Читать книгу BeOne - Martha Kindermann - Страница 13
Tristan
ОглавлениеHeute ist es soweit. Das Loft hat sich über Nacht in einen geschäftigen Ameisenhügel verwandelt und sämtliche Wächter sind am Packen, Räumen, Tüfteln und Diskutieren. Als die Essensglocke läutet und sich sämtliche Bewohner unseres Ameisenstaates um das gedeckte Frühstücksbuffet versammeln, jagt ein vorfreudiges Kribbeln durch meinen müden Körper und ich starte gutgelaunt in diesen aufregenden Tag. Wenn alles nach Plan läuft, und ich die Chance erhalte, Teil der Spielmachergang zu werden, dann steht meinem Glück nichts mehr im Wege. Ich überwache das Camp, Roya und die erneute Landung in der Warte mit all ihren kranken Überraschungen. Rafael muss mich einfach ins Team holen – er muss!
»Guten Morgen, Wächter!« Mirco Lehmanns beruhigende Stimme hat genau die richtige Färbung, um die hibbelige Bande zur Ruhe zu bringen.
»Gu-ten Mor-gen, Mir-co!«, antwortet die Gruppe mit strahlenden Gesichtern. Ein absolut überwältigendes Gefühl, inmitten dieser Menschen zu stehen und einem gemeinsamen Ziel entgegenzusehen. Heute startet unsere Mission. Heute brechen wir auf, um das Chaos und den bevorstehenden Krieg aufzuhalten und alles dafür zu tun, Polar wieder lebenswert zu machen. Ich bin so verdammt glücklich. Wenn Roya doch nur bei mir sein könnte!
»Die Nacht war kurz. Die nächsten werden noch kürzer.« Soll uns diese Gewissheit jetzt motivieren? »Wir haben uns die Entscheidungen nicht leicht gemacht, aber die Teams mussten sinnvoll und effizient eingeteilt werden, und so haben wir auch den ein oder anderen Kompromiss eingehen müssen.« Bitte lass mich ein Spielmacher sein! Bitte lass mich ein Spielmacher sein!
»Beginnen wir mit unserer Logistikabteilung. Die fähigsten Planer, die fleißigsten Anpacker und Menschen, die es schaffen, alles beisammenzuhalten, haben wir in einer der wichtigsten Einheiten versammelt. Wenn euer Name aufgerufen wird, haltet euch bitte an Josi. Ihr seid zugleich die Ersten, die sich den Bauch vollschlagen dürfen, um danach zur Tagesordnung überzugehen.«
Mmh, Essen. Jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken. Zu den Logistikern werde ich verpeilter Typ sowieso nicht abkommandiert, also höre ich nur mit halbem Ohr hin und träume von Joghurt und frischen Äpfeln, die das üppige Festmahl zieren.
»Okay. Nun zu unseren IT-Genies. Diese Auswahl wird wohl weniger überraschend ausfallen, aber ich freue mich dennoch, das ein oder andere frische Gesicht in den Reihen der Basis zu begrüßen: Trish, Fenja…«
»Oh Mann, wie geil!« Fenja fällt Elvis um den Hals und knutscht ihn zu Boden. »Ich bin so happy! Bis gleich Jungs!« Sie hat es verdient. Ich hätte mich zwar auch gefreut, mit ihr gemeinsam die Warte ein wenig aufzumischen, aber da beide Teams im Loft stationiert sein werden, ist diese Option ja nicht ganz ausgeschlossen.
»Ihr Nerds dürft euch bei Lio melden und dann, na ja, guten Hunger!« Die Gruppe lacht und klatscht mit unseren Hackerkoryphäen ab. »Rafael, willst du weitermachen?« Kurzerhand übernimmt mein einstiger Erzfeind und heutiger Mentor das Reden und teilt die nächste Gruppe ein.
