Читать книгу BeOne - Martha Kindermann - Страница 9
Abwracken und Tee trinken
Оглавление»Setzt euch, bitte.« Daloris schnappt sich eine Kanne frisch gebrühten Tee und weist uns die Plätze auf ihrer Wohnwageneckbank zu, bevor sie selbst auf dem einzigen Stuhl Platz nimmt und GAM vor die Tür schickt. »Tee?« Wir nicken, ohne auch nur ein Wort in den Mund zu nehmen, und werden bedient.
»Wie gefällt euch meine Stadt?« Ist das eine ernstgemeinte Frage? Fragt sie uns gerade, wie schön die letzten Tage, eingesperrt in einer Blechbüchse, waren und wie wir nach zehn Minuten Sightseeing die Wohnwagenkolonie beurteilen? Fünf Sterne, oder was?
»Mich würde brennend interessieren, wo wir uns hier genau befinden? In den Tunneln wäre doch kein Platz für knapp 1000 Menschen und 300 Wohnwagen, oder liege ich da falsch?« Daloris klemmt lachend die Unterlippe zwischen die Zähne und stützt die Ellenbogen auf den Tisch.
»Wie ist dein Name, Mädchen?«
»Tamika.«
»So, Tamika. Glaubst du, ich verrate einem vorlauten Mädchen, welches direkt aus dem Regierungspalast in meine Arme gelaufen ist, das wohl wichtigste Geheimnis meiner Familie?« Tamika schüttelt zaghaft den Kopf und wir anderen halten die Luft an.
»Ich wollte bloß…«
»Du wolltest bloß was? Nur weil du genau so dunkel bist wie ich und mit deinen großen Kulleraugen rollst, hältst du dich für sehr clever? Nein. Die Regeln hier mache ich und bis zur Übergabe bleibt ihr in der Wagenstadt, ohne auch nur eine winzige Information von mir zu erhalten.«
»Übergabe?«, prescht Sly mutig dazwischen.
»Natürlich. Ich kann euch Großmäuler schließlich nicht ewig durchfüttern.« Klingt gut. Wir kommen hier raus.
Hoffnungsvoll suche ich Tams Hand unter dem Tisch und drücke sie fest. Bald sind wir hier weg. Adé Haferschleim, adé Morgensport und adé ihr kühlen Nächte an Tams warmer Seite. Was soll das? Werde ich hier sentimental, weil es im Gefängnis besser ist als im goldenen Käfig der Polarjahrinitiation?
»Und wie genau wird das jetzt ablaufen?« Tam versucht, mit Bedacht die nächsten Schritte aus Oma Sanderbrink herauszukitzeln.
»Es wird zwei Trupps geben, da die Präsidentin nicht für all unsere Gäste zu bezahlen gedenkt.« Da haben wir es wieder. ›Wenn ich richtig liege, dann bringt uns die Auslöse dieser drei Eleven über den ganzen Winter‹ – Daloris Worte aus den Tunneln klingen noch in meinen Ohren, als wäre es gestern gewesen. Wen wird sie aussortieren?
»Und was passiert mit dem Rest von uns?« Meine Stimme zittert bei jeder Silbe mehr, denn wenn ich ehrlich bin, will ich die Antwort nicht hören.
»Das werdet ihr schon noch früh genug erfahren. Gestern haben wir den letzten umherirrenden Prinzen aufgelesen und können in die Verhandlungen starten.«
»Es sind noch mehr Eleven hier?« Sly lehnt sich so weit über den Tisch, dass sein langer Zopf beinahe in Daloris' Teetasse badet.
»Oh ja, aber nur die Cleversten von euch werden diesen kleinen Zwischenstopp überstehen und weiterhin an der Initiation teilnehmen können.«
»Wir sollten hier landen? Das ist auch wieder nur ein Test? Und was ist mit Melwin und den getöteten Draconis aus Tams Team? Sind diese jungen Menschen gestorben, weil sie nicht clever genug waren?« Tamika fängt unter ihren Worten bitterlich an zu weinen. »Das kann doch nicht ihr erst sein? Wie krank sind die Leute, die dieses verdammte Camp inszenieren? Wollen sie alle Eleven, bis auf die acht Ministeranwärter, tot sehen?« Sly nimmt seine Banknachbarin in die Arme und versucht sie mit sch und pst zu beruhigen. Zwecklos. »Ach nein, Verzeihung, vor den Ministeranwärtern machen sie ja auch keinen Halt.« Wahre und erschreckende Worte.
