkeit. Sicher wollte sie Barbara gemahnen, öfter den Weg zur Kirche zu finden. Wäre nicht das erste Mal.

»Heilmännin, wir …« – sie wies zu den Frauen hin, die wartend am Brunnen standen, und unter welchen Barbara Ortrud Oreans, das Weib eines Zöllners, sowie Dorit Seyfried, des Schuhmachers Hausfrau, erkannte. Auch Margarete Herwart war dabei.

»Wir sprachen darüber, dass es durch und durch wider Calvins Lehren ist, wenn in wenigen Tagen zum Tanz aufgespielt werden soll. Wir leben in einer schweren Zeit, in der Gott die Seinen auf das Härteste prüft und ihnen Opfer abverlangt. Auch wenn der junge Friedrich – Gott sei’s gedankt – dem rechten Glauben zugehört, hat er sich doch darauf verstiegen, das Tanzen zuzulassen.«

Das ist ja nun nichts Neues, das hat er letztes Jahr Michaeli bereits getan, dachte Barbara und ärgerte sich, der Eignerin in die Arme gelaufen zu sein.

Diese befeuchtete die dünnen Lippen mit der Zunge, ehe sie fortfuhr: »Wir wissen ja, dass unser junger Kurfürst auch sonstigen Sinnenfreuden zugeneigt ist, der Herr sehe es ihm nach und lenke ihn zur Vernunft, seine baldige Heirat möge ein übriges tun. Keineswegs wollen wir wider unseren Landesherrn sprechen, halten aber dennoch das Tanzen für sittenwidrig und sammeln Stimmen, die dem verderbten Treiben Einhalt gebieten. Man muss diesem heidnischen, ärgerlichen und unzüchtigen Gebräuch rechtzeitig wehren. Sicher stimmt Ihr darin mit uns überein?« Die Eignerin war bei den letzten Worten lauter geworden als wolle sie, dass die Weiber im Hintergrund sie gut vernehmen konnten.

Barbara war überrascht. Von ihr wollte man Rückhalt in dieser Sache? Was sollte sie sagen? Sie konnte nichts Schlimmes daran finden, auch wenn die Kirchenmänner es als Teufelswerk ansahen.

»Ich kümmere mich nicht um solcherlei Sachen«, erwiderte sie deshalb ausweichend.

»Aber das solltet Ihr!«, entrüstete sich die Eignerin und auf ihrer Stirn zeigte sich eine Furche, die geradewegs auf ihre Nasenspitze zeigte. »Wer ein gottgefälliges Leben führt und den Einflüsterungen des Satans widersteht, zeichnet mit seinem Namen gegen das Fest.«

Barbaras Unbehagen wuchs. In Engel Eigners Herzgesicht las sie gottgefälligen Eifer. Und noch etwas anderes. Kaum verhohlene Hinterlist. Sie wollte sie prüfen. Widersprach sie, führte sie also kein gottgefälliges Leben – und war anfällig für die Einflüsterungen des Satans. Keine gute Aussicht für eine, die ohnehin im Geschrei stand. Stimmte sie zu … ja, was dann? Engel Eigner würde ihr trotzdem nicht glauben. Deutlich las Barbara in ihrem Gesicht, dass sie geradezu darauf wartete, ihre Meinung über sie, das hoffnungslos von Gott abgefallene Weib, bestätigt zu sehen.

»Calvins Lehren sind eindeutig. Ihr fügt Euch seinen Richtlinien, Heilmännin? Dann zögert nicht länger mit der Antwort.«

Dieses scheinfromme Weib! Nie und nimmer würde sie mit der und ihren gleichgesinnten Freundinnen an einem Strang ziehen! Zur Wut gesellte sich Trotz. Einen Augenblick lang bedauerte sie, die Einladung des Königsmannes nicht angenommen zu haben. Sie versuchte, ihre Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, als sie entgegnete: »Meine Antwort habt Ihr. Ich beschäftige mich nicht damit. Ich habe anderes zu tun.« Sie neigte den Kopf zum Zeichen, dass das Gespräch für sie beendet sei und ging über den Dorfplatz.

Margarete Herwart trat ihr in den Weg. Bosheit im Blick. »So wollt Ihr also nicht wider gotteslästerliches Treiben zeichnen, Heilmännin.« Sie senkte die Stimme zu einem bösartigen Flüstern: »Ich habe es von Euch nicht anders erwartet.«

»Ihr tut, was Ihr für richtig haltet, Frau Herwart, ich tue, was ich für richtig halte. Und bitte –« Sie schaffte es, Friedgards Mutter anzulächeln. »Unterlasst endlich Eure spitzzüngigen, niederträchtigen Bemerkungen.« Damit ließ sie die Herwartin stehen und eilte Richtung Speyerer Straße davon.

Beschützerin des Hauses (Neuauflage)

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