»Für das Team der Späher waren sehr unterschiedliche Fähigkeiten vonnöten, was zu einer bunten Mischung von Charakteren und Talenten geführt hat. Die Reise zu den Dritten wird lang, gefährlich und ist derzeit unser waghalsigstes Unterfangen. Ich werde diese Einheit leiten und brauche Strategen, mutige Kämpfer und Späher, die bereit sind, Entscheidungen zu treffen, die nicht allen gefallen werden. Ich freue mich auf Henner, Sus, Elvis, Taranee…« Oh nein, der arme Elvis. Taranee ist ein Alptraum. »Unseren Ninjawächter Tima und Tristan. Wir treffen uns kurz vorm Lager. Bis gleich.«
Nein. Scheiße. Alles für’n Arsch. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Meine Füße sind am Boden des Lofts festbetoniert und wollen sich keinen Schritt in die Richtung bewegen, die sich falscher kaum anfühlen könnte. Die einzige Gruppe, die sich meilenweit von den Eleven entfernen wird, muss mich erwählt haben. Warum? Abgesehen davon ist es eine gefährliche Reise und wird durch diese außergewöhnliche Gruppenkonstellation nur noch ätzender werden. Taranee – schon wieder! Irgendwer hat mich verflucht. Und Elvis, na ja, so richtig warm sind wir beide immer noch nicht miteinander geworden. Wenn Fenja nicht dabei ist, kommen wir über dämlichen Smalltalk einfach nicht hinaus. Für ihn scheine ich immer noch der böse Bruder zu sein und Tams Glück im Wege zu stehen. Ich kann es ja verstehen. Elvis hat meinen Bruder aufgenommen, als er völlig abgemagert und durcheinander bei Fenja auftauchte. Ich war der Zwilling, der seinen Platz in der Akademie geraubt und Roya um den psychopathischen Finger gewickelt hat. Klingt total lächerlich, aber scheint ihn nicht loszulassen.
Seit der Landung haben wir so viel Zeit zu dritt verbracht, dass man meinen sollte, wir seien die besten Freunde, doch manchmal heilen Wunden langsamer, als sich der Stand der Sonne ändert, und ich muss mich in Geduld üben. Elvis ist eine ehrliche Haut und hat Fenja das Leben gerettet, obwohl sie gar nicht gerettet werden wollte. Als ihre Liebe Tarik letzten Sommer starb und sie vor lauter Verzweiflung das Handtuch schmeißen wollte, trat er in ihr verkorkstes Leben und öffnete sein gigantisches Teddybärenherz. Vielleicht ist diese Tour die Chance für Elvis und mich, eine echte Männerfreundschaft in Erwägung zu ziehen und mehr Gefühle zu teilen als Hunger, Durst und Hass auf Taranee Winterkorn.
»Leute«, Rafael lässt seinen Blick durch unsere kleine Runde schweifen und verharrt einige Sekunden an jedem Einzelnen. »Das Abenteuer lässt sich nun nicht mehr aufhalten und ich bin wahnsinnig glücklich, eine so tolle Crew hinter mir zu haben. Einige von euch kennen sich schon ziemlich lange und das kann auf dieser unvorhersehbaren Mission nur zu unserem Vorteil sein.« Manchmal kann die Verachtung für eine gewisse Person aber auch mit jedem Tag zunehmen und nur Abstand brächte Besserung. Wollen wir unsere rothaarige Dramaqueen nicht lieber Klos putzen lassen? Echt, ich verstehe Rafael nicht. Hat er eine masochistische Ader und will sich selbst quälen?
»Wann brechen wir auf und was genau dürfen wir alles mitnehmen?« Die Fragen sind ja berechtigt, aber die Art und Weise, wie Taranee ihre Nase in die Höhe reckt und sich über uns erhebt – nicht auszuhalten.
»Hinter mir im Lager stehen große Trekkingrucksäcke. Eure erste Aufgabe wird es nach dem Frühstück sein, diese mit Pinsel, Farbe oder Sprühdose in Tarnkappen zu verwandeln. Als Späher können wir uns rote, blaue oder neongelbe Schandflecken nicht leisten und sollten alles Auffällige beseitigen.« Okay, seh ich ein. »Anschließend geht es ans Packen. Dunkle Sachen, keine knirschenden Jacken, quietschenden Schuhe oder glänzende Hosen. Jeder von euch sollte die Hälfte seines Gepäcks für Nahrungsmittel, Werkzeuge, Waschmittel oder andere Notwendigkeiten freihalten, die ich vor dem Mittagessen unter der ganzen Gruppe aufteilen werde. Schlafsäcke, Isomatten, Kissen – jeder bitte nach seinen Fähigkeiten. Leute, das Zeug muss auch ganztägig getragen werden, also überlegt genau.«
Ich habe mein ganzes Leben in sterilen Metallbetten gehaust, immer ein Waschbecken zur Verfügung gehabt und erst hier im Loft gelernt, was es heißt, Socken auch mal zwei Tage zu tragen. Es ist ungewohnt, aber war wohl eine absolut notwendige Übung für diesen Outdoortrip. Ich gehe schwer davon aus, dass wir in den meisten Nächten nicht mal ein Dach über dem Kopf haben werden, da sind Wechselklamotten das geringste Problem.