Seit wir in Gefangenschaft sind, haben wir keine Nachrichten von Miles oder den anderen Zirkumpolargruppen mehr erhalten können. Wir wissen nicht, wie diese Challenge durch die Medien geistert und inwieweit unsere Angehörigen überhaupt in Kenntnis gesetzt wurden. Ich hoffe, dass die Spielmacher genauso gute Lügner wie skrupellose Drahtzieher sind, denn dann wähnen mich meine Eltern in Sicherheit und bekommen nachts auch mal ein Auge zu.
»Wo sind die anderen?« Sly lenkt ein neues Thema ein, bevor Tamika erneut ihre weitere Teilnahme durch ihr loses Mundwerk gefährdet.
»Lasst mich mal überlegen!« In Zeitlupe lehnt sie sich nach hinten, fährt mit dem Zeigefinger genüsslich über den Rand ihrer Teetasse und starrt uns minutenlang ausdruckslos an. »Der kleine Dicke und seine Bande sind mit meiner Enkelin zur Sternenwacht aufgebrochen.«
»Zur was?«, kommt es synchron aus unseren offenen Mündern.
»Ups, da habe ich mich wohl ein wenig verplappert.« Sie lacht. Wie konnte diese gefühlskalte und berechnende Frau nur jemals bei BePolar landen und für eine gute Sache kämpfen wollen? Sie ist genau richtig hier unten am Ende der Welt, zwischen Schrottbergen und Ausgestoßenen. Die Tante hat sie doch nicht mehr alle.
»Bitte, Miss Daloris, wo hat Akira Berd und die anderen hingebracht?«
»Akira?« Tamika schaut Sly entgeistert an. Mit keiner Silbe hatte unser Gegenüber ihren Namen erwähnt. »Woher kennst du denn ein Bolidenmädchen, Sequoyah?« Scheiße. Nun ist er ihr eine Erklärung schuldig. Vielleicht wird es Zeit.
»Tja, Schätzchen, dein stattlicher Rittersmann steckt nicht in einer glänzenden Rüstung, sondern ist einer der gefragten Schläfer, die Centa Jünger so unbedingt zurück in den Palast befördern möchte.« Jetzt haben wir das Auswahlkriterium wohl gerade gefunden. »Immerhin müssen wir dir nun keinen unangenehmen Test zumuten, sondern können dich direkt in Halle 2 verfrachten. GAM?« Sie schreit so laut, dass wir vier vor Schreck zusammenfahren.
»Ja, Chefin?« GAM steckt seinen Glatzkopf zur Wagentür hinein.
»Bring unsere schwarze Prinzessin in die Abwrackhalle, und zwar ohne Umschweife, verstanden?«
»Verstanden!« Gehorsam erklimmt er die drei kleinen Stufen des Wohnwagens und zerrt Tamika grob von der Eckbank. Sly hält sie an beiden Händen so fest, dass ich das Knacken ihrer Handgelenke höre, bevor sie ihm entrissen wird.
»Nein, stopp!« Sly versucht, die beiden aufzuhalten. »Tamika hat doch nur einen Scherz gemacht. Natürlich kennt sie Akira noch aus der Akademie. Sie ist eine von uns, stimmt doch, Tamika, oder?«
»Eine von euch?« Tamika wehrt sich nicht gegen ihren Bändiger. »Ich bin keine von euch! Ich mache nicht gemeinsame Sache mit diesen Boliden, die meinen Freund aufspießen und mich an den höchstbietenden verscherbeln wollen. Ein schönes Leben noch, ihr drei, und auf Nimmerwiedersehen.« Mit diesen Worten knallt die Tür ins Schloss und Tamika hat ihr Ticket für die nächste Runde das Klo hinuntergespült.
