Читать книгу Beschützerin des Hauses (Neuauflage) - Marlene Klaus - Страница 5
Vorbemerkung
ОглавлениеWie wir Geburt, Krankheit, Tod erleben, wie wir miteinander umgehen, wie wir essen, wohnen, arbeiten und feiern, kurz, in welchen individuellen und kollektiven Formen wir unser Leben verbringen und uns in der Welt zurechtzufinden versuchen – dies alles verbindet uns in vielen Einzelheiten mit der Welt des alten Reiches. Es gehört zum fast vergessenen Vermächtnis der Vormoderne, das es zu entdecken gilt. Wer den verkürzenden, ausschließlich an der Gegenwart orientierten Blick überwindet, dem eröffnet die Zeit zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert überraschende Perspektiven. Dabei geht es nicht um eine Flucht aus der »bösen« Gegenwart der technischen Zivilisation zurück in die vorgeblich idyllische Welt der »guten alten Zeit«, sondern lediglich darum, zu erkennen, wer wir sind, warum wir so sind, wie wir geworden sind.
Nicht zufällig entdeckt man im ausgehenden 20. Jahrhundert die Historie neu, versucht man, in der Geschichte verlässliche Fundamente einer brüchig gewordenen Identität zu finden. Lang bewährte Formen des Zusammenlebens erfahren tiefgreifende Veränderungen, Traditionen lösen sich auf. Der gesamte Kosmos menschlicher Verhaltensweisen befindet sich im Umbruch, in einem Stadium der Neuorientierung. Vieles, was gestern galt, ist heute in Frage gestellt. Die Erfahrungen und Schwierigkeiten mit der eigenen komplexen Gegenwart erzeugen eine erhöhte Sensibilität für historische Phänomene. Geschichte erscheint heute weniger festgelegt als früher, eher als offener, unberechenbarer Prozess denn als sinnvolle, auf ein bestimmtes Ziel notwendig zulaufende Bewegung. Der rasche Wandel zeigt, dass Denk- und Verhaltensweisen, die als anthropologische Konstanten galten, der Veränderung ebenso unterliegen wie die sich schneller wandelnden Ereignisse. Die Krise öffnet den Blick für die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sich die Lebensformen der Moderne gebildet haben.
Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800, Propyläen 1992