»Wenn alle Sachen gepackt und die Fresspakete geschmiert sind, wird Tima eure Nahkampffähigkeiten auffrischen und die Neulinge in einem Crashkurs übers Knie legen.« Die beiden Spezialisten Rafael und Tima fausten sich zu und reiben anschließend die Hände synchron aneinander.
»Das Ganze wird aber nur für uns eine Spaßveranstaltung. Ihr werdet in der unendlichen Wildnis Polars nutzlos sein, wenn ihr keine Selbstverteidigungstechniken beherrscht. Ich möchte ruhig schlafen können und muss mich auf jeden von euch Spähern auch während der Nachtwache hundertprozentig verlassen können.«
Gute Sache. So viele Nahkampfeinheiten, wie ich in der Akademie verpasst habe – die Kurzzusammenfassung kann nicht schaden. Bären, Dachse, Schlangen und Ordnungshüter werden zittern vor mir!
»Dann lasst euch das Frühstück schmecken und speichert die Erinnerung an gutes Essen tief in euch ab. Sobald die Dämmerung einsetzt, brechen wir auf und Joghurt mit Äpfeln und Haferflocken wird es dann für eine ganze Weile nicht mehr geben.«
»Fertig!« Ich betrachte mein Meisterwerk von einem Camouflagerucksack und bin schwer beeindruckt, wie gut ich doch mit Spraydosen hantieren kann. Hat richtig Spaß gemacht. »Elvis brauchst du noch Hilfe?« Wenn das mit uns beiden funktionieren soll, muss ich die Initiative ergreifen, so viel steht fest.
»Nee, hab’s gleich. Hauptsache, die gelben Streifen auf diesem hässlichen Ding sind weg. Muss reichen.« Er sprüht noch ein paarmal ziellos auf seinen Rucksack und beäugt das Werk. Mein Späherkumpan hat so viel Farbe verbraucht, dass der Stoffberg, der einmal ein oranger Rucksack mit gelben Längsstreifen war, vor Schwärze nur so tropft. Ich bezweifle, dass wir das Ding bis zur Dämmerung trocken kriegen, geschweige denn, zeitnah befüllen können.
»Okay, war nur ein Angebot«, entgegne ich freundlich. »Kommst du mit ins Lager? Die Ersten stauben vermutlich die besten Klamotten ab.« Elvis lässt blitzartig die schwarze Spraydose fallen und kommt mir entgegen.
»Das sagst du erst jetzt? Meine Bikinifigur braucht auch in der Wildnis eine schmeichelnde Verpackung. Also los.« Er streicht sich wohlig über sein kleines Bäuchlein und trägt es übertrieben stolz für mich zur Schau. Sus und Henner, die keine fünf Meter weiter ebenfalls am Ende ihrer künstlerischen Tätigkeiten angekommen sind, verziehen das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Das kann ja lustig werden.
»Leute, räumt den Hof! Gleich kommt schweres Geschütz gefahren und wir brauchen jeden freien Zentimeter.« Rafael scheucht uns auf die Plätze zurück und im Handumdrehen ist der Schotterweg von jeglichen Malerarbeiten befreit.
»Was meinst du damit, man?« Henner gesellt sich an die Seite unseres Oberspähers und reißt die Augen weit auf, als ein riesiger dunkelgrüner LKW über den unebenen Untergrund auf uns zu rollt. Wo kommt der denn her? Essenslieferung?
Die Fahrertür schwingt auf und ein uns bekanntes Gesicht zeigt ein erleichtertes Lächeln.
»Akira?« Sus läuft schnellen Schrittes auf sie zu? »Wir dachten, du seist untergetaucht?« Absolut. Trish und Lio haben jeden Winkel des Landes über ihre Netzwerke nach ihr abgesucht und auch keine Spur ihrer Großmutter Daloris finden können.
Die Plane des LKW wird Stück für Stück geöffnet und ich halte die Luft an. Vorsichtig, ganz vorsichtig schleiche ich näher an den Wagen heran, denn die zarten, wenn auch Dreck verschmierten Hände, die diese Arbeit verrichten, sind mir unter Tausenden die Liebsten. Roya.
Mit zwei großen Schritten schließe ich auf und reiße vor lauter Übermut einen Riss in die Abdeckung des Wagens. Roya ist nur noch durch diese überflüssige Plane von mir getrennt und ich kann nicht warten, bis sämtliche Knöpfe ordnungsgemäß geöffnet werden.