Scheiße. Verdammte Scheiße. Verfluchter Mist. Ich könnte noch ewig fluchen, aber es würde rein gar nichts an unserer verfahrenen Situation ändern. Daloris genießt den Duft der Angst, der uns Zurückgebliebene umgibt. Werden wir Tamika je wieder zu Gesicht bekommen? Gut, sie ist eine schreckliche Nervensäge mit ihrem übertriebenen Mädchengehabe und wäre vielleicht an der Spitze eines mächtigen Landes etwas fehl am Platze gewesen, aber sie war – nein, sie ist – meine Freundin und es ist mir nicht egal, was GAM jetzt gerade mit ihr veranstaltet. Die Abwrackhalle. Bevor wir hier abhauen, werden wir wohl einen kleinen Umweg einkalkulieren müssen.
»Denkt nicht mal daran!« Daloris Worte fahren mir durch Mark und Bein. Kann sie meine Gedanken lesen oder ist das Pokerface so schlecht, dass man mir mein Vorhaben von den Augen ablesen kann? »Ihr drei werdet schön hierbleiben und meiner Familie zu einem hübschen Vermögen verhelfen.«
»Warum tun Sie das?« Sly schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und lässt alle Anwesenden zusammenzucken.
»Du musst schon Klartext reden, Elevenjunge. Oder bringt man euch so etwas im Palast nicht bei?« Sie ist ein wahres Ekel und würde uns dieser sperrige Tisch nicht im Zaum halten, wäre ich ihr schon längst an die Gurgel gegangen.
»GAM ist der leibliche Vater unserer Präsidentin und Sie behandeln ihn wie einen Ochsen, der nichts weiter tut, als Ihren Wagen zu ziehen. Warum leben Sie hier in der Versenkung, wenn die mächtigste Frau im Land praktisch ein Teil Ihrer sogenannten Familie ist? Warum sperren Sie uns ein? Warum schlagen Sie Profit aus dem Elend junger Menschen und wie um alles in der Welt sind Sie so vom Weg abgekommen? Sie waren eine von uns. Eine BePolaristin und dann…«
»Genug!« Daloris fährt Sly mit einer solchen Kraft dazwischen, dass ich Angst habe, dass sie mit purer Willenskraft den blauen Wohnwagen zum Zerbersten bringen könnte. »Du kleiner, mieser Wicht. Wie kannst du nur so mit mir reden?«
Ich halte den Atem an, denn aus ihren Augen spricht eine Verachtung, die ich in diesem Ausmaß noch nie erleben musste. Die Luft ist verflucht dünn hier drin geworden und hochexplosiv. Bitte Sly, sei einfach ruhig und gib der Frau die Chance, sich abzureagieren.
»Du hast keine Ahnung, von was du da sprichst. Du kennst mich nicht, du kennst GAM nicht und erst recht nicht sein verzogenes und undankbares Gör von Präsidentin. Sie und ihre dressierten Affen haben die BePolarmission zerstört. Alles zunichte gemacht, für das wir unser halbes Leben gearbeitet haben. Sie hat ihre Freunde und ihre Familie verraten und es bricht mir das Herz, dass wir auf ihre Almosen angewiesen sind, aber ich habe für einen Moment etwas in der Hand, das sie unbedingt haben will und das verleiht mir Macht.«
»Macht, die Sie sehr begehren!« Sly, halt deinen Mund! Du Idiot. Ich schlage mir eine Hand vor mein glühendes Gesicht, denn gleich wird hier alles in die Luft fliegen.
»Korrekt.« Mehr kommt nicht? Keine Laserstrahlen, keine Fangzähne oder Krallen? Nein?
»Ich nehme an«, versuche ich, das Spannungsfeld zwischen den beiden aufzubrechen, »die wertvolle Fracht sind wir, die Schläfer, richtig?« Sie nickt, lehnt sich nach hinten und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was macht uns zu etwas Besonderem?« Ein grässliches Lachen kommt aus ihrer Kehle.
»Fangen wir mal beim Urschleim an.« Solange sie abgelenkt ist und uns ihre Märchen erzählen kann, wird keiner von uns zerfetzt, abtransportiert oder verkauft. Die Zeit sollte reichen, um einen provisorischen Fluchtplan zu erstellen. Schade, das Multitasking noch nie mein größtes Talent war. »Centa wurde Präsidentin, fand heraus, dass sie eher Repräsentantin als Landesführerin ist und lediglich das Gesicht der Nation, ohne die Macht, Veränderungen zu bewirken.« Ja, wissen wir schon. »Sie wird BePolaristin und bewilligt das Schläferprogramm, um sich ihre ganz persönlichen Kindersoldaten heranzuziehen.«
»So einen Quatsch habe ich ja noch nie gehört!« Tam war die ganze Zeit über überraschend ruhig und diese Aussage bringt ihn auf die Palme? Wir lassen die Oma hier einfach ihre Geschichte erzählen. Ich glaube ihr doch sowieso kein Wort.
»Quatsch, ach ja?« So, jetzt beruhigen wir uns alle wieder! Ich muss nachdenken und das funktioniert nur, wenn das Ablenkungsmanöver halbwegs planmäßig verläuft. »Ihr mögt diese Frau vergöttern, denn darauf hat ihr Bruder euch programmiert, aber lasst euch eines gesagt sein: Sie geht über Leichen, um auf ihrem goldenen Thron sitzen zu bleiben. Sie wird euch ködern, euch dressieren, euch zwingen, die Kunststückchen vorzuzeigen, euch vor dem ganzen Land blamieren und dem Volk klar machen, dass es keine qualifiziertere und bessere Herrscherin gibt und ihre Macht auf diese Weise festigen.«
»Aber die Gesetze…«
»Waren schon immer dazu da, gebrochen zu werden, Tam Baliette.« Tam wird plötzlich ganz klein neben mir und drückt meine Hand ein wenig zu fest. »Dachtest du, ich weiß nicht, wen ich hier vor mir habe?« Vielleicht schon, aber nicht, dass es einen Unterschied machen würde.
»Dein Vater hatte einst so viel Potential, bis er sich wie ein Duckmäuser diesen Morenos zu Füßen warf und nach ihrer Pfeife tanzte. Als ich den Braten roch, zog ich Akira sofort aus der Gefahrenzone und verschwand mit ihr ans andere Ende des Landes. Doch er ließ zu, dass seine beiden Söhne in die Fänge dieser Hexe geraten und nun sitzt er in seinem Krankenhauskeller und hofft auf das Happy End. Wie blöd kann man sein? Wir waren Freunde, aber nun habe ich nichts als Verachtung für deinen Vater übrig. Er ist ein armes Würstchen, der so viel Angst vor der Welt hat, dass er seine Ideale verrät und in seinem Schneckenhaus einsam sterben wird.«
»Au, das tut mir weh«, flüstere ich, als ich glaube, meine Fingerknochen jeden Moment unter Tams Wut brechen zu hören. Er steht so unter Strom, dass er zu vergessen scheint, dass er seine Aggressionen nicht an meinen zarten Händen auslassen sollte.
»Ich würde jetzt gern gehen.« Er spricht ruhig und besonnen, lockert den Griff um meine geschundenen Finger jedoch keinen Millimeter. Tränen schießen mir in die Augen. Ich bin sicherlich keine Mimose, aber Tam macht mir wahnsinnige Angst und das ist nicht das erste Mal. Wo will er denn hingehen? In die Abwrackhalle, um Tamika Gesellschaft zu leisten? Als Märtyrer sterben, weil eine verwirrte und wahnhafte alte Frau seinen Papi beleidigt hat? Ich wünsche mir nichts mehr, als dass er sich beruhigt, meine Hand am Leben lässt und an meiner Seite diese Bolidenhölle übersteht.
»Gleich«, sagt Daloris genüsslich.
Ich schluchze. Ich möchte es nicht. Ich möchte stark und mutig sein, eine Flucht planen, zurück zu meiner Familie und weg von diesen ganzen Gestörten, die mich von allen Seiten bedrängen. Weg von den Lügen, den Manipulationen und diesem furchtbar deprimierenden Ort.
»Was haben Sie vor?« Sly, willst du es wirklich wissen? Ich wimmere wie ein kleines Mädchen und muss ein trauriges Bild abgeben, wie ich hier, hinter einen Campingtisch geklemmt, sitze und meine Finger vor Schmerzen nicht mehr spüre.
»Morgen früh geht ein Waffentransport nach Midden und ihr werdet in den Munitionskisten liegen.«