»Tristan?« Es ist nur ein Flüstern aus ihrem wunderschönen Mund, aber es reicht, um alles um mich herum zu vergessen. Ich schwinge mich über die Brüstung ins Innere des Wagens und nehme ihr zerkratztes Gesicht in meine verschmierten Hände.
»Ich war noch nie so glücklich!« Es ist mir egal, wie viele Leute uns zusehen. Es ist mir egal, ob der Zeitpunkt ungünstig ist oder es wichtigere Dinge gibt, als dieses Mädchen zu küssen. Seit Wochen sorge ich mich und nun werden wir wieder vereint.
»Warte!« Roya legt ihre zittrigen Hände auf meine Brust und bringt mich behutsam auf Abstand. Habe ich etwas falsch gemacht? »Ich kann nicht.« Ihre grauen Augen füllen sich mit Tränen und ich muss mich mit der Zuschauerrolle zufriedengeben.
»Roya, was hast du?« Was für eine dämliche Frage? Keine Ahnung, wo sie in den letzten Tagen war oder was sie auf dieser Reise ertragen musste, aber ich hätte es respektieren und ihr Zeit geben sollen. Ich fühle mich beschissen. So richtig beschissen.
»Kannst du mich hier rausholen? Ich müsste ganz dringend und dann können wir reden.« Ich möchte ihre Wange streicheln, ihr sagen, dass alles gut wird und dennoch kommt nur Grütze aus meinem offenen Mund.
»Die Toiletten hier sind nicht sonderlich luxuriös, aber Rafael…«
»Rafael ist hier?« Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Natürlich, wenn du hier bist, kann er nicht weit sein. Hol Akira! Wir müssen weg hier! Das ist eine Falle und außerdem werden wir im Regierungspalast erwartet.« Sie blickt sich nervös um und erst jetzt bemerke ich den gefesselten und reglosen Sly zu ihrer Rechten.
»Sly? Was ist ihm denn zugestoßen?« Dass sie Rafael nicht sehen will und voreilige Schlüsse aus unserer Verbrüderung zieht, kann ich absolut nachvollziehen. Ich weiß nicht, was ihre Peiniger ihr erzählt haben, aber bis vor Kurzem war ich ebenfalls auf der Seite der Zweifler und muss erst noch Überzeugungsarbeit leisten. Aber, dass sie ihren eigenen Freund an Händen und Füßen zusammenbindet, versetzt mir einen extremen Schrecken.
»Erkläre ich dir, wenn du uns hier raus holst! Schnell!« Sie lässt mich los und steckt den Kopf zur Plane hinaus, in der Hoffnung, Akira und die anderen Fahrgäste dieser sonderbaren Truppe zu erspähen.
»Roya, ihr seid hier in Sicherheit. Rafael ist nicht der Spion, für den wir ihn hielten.«
»Du!« Bitte nicht so vorwurfsvoll! »Du hast dich mit ihm aus dem Staub gemacht und Taranee aus der Zelle befreit, nachdem sie vermutlich drei unschuldige Eleven in die Luft gesprengt hat.«
»Vermutlich«, unterbreche ich sie vorsichtig. »Vermutlich! Ich kenne auch nicht alle Details dieser wahnwitzigen Befreiungsaktion, aber die Hexe ist hier und hat bisher keinem ein Haar gekrümmt.« Roya scheint alles zu viel zu werden.
»Was ist das für ein Lager? Was veranstaltet Rafael hier und wieso stehst du verdammt nochmal auf seiner Seite? Er ist kein BePolarist, kein friedlicher Revoluzzer und wahrscheinlich nicht einmal mein Bruder.«
»Ich weiß«, flüstere ich und wage mich erneut sehr nahe an sie heran, »aber er ist das Beste, was Polar in diesen Zeiten widerfahren kann. Er ist ein Sternenwächter, genau wie ich und wir werden diesen verfluchten Krieg beenden, bevor er angefangen hat. Jetzt, wo du wieder bei mir bist, gibt es keine Hürden, keine überflüssigen Suchaktionen mehr. Nur dich, mich und unsere Zukunft, die ich uns wieder zurückhole, versprochen.« Ich ziehe sie in meine Arme und atme so tief ein, dass es beinahe schmerzt. Diesen Duft – Royas atemberaubenden Duft darf ich nie, nie, niemals wieder verlieren. Das schwöre ich!